Leider reagiert Anni mit einem Wutausbruch auf das Niveau, vor allem auf die ständig benutzten schmutzigen Ausdrücke.
Vorher wirkte sie noch auf eine fahrige Art ganz gemütlich, nun wird deutlich, wie gefährlich Pauls stämmige Samariterin sein kann.
Wer das fein geschnittene, liebe, humorvolle Gesicht von Herma Koehn kennt, wer sie als Herzliche, Patente, Niedliche erlebt hat, für den muss sie als kaputte Ex-Krankenschwester ein Schock sein. Kalt sieht sie aus, kalt und böse und zwischendurch guckt sie ganz leer ins Publikum, als suche sie verzweifelt nach einem klaren Gedanken oder nach sich selbst. Sie bringt Paul dazu, sein neues Manuskript zu verbrennen. Dabei begreift sie sich selbst als strenge, aber wohlmeinende Mutterfigur, die ihn zu seinem eigenen Besten zwingt.
Anni will, dass Paul Misery wiederauferstehen lässt. Sie beschafft einen Rollstuhl, eine uralte Schreibmaschine, auf der das N fehlt, sowie Papier, sie bringt den labilen Künstler, der früher nicht gerade kontinuierlich arbeitete, durch geradezu teuflische Methoden dazu, ihr täglich ein Kapitel abzuliefern. So zwingt sie ihn, Spülwasser zu trinken - das Publikum stöhnt vor Schreck, eben noch hat Herma Koehn mit dem Feudel den Bühnenboden abgewischt, und jetzt schöpft sie aus demselben Eimer in ein Glas, das Oskar Ketelhut sich hinunterquält - sie lässt ihn, der nicht laufen kann, tagelang allein liegen, bis er fast verdurstet und schließlich zum Urinbehälter greift (worauf taktvoll das Bühnenlicht ausgeht) – sie macht ihn, zunächst seiner schmerzenden Beine wegen, abhängig von Tabletten, die sie ‚Eiapopeia-Pillen’ nennt, und als der Mann ihr trotzdem zu beweglich wird, greift sie zur Axt, um ihm einen Fuß abzuhacken. Die Amputation ist sehr glaubwürdig gezeigt, weder zu reißerisch noch zu zimperlich; man würde sich nur wünschen, dass Anni das Bein eventuell vernäht, bevor sie es wieder zudeckt, um mit dem abgetrennten Fuß des inzwischen Ohnmächtigen zu verschwinden.
Die Wandlung der Frau von der etwas verstörten, aber netten alten Tante zur Horrorfigur gelingt Herma Koehn atemberaubend.
Absolut gleichrangig ist die Darstellung von Ketelhut. Sein Paul entwickelt sich innerhalb dieser zwei Stunden vom erfolgsverwöhnten schreibenden Bürger über das schockierte, angstgebeutelte Opfer hin zu einer neuen, fatalistischen Stärke, die ihn den ganzen Albtraum teilweise sogar mit Humor betrachten lässt.
Im Anschluss an das Stück wurde Herma Koehn, die seit 40 Jahren dem Haus verbunden ist, mit der Ohnsorg-Verdienstmedaille ausgezeichnet. Die Premiere fand am 19.04.2009 statt.
Copyright Fotos: Jutta Schwöbel
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