Manuskripte brennen nicht - "Der Meister und Margarita"
- Geschrieben von Kerstin Schüssler-Bach -
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York Höllers Musiktheater „Der Meister und Margarita“, ursprünglich ein Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper, kehrt nach 24 Jahren nun endlich „heim“: ein theatralisches Klangereignis nach Michail Bulgakows berühmtem Roman, eine große Liebes- und Passionsgeschichte mit teuflischem Beistand.
Ein Kultroman als Oper – geht das überhaupt?
Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ war bei seinem Erscheinen 1966 eine literarische Sensation, gedruckt als immer noch zensierter Fortsetzungsroman in einer sowjetischen Zeitung. Die Auflage war in Windeseile ausverkauft, die Ausgaben wanderten von Hand zu Hand und fanden ein lesegieriges Publikum im Untergrund. Den Erfolg konnte sein Autor nicht mehr miterleben – Michail Bulgakow war 1940 gestorben, zermürbt von den Repressalien des Stalin-Regimes, das ihm ein freies Arbeiten unmöglich machte.
Bulgakows Frau Jelena setzte nach seinem Tod ihre ganze Kraft darein, sein literarisches Vermächtnis zu veröffentlichen: „Der Meister und Margarita“. Doch erst 26 Jahre später war es soweit. „Wenn ein wirklicher Schriftsteller verstummt, muss er sterben“, hatte Bulgakow verzweifelt an Stalin geschrieben. Mit der posthumen Veröffentlichung seines Romans war er unsterblich geworden. Zur Pilgerstätte wurde Bulgakows Moskauer Wohnung, die literaturverrückten Russen schlossen das Werk und seine Bewohner unauslöschlich in ihr Herz – und die ganze westliche Welt tat es ihnen bald gleich. 2012 erschien eine neue deutsche Übersetzung des Romans: „Ein grandioses Kunstwerk. Bulgakow hat Figuren erfunden, die kein Leser vergisst“, urteilte die Schriftstellerin Felicitas Hoppe in der FAZ.
„Der Meister und Margarita“ ist ein überbordendes Meisterwerk: groteske Satire in der Tradition Gogols, „Faust“-Paraphrase mit dem Teufel als heimlichem Helden, Vorläufer des Fantasy-Romans, magischer Realismus, theologische Debatte zwischen Jesus und Pontius Pilatus – und nicht zuletzt eine große Liebesgeschichte. Eine kraftvolle Liebe, die alle Schrecken überwindet und die unzweifelhaft autobiographisch geprägt ist. Der „Meister“ ist ein Schriftsteller, der von der Staatsmacht geknebelt wird. Sein Roman über Pontius Pilatus wird konfisziert, er selbst in eine psychiatrische Anstalt eingesperrt. Doch seine Geliebte Margarita geht einen Pakt mit dem Teufel ein, um sich an den Apparatschiks zu rächen. Als Königin des Satansballs wirbelt sie Moskau durcheinander – wie es schon vorher der Teufel persönlich tat, der in Gestalt des Magiers Voland das Böse ruft, um das Gute zu erschaffen. Seine „Hilfsteufel“ sind die wohl irrwitzigsten Gestalten, die jemals auf die Erde gekommen sind – allen voran der lässige Kater Behemoth, der schnurrend auf zwei Beinen die apartesten Sottisen in die Tat umsetzt.
Diesen Roman also nahm sich der Komponist York Höller vor, als er 1984 einen Kompositionsauftrag der Hamburgischen Staatsoper erhielt. „Das war auf Initiative des damaligen Chefdirigenten Hans Zender“, erinnert sich der heute 69-jährige Komponist. „Während der intensiven librettistischen und kompositorischen Arbeit demissionierte jedoch die gesamte Operndirektion, und meinem auf mehrere Jahre angelegten Projekt drohte damit das Aus. Aber ich hatte Glück im Unglück: die Pariser Oper übernahm das Projekt und die Uraufführung 1989 im Palais Garnier.“ Es wurde ein „denkwürdiges Ereignis“, wie es damals in der Zeitschrift „Opernwelt“ hieß; zwei Jahre später erlebte „Der Meister und Margarita“ die erfolgreiche Deutsche Erstaufführung in Köln. Seitdem war das Werk nicht mehr auf der Opernbühne zu sehen – die Anforderungen sind immens, aber überaus lohnend. Dass Höllers Stück – wie Reimanns „Lear“ – ursprünglich ein Auftrag der Hamburgischen Staatsoper war, veranlasste Simone Young nun, dieses faszinierende Musiktheaterwerk „heimzuholen“: „Ich habe York Höllers Oper damals in meiner Kölner Zeit als Korrepetitorin miterlebt und war fasziniert von seiner musikalischen Ausdruckskraft und kompositorischen Virtuosität. Und nicht zuletzt ist es natürlich eine wunderbare, ebenso phantastische wie berührende Story“, sagt Hamburgs Intendantin.
Als junger Mann erlebte York Höller die Kölner Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns epochalem Musiktheater „Die Soldaten“ mit – ein Schlüsselerlebnis. Höllers Kompositionsstudium führte ihn nicht nur zu Zimmermann, sondern auch zu Pierre Boulez, an dessen Pariser IRCAM-Institut er tätig war. Auf Einladung von Karlheinz Stockhausen arbeitete er im Elektronischen Studio des WDR Köln, das er 1990 als Leiter übernahm. Im gleichen Jahr erhielt er den Rolf-Liebermann-Preis für Opernkomponisten. Höller erhielt Aufträge vom Chicago Symphony Orchestra, dem WDR Orchester und führenden Neue-Musik-Ensembles. Dirigenten wie Daniel Barenboim, Semyon Bychkov und Lothar Zagrosek sind seiner Musik verbunden; Simone Young führte im „Salut“-Konzert 2008 sein Orchesterstück „Feuerwerk“ auf. 2010 wurde York Höller mit dem „Grawemeyer Award“, einem der international wichtigsten Kompositionspreise, ausgezeichnet. Im November bringt der NDR sein neues Cellokonzert in Hamburg heraus.
An der Staatsoper übernimmt Marcus Bosch die musikalische Leitung von „Der Meister und Margarita“. Der Nürnberger GMD, der seit 2005 regelmäßig in Hamburg dirigiert, nennt die Partitur eine „große, spannende Herausforderung“: „Sie hat als Romanvertonung ein hohes narratives Element, das man plastisch herausarbeiten muss. Der Orchesterpart ist sehr komplex, mit elektronischen Zuspielbändern und einem großen Schlagzeugapparat“, erzählt Marcus Bosch. Der Zuhörer wird mit verschiedensten Klangquellen konfrontiert, die den Reichtum der Roman-Vorlage in einen üppigen Klangkosmos umsetzen. Beispielsweise im Satansball, dem Marcus Bosch eine „impulsive, ja verstörende rhythmische Durchschlagskraft“ attestiert, „die immer wieder in die Irre führt.“ Orchestraler Höhepunkt ist die Episode von Margaritas Flug über die Stadt: „eine beeindruckende Mischung von Elektronik, vorgefertigten Momenten und sinnlichen, irisierenden Klangverläufen im Orchester“, sagt der Dirigent. Im Satansball werden Geister der Vergangenheit heraufbeschworen – Gelegenheit für Höller, ein zeitenumspannendes Klangpanaroma zu entfalten: „Stilvariationen, die vom mittelalterlichen Parallelorganum bis hin zu komplexen elektronischen Geräuschmontagen führen“, so York Höller. Das berühmte Konzept einer „Kugelgestalt der Zeit“ seines Lehrers Bernd Alois Zimmermann bereitete hier den Weg.
Der Stil- und Formreichtum der Oper entspricht der theatralischen und surrealen Vielschichtigkeit des Romans. Zur Entstehungszeit von Höllers Werk waren bühnentechnische Lösungen wie komplexe Videoprojektionen oder Computeranimationen noch nicht möglich. Es läge auf der Hand, sie heute für eine Inszenierung von »Der Meister und Margarita« einzusetzen. Doch Regisseur Jochen Biganzoli hat sich für eine andere Herangehensweise entschieden: „Wir wollen das Stück ganz bewusst nicht über Effekte erzählen, sondern über die Authentizität der Darsteller. Mich interessieren besonders die psychischen Konflikte der Figuren. Das heißt nicht, dass wir auf die Schwarze Magie oder die satirischen Elemente verzichten – aber wir wollen uns nicht hinter einem Ausstattungsspektakel verstecken.“
Als ehemaliger Assistent von Peter Konwitschny ist Jochen Biganzoli ein Regisseur, der die politische Grundkonstellation mit einem psychologischen Ansatz verbindet. Sein Bühnenbildner Johannes Leiacker hat ihm einen Raum entworfen, der gleichermaßen Gefängnis wie Rückzugsort für den Meister bedeutet – einen Raum, in dem die Alpträume und Halluzinationen, die teuflischen und die menschlichen Absurditäten unaufhaltsam eindringen. Die Kostüme von Heike Neugebauer unterstützen die Klarheit des Konzepts, das plötzlich durch phantastische Irrlichter und entfesselte Zauberkünste aufgebrochen wird.
Für die Magie im Stück ist natürlich der Teufel höchst persönlich zuständig. Als eleganter Herr namens Voland mischt er sich ein in eine Schriftsteller-Debatte über die tatsächliche Existenz von Jesus und Pontius Pilatus. Für die rationalen Kulturbürokraten ist klar: Jesus hat selbstverständlich nicht gelebt, Religion ist Opium fürs Volk. Doch wo keine göttliche Instanz, da auch kein teuflisches Gegenüber – und das kann der mephistophelische Herr Voland (Goethe-Leser wissen, wer sich dahinter verbirgt) nicht auf sich sitzen lassen. „Der Teufel ist hier eine absolut positive Gestalt“, erzählt Jochen Biganzoli. „Er liebt die Freiheit, auch die Freiheit der Kunst, er wendet sich gegen staatliche Indoktrinationen und unterstützt all jene, die noch an Phantasie und unerklärbare Vorgänge glauben.“
So wird Voland zum Mentor des verfolgten Meisters und seiner Margarita. Die Staatsmacht aber konfrontiert er mit ihrer eigenen Hybris, den Menschen führt er ihre Korruption und Verlogenheit vor Augen. In einer grotesken Varieté-Szene richtet der Teufelstrupp um Voland und seine Helfer Korowjew, Asasello und den Kater Behemoth ein diabolisches Chaos an. Der Conférencier des Varietés hat alle Hände voll zu tun, den Kopf bald aber nicht mehr auf dem Hals – Corny Littmann, Hamburger Entertainer und Theaterchef, wird in seinem Staatsopern-Debüt diese höllische Herausforderung annehmen. In der Rolle seines Gegenspielers Voland gibt der junge australische Bassist Derek Welton sein Hamburgdebüt, als Kater Behemoth kehrt der zuletzt in »Lear« gefeierte Countertenor Andrew Watts zurück.
Nach unermüdlicher Suche und teuflischem Beistand findet Margarita ihren Meister. Doch er ist gezeichnet und desillusioniert von den politischen Realitäten. In seiner Figur des Meisters spiegelte Bulgakow eigene Erfahrungen: Seinen satirisch-phantastischen Geschichten fehlte es in den Augen des Stalinregimes an revolutionärer Parteirelevanz. Bulgakow verbrannte die erste Fassung von »Der Meister und Margarita«. Auch sein literarisches Alter ego hatte gedacht, den verbotenen Roman über Pontius Pilatus verbrannt zu haben – doch Voland belehrt ihn eines Besseren. Er zaubert den Roman wieder hervor, denn „Manuskripte brennen nicht“, wie er dem Meister beweist.
„Das war auch für unsere Konzeption ein Schlüsselsatz“, so Jochen Biganzoli. „Der Roman des Meisters lebt weiter, wie auch die idealen Figuren des Meisters und seiner Margarita weiterleben, obwohl sie am Schluss vom Teufel ins Jenseits befördert werden. Es liegt eine ganz archaische Kraft in dieser Liebe und in dieser künstlerischen Utopie, und das möchte die Inszenierung auch beglaubigen.“ Nicht zuletzt verleiht das reale Schicksal Bulgakows und seiner Frau Jelena dem fiktiven Geschehen eine erschütternde Realität. Wie sehr Bulgakow-Verehrer aus aller Welt sich diese große Geschichte zum Vorbild in einer liebe- und trostlosen Welt genommen haben, bezeugen unzählige Graffitis im Treppenhaus von Bulgakows Moskauer Wohnung, gegen deren wundersame Vermehrung jeder Putztrupp machtlos ist.
Die Passionsgeschichte des politisch verfolgten Schriftstellers wird von Bulgakow mit der Kreuzigung Jesu Christi verschränkt. Den Gefangenen Jeschua han-Nasri verhört der Prokurator von Judäa: Pontius Pilatus, der die Verurteilung wider Willen mit ewiger Schuld büßt. Mit seinem Roman will der Meister den gewissenskranken Pilatus erlösen, was ihm am Schluss dank teuflischer Unterstützung auch gelingt. Pilatus ist frei – wie der Meister, wie Margarita entlassen in eine himmlische Freiheit.
Diesen parallelen Erzählstrang in Bulgakows Roman hat Höller zwar einerseits stark verkürzt, andererseits aber durch eine Doppelrolle unterstrichen: Der Sänger des Meisters soll gleichzeitig die Partie des Jeschua übernehmen. Und so wird der Bariton Dietrich Henschel, prädestiniert für die vielschichtigen, psychisch zerklüfteten Figuren des modernen Musiktheaters, also gleichzeitig als leidender Schriftsteller wie als Gottessohn zu sehen sein. Die Engführung dieser beiden Handlungsschichten durch die Identifikation des Meisters mit Jeschua erscheint in der Hamburger Inszenierung noch verstärkt durch weitere Doppelrollen: Auch die beiden Jünger-Figuren des Levi Matthäus und des bekehrten Lyrikers Iwan Besdomny werden zusammengelegt, ebenso wie die beiden Vertreter der staatlichen Autorität, Pontius Pilatus und der Klinikchef Dr. Strawinsky.
Für die Rolle der Margarita, gesungen von Cristina Damian, sieht York Höllers Partitur eine besonders lyrische Szene vor: den Einschub eines Gedichts von Wladimir Majakowski. Der kultisch verehrte und so provokant sprachmächtige Dichter der Sowjetunion nahm sich 1930 das Leben. Doch jenseits solcher Anspielungen an die Stalinzeit versteht York Höller seine Oper als zeitlose Parabel: „Dergleichen wiederholt sich ja unentwegt infolge der Intoleranz und des Gesinnungterrors gewisser ›Ideologen‹, seien sie nun rechts oder links, oben oder unten beheimatet. Heutzutage sind es neben der ›Staatsräson‹ oft die sogenannten Sachzwänge oder die ›technologischen Interessen‹, die wider besseres Wissen zu folgenschweren Fehlentscheidungen führen“, bilanzierte der Komponist zur Uraufführung 1989. Das Pandämonium seiner Klänge zwischen Elektronik, großem Orchester, Jazz- und Rockband und historischen Zitaten wandelt lustvoll zwischen den Stilen, macht die Vielschichtigkeit des Romans sinnlich erfahrbar. Zur Premiere wird York Höller natürlich anreisen: „Dass meine Oper nun nach 24 Jahren an dem Ort zu hören sein wird, dem sie ursprünglich zugedacht war, freut mich ganz ungemein, und es wäre natürlich wunderbar, wenn sich nach der Premiere auch viele Hamburger Opernfreunde darüber freuen würden.“
Ein umfangreiches Beiprogramm gibt Gelegenheit, den Komponisten in einem Porträt persönlich kennenzulernen oder in den Reichtum des Romans einzutauchen. Die verrückte Magie der Teufelsbagage, die Schuld-und-Sühne-Thematik um Jesus und Pilatus, die entlarvende Durchleuchtung korrupter Politiker und habgieriger Alltagssüchte, der walpurgische Satansball – und schließlich eine bergeversetzende, bewegende Liebe: für sechs Aufführungen ist die Welt von „Der Meister und Margarita“ nun auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper zu erleben.
Premiere A: 14. September 2013, 18:00 Uhr
Premiere B: 18. September 2013, 19:30 Uhr
Aufführungen: 21. / 26. / 28. Septmber und 4. Oktober 2013, jeweils 19:30 Uhr
Inszenierung: Jochen Biganzoli
Bühnenbild: Johannes Leiacker
Kostüme: Heike Neugebauer
Licht: Stefan Bolliger
Dramaturgie: Kerstin Schüssler-Bach, Michael Winrich Schlicht
Choreografie: Silvia Zygouris
ORT: Großes Haus, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
PREISE: 7,- bis 176,- € (P)
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Hamburgischen Staatsoper.
Fotonachweis: Dietrich Henschel. Hamburgische Staatsoper. Foto: Jörn Kipping
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