Telemann: Pietsch spielt die Fantasien für die Violine ohne Bass
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Von der Lebenslust polnischer Spielleute über italienische und französische Anklänge bis zur neuen Musik des empfindsamen Zeitalters reicht der Bogen, den Telemanns Fantasien für Violine solo schlagen. Der Barockviolinist Thomas Pietsch leuchtet diesen faszinierenden kleinen musikalischen Kosmos mit lebendigem Atem aus.
1735 veröffentlicht Georg Philipp Telemann eine Verkaufsanzeige in Hamburger Zeitungen: Sein Musikverlag bringt „12 Fantasien für die Violine ohne Bass“ heraus, „wovon 6 mit Fugen versehen, 6 aber Galanterien sind“. Schon Jahre zuvor hatte er sie avisiert, er wird sie wohl in den Jahren 1731/32 komponiert haben. Sie stehen in einer Reihe mit ähnlichen Werken für Traversflöte und Cembalo, erst kürzlich wurden auch die Fantasien für Viola da Gamba wiederentdeckt, die man über Jahrhunderte verloren glaubte.
Telemanns Hamburger Kollege Johann Mattheson benannte 1739 das Wesen der Fantasien: „Ob nun gleich alle diese das Ansehen haben wollen, als spielte man sie aus dem Stegreife daher, so werden sie doch mehren teils ordentlich zu Papier gebracht; halten aber so wenig Schranken und Ordnung, dass man sie schwerlich mit einem andern allgemeinen Nahmen als guter Einfälle belegen kann.“
Und von denen hat Telemann eine ganze Menge, etwa 3.600 Werke sollen aus seiner Feder stammen – was ihm später den abschätzigen Titel „Vielschreiber“ eintrug und ihn im Vergleich mit Bach immer auf einen hinteren Platz verwies. Das ging so weit, dass man ihm sogar unterstellte, er habe mit seinen Violin-Fantasien „Vorstufen“ zu Bachs Sonaten und Partiten für Violine Solo geschaffen. Dumm nur für solche Kritiker, dass Bach Solowerke aus dem Jahr 1720 stammen. 1735 – da war Telemann schon unterwegs zur Musik neuen, empfindsamen musikalischen Zeit, und seine Fantasien sind Zeugnis des kreativen Spagats: die alte Kunst – der Fuge zum Beispiel – nicht zu vergessen und das Neuartige hörbar zu machen.
Die Fantasien liegen nicht in einer Handschrift Telemanns vor, erhalten ist eine Abschrift, die mit dem Nachlass des Sammlers Georg Poelchau (er lebte 1799 bis 1813 in Hamburg) in die Berliner Staatsbibliothek gelangte. Technisch nicht so sehr fordernd wie die Bachschen Solosonaten spielen sie elegant mit Anklängen an den italienischen und französischen Stil, lassen die alten Hoftänze nur noch schemenhaft ahnen und verblüffen gern mit rhythmischem Widerborst aus der polnischen Volksmusik. Telemanns Fugen sind nicht so streng durchgeführt, wie Bach das tat, sie werden immer wieder unterbrochen von ausholenden Läufen, Arpeggien oder freier melodischen Passagen. Auch Telemann will den Klangraum der Violine zum Polyphonen hin erweitern, lässt das Instrument Akkorde spielen, zweistimmige Passagen und kontrapunktische Komplexitäten.
Telemann kann dicht am alten Stil schreiben wie in der 6. Fantasie; er fügt aber auch gern Sätze mit tänzerischen Qualitäten ein, in den Nrn. 7 bis 12 auch mal melancholische oder verträumte Melodien; es sind vertraute Linien, man meint schon beim ersten Hören, die Stücke gut zu kennen. Faast schon Ohrwürmer, leichte Galanterien eben – so wie den „Soave“ (süß, zart, lieblich) überschriebenen Satz in Nr. 11 und andere, die er als „Dolce“ oder „Siciliana“ oder „Spirituoso“ bezeichnet. Und, eine seiner Spezialitäten, er nutzt gern die tollkühnen großen Sprünge, die er bei Polens Spielleuten kennen gelernt hat – so wie deren Hang zu Synkopen – das gibt seiner Musik etwas Frisches, Verwegenes, Ursprüngliches.
Telemann beherrscht sein Handwerk perfekt und die Kunst, mit wenigen Noten eine zweite Stimme anzudeuten oder eine Basslinie unterzulegen, chromatisch dicht zu komponieren – all das aber, ohne allzu virtuose Fähigkeiten vorauszusetzen, er wollte seine Editionen ja schließlich auch verkaufen, an Schüler und fähige Amateure.
Umso reizvoller ist es, was Thomas Pietsch, der hoch gelobte Barockviolinist aus Hamburg, im vierten Jahr nach seiner Referenzaufnahme der Bachschen Solosonaten und -Partiten nun auch in den zwölf Telemann-Fantasien ausgelotet hat – er legt eine Einspielung vor, die alle Qualitätszweifel heißgelaufener Bach-Fans am kompositorischen Können Telemanns ein für allemal zum Schweigen bringt. In einem Konzert am 25. Juni rund um die Todesstunde des Meisters vor 250 Jahren im Michel hat Pietsch seine Interpretation der 12 Fantasien live vorgestellt – jetzt ist die CD erhältlich, aufgenommen im Februar 2017 in der Ev.-luth. Kirche Aumühle. Sie öffnet erneut den Blick in den wunderbaren Kosmos von Telemanns musikalischem Erfindungsreichtum und Pietschs ruhig atmendem Spiel.
Pietschs Spiel auf seiner Violine von 1672 gibt der Musik ihren natürlichen Atem zurück, er findet mit traumhafter Sicherheit die richtigen Tempi und nutzt die vielen aufregenden Zwischenklänge der Barockvioline, die noch nicht auf raumfüllende Effizienz optimiert und zurechtgestutzt sind – ein leidenschaftlicher Umweltschützer für bedrohte Nuancen des organischen Violinklangs. Perfekt in den Phrasierungen, (kenntnis-)reich in den Verzierungen und elegant in kleinsten improvisierten Übergängen. Pietsch bringt die strenge Wissenschaft der Fugen ebenso zum Leuchten wie unter seinen Händen die Galanterien zu tanzen beginnen – eine unwiderstehliche Einladung, sich neu auf Telemanns Musik einzulassen.
Georg Philipp Telemann: 12 Fantasien für Violine solo.
Barockvioline: Thomas Pietsch.
CD Label: Es-Dur 2071.
Hörbeispiele:
G.Ph.Telemann: 12 Fantasien für Violine solo TWV 40:14-25
Fotonachweis:
Header: Thomas Pietsch. Foto: Asmus Henkel / sowie CD-Cover
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment