Musikwoche Hitzacker: Zu sich selbst gefunden
- Geschrieben von Thomas Janssen -
Das Cembalo bringt „Fantasie“ auf den Punkt und entfaltet von dort aus die Vielfalt.
Hitzacker – Manchmal konzentrieren sich Veränderungen an einem Punkt. Bei der Musikwoche Hitzacker 2017 trägt dieser Punkt eine BWV-Nummer: 1055. Das ist Johann Sebastian Bachs Cembalo-Konzert in A-Dur. Dieses Werk gehört zu denen, die beim Winterfestival an der Elbe in den vergangen 31 Jahren immer wieder zu hören waren.
Nie aber so wie beim Konzert des Ensembles „New Seasons“ in diesem Jahr. Mit dem Schweizer Vital Julian Frey als Solist spielte „New Seasons“ am zweiten und abschließenden Festivalwochenende in einer Minimalbesetzung (zwei Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass) eine leichthändige, transparente, schwebende Interpretation. Eine leise Klangrede, die Rhetorik vom Wissen um die Kraft des Details bestimmt. Ein Schmetterlingstanz quasi.
In den Vorjahren war das Werk, gespielt von den „Virtuosi Saxoniae“ des Dresdner Trompeters Ludwig Güttler, meist uhrwerkhaft und im rhetorischen Gestus einer Wahlkampfrede durch die Hitzacker’sche St. Johannis-Kirche geprescht, dem Ort der meisten Konzerte. Am Tag vor der offiziellen Eröffnung der diesjährigen Musikwoche hatte das sogenannte Vorkonzert, ein ‚Tribute’ an Ludwig Güttler, in dem dessen Bläser-Ensemble noch einmal in bewährter Manier die Pracht des Blechs entfaltete, Erinnerungen geweckt. Und einen Kontrapunkt gesetzt zu dem, was folgte.
Albrecht Mayer, Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker und seit dem Vorjahr künstlerischer Leiter der Musikwoche, hat mit seinem zweiten Programm sein Festivalprofil gefunden. Und das Kunststück geschafft, nach 29 Jahren künstlerischer Leitung von Ludwig Güttler kein Publikum zu verlieren. Dabei war die Musikwoche Hitzacker bisher auf die Person ihres Gründungsleiters Güttler und die Wünsche seiner Fans zugeschnitten. Seit 1986 hatte der Dresdner Trompeter, schon zu DDR-Zeiten ein Star (mit Westreiseerlaubnis), das Festival geleitet. Das war als winterliches Pendant und in gewisser Abgrenzung zum ältesten deutschen Kammermusikfestival, den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker, entstanden, und kann inzwischen auch als etabliert gelten. Der Zweiklang beider Festivals könnte eine Chance sein: Welche Kleinstadt nicht nur in der Metropolregion Hamburg kann schon mit zwei größeren Festivals und überregional wahrgenommenen aufwarten. Ob es der Lokalpolitik gelingt, diese Chance zu nutzen, ist offen.
Hörenswertes gab es auch in drei Jahrzehnten Güttler immer wieder bei der Musikwoche – selten bis nie aber ein in Dramaturgie und in den Interpretationen so schlüssiges Programm wie in diesem Jahr. Dabei lässt das Motto „Fantasien“ auf den ersten Blick durchaus nicht vermuten, dass es mehr sein könnte als ein Label, wie es ein Festival heute eben braucht – eines, das nach dem Motto „Wie es euch gefällt“ realisiert wird.
Doch schon beim Eröffnungskonzert machte die Musikwoche klar, dass kein Allerweltsmotto gemeint war. Begleitet von dem von Albrecht Mayer pointiert dirigiertem Staatsorchester Braunschweig hatte die chinesische Violinistin Tianwa Yang Schumanns Fantasie op. 131 feinfühlig zum Klingen gebracht. Ihr Einfallsreichtum, ihr Gefühl für die Subtilitäten von Klang und Textur, ihre unprätentiöse Virtuosität und ihr Gespür für die Ideen einer Komposition, die sie bei dem Schumann-Werk so beredt zur Geltung brachte, ließen auch die Bach’sche Partita für Violine solo Nr. 2 d-Moll zu einer Sternstunde werden. Brillanz im Klang und in Technik, Konzentration der Virtuosität auf das Wesentliche, Eloquenz gepaart mit Gelassenheit. Das Werk ist eines von denen, in denen die Trennung von Freiheit und Form aufgehoben ist – Tianwa Yang spielte es entsprechend.
Beim Thema „Fantasien“ geht es um Freiheit – die Korrespondenz zwischen der Fantasie als menschlichem Potenzial und der „Fantasie“ als musikalischem Genre ist eng. Natürlich braucht jede Musik Fantasie, aber natürlich braucht auch jede Musik Strenge und Form, und es ist genau die Art, wie eine Fantasie das Verhältnis zwischen beiden formuliert, die ihre Charakteristik ausmacht. Vital Julian Frey war es, der das am zweiten Wochenende des Festivals auf den Punkt, genauer gesagt, auf das Cembalo brachte.
Mit seinen fulminanten Interpretationen der Chromatischen Fantasie d-Moll von Johann Sebastian Bach (BVW 903) und ihren Pendants in Tonart und Genre von Mozart und Wilhelm Friedemann Bach stieß die Musikwoche Hitzacker zum Kern ihres Themas vor. Die drei Komponisten gehen harmonisch an die Grenzen mindestens des zu ihrer Zeit möglichen. Vital Julian Freyssubtilen, nicht nur Dynamik und Tempo reich nuancierten Interpretationen setzten frei, was das musikalische Genre Fantasie ausmacht, er spielte mit Elastizität von Anschlag und Klang, in immer wieder neuen Nuancen artikulierend. Virtuosität, die die Werke in großem Maß fordern, erledigte Vital Julian Frey mit Beiläufigkeit – erledigen meint die Erfüllung einer gestellten Aufgabe genauso wie das selbstbewusste Zumessen eines ihr angemessenen Platzes, an dem Virtuosität Mittel zum musikalischen Zweck ist. Dass Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 in der Regel auf dem Flügel gespielt wird und im Gewand des wenig opulenten Klangs des Cembalo eine die Struktur auffällig machende Außergewöhnlichkeit bekam, ließ Wahlverwandtschaften umso deutlicher werden
Momente, in denen eine Interpretation solche fast magische Kraft entwickelt, die, Walter Benjamin folgend, vielleicht besser Aura genannt würde, sind eher selten. Waren Freys Interpretationen schon für sich bemerkenswert, so gilt das auch für ihr Programmumfeld, das korrespondierend entfaltete, was in den für das Genre paradigmatischen Fantasien angelegt ist. Die Dialektik von Verzweiflung und Erlösung (Vital Julian Frey) etwa, die in den verminderten Septimen des dritten Teils der d-Moll-Fantasie von Bach auf Grundlegende reduziert ist, findet sich auskomponiert in der in einem 12/8-Tanz der Versöhnung endenden Bach-Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“. Die Sopranistin Anna Nesyba realisierte jeden der von Verzweiflung bis zu befreiter Freude reichenden Affekte des Werks verdichtet und zugleich leichthändig. Hochmusikalisch und verhalten brachte die Sängerin ihre hell timbrierte, geschmeidige Stimme klangsinnlich zur Geltung, flog durch die Lagenwechsel, Accelerandi und Ritardandi, Crescendi und Diminuendi, die emotionale Spannungsverhältnisse aufbauten. Souverän und leicht auch die Koloraturen, deren Spektrum von gerade noch erahnbar („Stumme Seufzer“) bis strahlend („Wie freudig ist mein Herz“) reichte. „Selbst die Seele wird erfreut“ heißt es in einer Zeile aus Händels „Neun deutschen Arien“. Wenn Anna Nesyba auf Andeutung statt auf Explizites setzte, stimmte sie mit dem Gestus Albrecht Mayers überein, der als Instrumentalsolist auf der Oboe (und in „Ich dein betrübtes Kind“ auf der weicheren Oboe d'amore) den menschlichen Gesang mit dem seiner Instrumente umspielte, nuancierte und im Affekt verdichtete.
Zum Programmkontext zählte auch das eingangs erwähnte Cembalo-Konzert Bachs. Albrecht Mayer und Vital Julian Frey fanden bei den empfindsamen Kantilenen der Fantasie für Oboe und Cembalo f-Moll von Johann Ludwig Krebs und bei Bearbeitungen der Bach’schen Triosonaten d-Moll und e-Moll zu einem von osmotischen Übergängen, Diskontinuität und Entwicklung fein ausbalancierendem Ton, jeder Takt ein Moment intensivster Musikalität.
Musikalität par excellence, interpretatorische Subtilität, eine kluge Dramaturgie, die weit über ein einzelnes Konzert hinausdenkt: hier ist sie, die Musikwoche 4.0. Ein Festival hat zu sich selbst gefunden.
Abbildungsnachweis:
Header: Logo Musikwoche Hitzacker
01. Göttinger Symphonie Orchester. Foto: Thomas Klawunn
02. Ludwig Güttler. Foto: Thomas Janssen
03. Nils Mönkemeyer. Foto: Thomas Janssen
04. Anna Nesyba. Foto: Janine Guldener
05. Albrecht Mayer. Foto: Thomas Janssen
06. Anna Nesyba singt. Thomas Janssen
07. Violinistin des Enselble New Seasons. Foto: Thomas Janssen.
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