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Kent Nagano Foto: Steven Haberland

Seit acht Monaten ist der Amerikaner Kent Nagano Generalmusikdirektor in Hamburg. Hans-Juergen Fink sprach mit ihm über den Hamburger Klang, Olivier Messiaen, seine Arbeit mit Frank Zappa, seine „schrecklichen Ohren“ sowie über Schönheit und Balance. Ein Gespräch in zwei Teilen.


Hans-Juergen Fink (HJF): Hamburger Klang – was bedeutet das für Sie?

Kent Nagano (KN): Das ist eine offene Frage, ohne eine bestimmte Antwort. Normalerweise repräsentiert ein bestimmter Klang eine Kultur, eine lange Geschichte und eine Tradition. Was für uns interessant ist, ist nicht nur zu wissen, was war früher los, sondern herauszufinden: Was bedeutet das für eine lebendige Tradition heute?
Jetzt haben wir einen Anfang, eine Ahnung, was das ist. Für mich ist es sehr lebendig und voller Inspiration. Denn der Klang von Hamburg ist echt, einzigartig und echt schön. Man hört es jetzt langsam im Orchester, nach acht Monaten kommt dieser Klang hervor. Vorgestern waren wir auf der Bühne mit „Tristan und Isolde“, es gab ja einen Streik, und wir mussten auf der Bühne spielen. Es war sehr besonders zu spüren, wie dieser Klang Publikum und Orchester verbindet. Oder in „La Passione“ bei Bachs „Matthäus-Passion“ – man hört jetzt, wie dieser Klang eben aufzublühen beginnt. Das ist unglaublich schön.

HJF: Was macht diesen Hamburger Klang aus – nur die Tradition? Oder wird das auch physisch ein anderes Hörerlebnis?

KN: Natürlich ist Klang etwas Physikalisches, etwas Akustisches. Es ist aber noch viel mehr: Es ist Emotion, Charakter, Persönlichkeit, Vergangenheit und alte Geschichte, eine Kultur und ihre Menschen.

HJF: Sie haben mit vielen Orchestern – in Berlin, München, Lyon, Manchester und aktuell in Montreal – über längere Zeit gearbeitet. Haben Sie mit jedem dieser Orchester einen solchen spezifischen Klang entwickelt?

KN: Das hoffe ich. Es ist aber wie mit den Menschen selbst: Manchmal ist diese Klangpersönlichkeit stärker, manchmal ist sie nicht so stark. Aber es soll ganz einzigartig sein. Ein Orchester ist ein Kollektiv, eine Mikrokultur. Auf Hamburg bezogen bedeutet das: Dieses Orchester ist mit seinem Gründungsjahr 1828 Teil eines sehr exklusiven Klubs. Es gibt nicht so viele Orchester in diesem privilegierten Klub; es ist einer, in den man sich nicht hineinkaufen kann. Unser Orchester, unsere Oper ist ein Teil vom Original, es hat eine der ältesten Traditionen der Welt, zusammen mit Dresden oder Wien. Die Tradition lebt noch hier bei uns, und man kann sie hören. So etwas kann nur in solch einer langen Zeit wachsen.

HJF: Hat das auch etwas mit dem breiten Repertoire zu tun, das in der Musikstadt Hamburg über die Jahrhunderte entstanden ist?

KN: Natürlich. Die Hamburger Komponisten, ihr Weg und ihre Entwicklung spielen da eine große Rolle.

HJF: Können Sie es noch etwas genauer beschreiben, wie dieser Hamburger Orchesterklang sich anhören soll, welche Eigenschaften er haben soll und wie er sich unterscheiden soll zum Beispiel von dem der Wiener Philharmoniker? Oder von ihrem Orchestre Symphonique de Montréal?

KN: Es ist eine ungewöhnliche Kombination von Dunkelheit und hat vielleicht etwas zu tun mit dem Meer oder der Erde hier, die sehr dunkel sind, aber auf der anderen Seite weich und transparent. Eine einzigartige Kombination, sehr energiegeladen. Diese tiefe Energie, unglaublich dunkel und gleichzeitig transparent. Vielleicht kann man es mit dem Unterschied zwischen einem modernen Wein und einem Wein aus alten Weinstöcken besser illustrieren. Das gibt eine ganz andere Tiefe, ist sehr sophisticated und komplex im Klang. Hat nicht nur fünf oder sechs Farben oder ist lauter oder weniger laut. Eben sehr viel komplexer.
Das spricht für Hamburg. Die Stadt ist, das lerne ich gerade, mit ihrer langen Geschichte als Tor zur Welt und zu Deutschland unheimlich reich an Pioniererfahrungen. Man fühlt diese besondere Energie und Entdeckungslust.

HJF: Ihre Station vor München war Hamburg. Was hat Hamburg, das München nicht hat?

KN: Das Meer – man riecht das sofort. Ich liebe Bayern, und ich liebe München. Aber von der Natur her ist es völlig anders, das alpine Naturdrama. Nicht besser, nicht schlechter – anders. Das war vielleicht die erste Sache, die ich hier bemerkt habe: Es riecht anders, und die Luft hat eine ganz andere Qualität, so sauber. Auch der Nebel hier ist anders, er wird vom Meer produziert, nicht von Bergen.

HJF: Sie sagten, der Hamburger Klang beginne jetzt gerade, aufzublühen...

KN: ...nein, nein, der Klang ist ja längst da, viel länger als Kent Nagano. Er ist uralt. Und es ist unsere Verantwortung als Orchester und als Philharmonisches Staatsorchester, dass wir klingen wie Hamburg heute. Hamburg ist nicht mehr das Hamburg, wie ich es vor 25 Jahren kennen gelernt habe und sicher auch nicht mehr das Hamburg von 1960 oder das vor 100 Jahren. Die heutige Generation im Philharmonischen Staatsorchester soll wie Hamburg klingen.

Kent Nagano Foto Steven Haberland

HJF: Wie kamen sie auf die Idee, Dirigent zu werden. Man kann als Musiker viele andere Dinge tun anstatt vorne stehen und Aufführungen zu leiten?

KN: Interessante Frage. Wenn man mit zehn Dirigenten spricht, wird man zehn verschiedene Antworten bekommen. Ich sehe das so: Es gibt keinen normalen oder traditionellen Weg. Mein Weg war eine unkalkulierte, unstrategische Entwicklung. Ich bin mit einer Kirche aufgewachsen, in der viel musiziert wurde...

HJF: ...und mit einem musikalischen Elternhaus...

KN: ...ja. Diese Kombination einer Kindheit auf dem Land, ohne kommerzielle Einflüsse – keine Shopping Mall, kein Kino, keine Diskothek – bedeutete: Unterhaltung war meistens im Haus mit der Familie, Kammermusik, Klavier. Oder in der Kirche. Das war auch ein sehr sozialer, prägender Aspekt. Und der musikalische Leiter dieser Kirche kam über München aus Georgien, und Bach hatte einen besonderen Platz auf unserem Programm. Ich war sein Klavierschüler und so hatte ich natürlich eine Rolle in der Kirche, arbeitete mit dem Kinderchor – das war der erste Schritt zur musikalischen Leitung.

HJF: Sie haben schon mit acht Jahren dirigiert, liest man.

KN: Ich glaube, ich war neun oder zehn. Und das war so unglamourös, so natürlich. Wir haben alle zusammengearbeitet, um jeden Sonntag in der Kirche Musik zu machen. Ich war kein Dirigent, ich war Musiker, der ein Ziel hatte. So ging das immer weiter, ich studierte Komposition.Und dann durch diese Art zu denken und die neuen Kontakte wurde ich immer wieder gebeten, kleinere Orchesterstücke zu dirigieren – von Kollegen und Komponisten, mehr und mehr ... und eines Tages habe ich realisiert: Ich dirigiere viel – vielleicht bin ich ein Dirigent.

HJF: Sie sind so hineingerutscht?

KN: Ja, das war kein bestimmter Moment, sondern passierte sehr langsam in einer natürlichen Entwicklung. Es ist nicht der einzige Weg, auch nicht der beste. Aber wenn ich zurück schaue, war es ein alter, traditioneller Weg, anzufangen. Durch die Kirche, die Oper, das Komponieren.

HJF: Es gab immer wieder Menschen, die Ihren Weg stark beeinflusst haben. Von Ihrem Lehrer Wachtang „Botso“ Korisheli haben Sie schon erzählt. Ein anderer war der Komponist Olivier Messiaen. Was hat er Ihnen mitgegeben?

KN: Ich habe Messiaen betrachtet wie einen echten Vater. Er hat als Komponist einen enormen Einfluss auf mich gehabt. Seine Frau war eine hervorragende Pianistin, ich habe bei ihr studiert. Er hat mich von Kalifornien nach Europa geholt, ich habe bei ihm gewohnt für ein Jahr, um ihm bei der Produktion seiner Oper „St. François d’Assise“ zu assistieren. Sie war ein echter Höhepunkt für ihn als Komponist. In dieser Zeit, in der ich mit ihm gearbeitet und bei ihm gewohnt habe, habe ich sehr viele Menschen aus der europäischen Musikwelt kennen gelernt. Ich kam in Kontakt mit allen großen Komponisten, Pierre Boulez natürlich, Henri Dutilleux, Wolfgang Rihm ... Das war das erste Mal, dass ich nicht mehr Englisch sprechen konnte, Messiaen konnte kein Englisch, also habe sehr schnell Französisch gelernt, dann Italienisch und Deutsch. Ich war das erste Mal nah bei den Wurzeln der europäischen Musik und Kultur. Wenn wir ehrlich sind: Amerika, wo ich herkomme, ist die Neue Welt, und Musikkultur dort ist importiert, rübergekommen durch Emigranten. für mich war es sehr wichtig, direkt an die Quellen zu gehen, in Paris zu leben, das alles aufzusaugen. Das hat für mich nicht nur musikalisch, sondern auch als Person eine komplett neue Tür geöffnet.

HJF: Es war kein Zufall, dass es so kam. Sie haben Ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Der Brief...

KN: Es war spontan, und es wurde aus der Not geboren. Es ist spannend, denn man weiß nie, was dann passiert. Ich habe mich mit Analysen und Theorien herumgeschlagen als Kompositionsstudent. Aber Musik ist nicht Analyse und Theorie, eine Verstandesstruktur – das ist keine Musik. Das hilft alles nur – aber von wo kommt ein tiefes Verstehen für Stil, Atmen, Farben, von Rhythmus? Da konnte mir keiner helfen, musste ich zur Quelle gehen. Also habe ich an Messiaen geschrieben. Und Sie sehen, was daraus wurde.

HJF: Wenn Messiaen Ihr musikalischer Vater war, welche Rolle spielte dann Frank Zappa?

KN: Frank Zappa war merkwürdigerweise eine neue Verbindung mit amerikanischer Kultur, die ich bis dahin nicht erlebt hatte. Meine Kindheit war eben etwas Besonders, auf dem Land. Alles, was modisch war, ist zu uns aus dritter und vierter Hand gekommen. Meine Eltern waren ja auch etwas anders – Bauern, ja. Aber ungewöhnliche Bauern. Mein Vater war eigentlich Architekt und Ingenieur und hatte für ein großes Architekturbüro als Juniorpartner gearbeitet. Meine Mutter war studierte Biologin und Pianistin, und die einzige Bäuerin, die soviel Bildung hatte. Sie konnte so tief über die Dinge sprechen.
Wir bekamen jedenfalls erst sehr spät einen Fernseher, und wir hatten anfangs noch gar keinen Empfang. Ende der 60er-Jahre gab es eine Fernseh-Show, bei der Frank Zappa auf die Bühne kam. Meine Mutter erschrak richtig und schaltete aus: „Das braucht man nicht.“ Pop- und Rockmusik war praktisch verboten im Haus. Natürlich habe ich etwas von den Beatles gehört – über Mitschüler. Aber so was wie „Frank Zappa and the Mothers of Invention“ ging völlig an mir vorbei. Später, als ich erwachsen war, sah ich im IRCAM (dem Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique, deutsch: Forschungsinstitut für Akustik/Musik im Pariser Centre Pompidou, Anm. d. Red.), dass Pierre Boulez, der später auch eine Art Lehrer für mich wurde, für Frank Zappa dirigierte. Und das war für mich als Amerikaner etwas, das ich nicht verstand. Ein IRCAM-Ingenieur sagte mir, dass Zappa auch Musik für Ensembles und Orchester schrieb.
Also habe ich wieder einen Brief geschrieben, an Frank Zappa: Ich bin interessiert daran, Ihre Partituren zu sehen. Und Herr Zappa antwortete: Treffen Sie mich bei meiner nächsten Tour in San Francisco, ich bringe Partituren mit. Da erst, in Vorbereitung für das Treffen, habe ich alle seine Schallplatten angehört, habe sie analysiert – so habe ich 20 Jahre zu spät Frank Zappa kennen gelernt. Das war für mich die Verbindung mit einem Teil von Amerika, den ich nie erlebt hatte.

HJF: Ein sehr avantgardistischer Teil Amerikas.

KN: Er war einzigartig. Rockstar, Popstar, aber nicht ganz, denn er war eben so avantgardistisch. Er war Komponist...

HJF: Sie haben drei Platten mit Werken von ihm dirigiert.

KN: Das ist alles zurückzuführen auf drei Konzerte 1983 mit dem London Symphony Orchestra. Und viele, viele Tage im Studio.

Der zweite Teil des Interviews folgt am 11. Mai 2016.

Unsere CD-Empfehlung mit Kent Nagano:
Camille Saint-Saëns Sämtliche Violinkonzerte
Violinkonzert Nr. 1
Violinkonzert Nr. 2
Violinkonzert Nr. 3
Andrew Wan – Violine
Orchestre symphonique de Montréal
Analekta, Oktober 2015

Saint-Saëns | Moussa | Konzerte für Orgel und Orchester
Saariaho Olivier Latry & Jean-Willy Kunz – Orgel
Orchestre symphonique de Montréal
Analekta, Oktober 2015


Abbildungsnachweis:
Alle Fotos: Steven Haberland

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