Ana, die Protagonistin dieser Geschichte, ist ein moldawischer Teenager, der nach Italien katapultiert wird. Plötzlich stellt die Heranwachsende fest, dass sie sich weder auf Italienisch noch auf Moldawisch vollständig auszudrücken vermag. „Wer bist du, wenn du deine Wurzeln und Worte verlierst?“ ist nicht nur die zentrale Frage, die sich Ana in dieser Lebenslage stellt. Vielmehr schmückt dieses Motto auch den Untertitel des 2012 erschienenen Buchs über „Die Sprache von Ana“, das die auf Italienisch schreibende Autorin und Übersetzerin, 1980 in Loznica (Serbien) geborene und Anfang der 1990er-Jahre in Italien eingebürgerte Elvira Mujčić verfasst hat.
Seitdem zirkuliert der quasi-autobiographisch konnotierte Roman als Geheimtipp im Fremdsprachenunterricht Italienisch an Schulen und Universitäten.
KulturPort.De veröffentlicht vorab einen kurzen Auszug aus einer in Arbeit befindlichen Buchübersetzung ins Deutsche. In den folgenden Fragmenten steht die teils beschwörende, teils entfremdende Kraft der Sprache im Mittelpunkt von Anas Erleben: Es geht um Sprache an sich sowie um das menschliche Vermögen, überhaupt Worte artikulieren und miteinander sprechen zu können – eine Gabe, die uns sowohl willkommen heißt als auch abstößt. Die Unfähigkeit sich auszudrücken, verwandelt sich in eine existenzielle Daseinsfrage, bietet aber auch die Möglichkeit, sich neu zu erfinden.
Lesung im Literaturhaus Graz. Foto: Irene Hetzenauer
Ana erlebt Schritt für Schritt den schmerzhaften Übergang von einer Sprache zur anderen: Diese Veränderung kommt nicht nur einem einfachen Wechsel von Symbolen und Bedeutungen gleich, sondern auch einer emotionalen Suche ihres sich hybridisierenden Ichs. Am Ende ihrer „Coming of age“-Geschichte steht die Einsicht, dass entwurzelt bzw. in einem anderen, fremden Land und in einer unbekannten Sprache aufzuwachsen, sowohl menschliche Probleme als auch übermenschliche Perspektiven birgt. Die Seitenangaben der hier auf Deutsch zusammengestellten Übersetzungsfragmente beziehen sich auf die u.g. italienische Originalfassung des Romans von Elvira Mujčić: La lingua di Ana. Chi sei quando perdi radici e parole?.
Es war so schade, dass Mama nicht da war. Jahrelang hatte ich auf diese mysteriöse Menstruation gewartet, um mit ihr und ihren Freundinnen zusammensitzen und jammern zu können. Ich erinnerte mich noch gut an jene Nachmittage, an denen Mama und ihre engsten Freundinnen, Elena und Mila, bei einem Kaffee zusammensaßen und sich über Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder schlechte Laune beklagten. Es war kaum zu glauben, aber das kam alles von der Menstruation. Ich ging zu Mama und fragte sie nach dem Namen der Krankheit, die sie alle drei plagte. Sie legte ihre Arme um mich, nahm mich auf ihren Schoß und erklärte mir, dass das Frauensachen seien, die eines Tages auch mich betreffen würden. Und ich konnte es kaum erwarten! Ich wollte auch Kopfschmerzen haben, mit blassem Gesicht auf dem Sofa sitzen und Kaffee trinken und eine Frau sein, so wie sie. Aber als meine Menstruation dann endlich einsetzte, hatten Mama, Elena und Mila bereits alle das Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten. Und meine Großmütter dachten nicht einmal daran, mir einen Kaffee zu machen, sich mit mir hinzusetzen und sich mein Gejammer anzuhören. [S. 15]
Eigentlich hätte ich meine Koffer an den Tagen zuvor in Ruhe packen können, anstatt nun so kurz vor der Abreise alles in Eile zu erledigen. Tatsächlich hatte ich das sogar versucht, doch jedes Mal ergriff mich ein seltsames Gefühl der Niedergeschlagenheit und Beklemmung, das mich den Schrank wieder schließen und das Zimmer verlassen ließ, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen. Tagelang hatte ich mir die Frage gestellt, was ich wirklich brauchen würde. Was braucht man wohl, wenn man für unbestimmte Zeit weggeht und nicht mehr als zwei Koffer mitnehmen kann? Eigentlich hatte ich ja nicht weiß Gott wie viele Sachen. In meinem Zimmer, das gleichzeitig auch das Wohnzimmer war, befand sich ein Schrank mit meiner Kleidung – auf der einen Seite die für den Winter, auf der anderen die für den Sommer. Alles hätte in einer einzigen Tasche Platz gehabt. In einer Truhe neben dem Bett (das tagsüber ein Sofa war) befanden sich außerdem noch weitere unterschiedlichste Gegenstände. Ehrlich gesagt wusste ich nicht einmal genau was, da ich die Truhe gewöhnlich nur öffnete, um Dinge hineinzuwerfen, von denen ich nicht wusste wohin damit. Zu guter Letzt stand neben dem Fenster noch ein kleiner Tisch, den ich als Schreibtisch nutzte und auf dem ich meine Schulbücher, ein paar Buntstifte, Hefte mit lustigen Einbänden und ein kleines Tagebuch aufbewahrte. Eigene Bücher hatte ich keine, aber ab und zu griff ich mir die meines Vaters, um einmal etwas anderes als Texte für die Schule zu lesen. Mein ganzes Hab und Gut passte also problemlos in zwei Koffer. Man musste nur alles gut zusammenlegen. Und doch kam es mir so vor, als gäbe es da etwas, das ich nicht mitnehmen konnte. Da war etwas an diesem Haus, an den Wänden entlang der Treppe, die ich mit dem Koffer in der Hand hinter meinem Vater hinunterstieg, gefolgt von meinen zwei keuchenden Großmüttern. Da war etwas an diesem krummen, wild wachsenden Baum vor unserem Haus, dessen lange Äste nachts gegen mein Fenster schlugen, mir aber längst keine Angst mehr einjagten, sondern mich vielmehr zuhause fühlen ließen. Da war etwas an dieser Straße, die wir entlanggingen, um zur Bushaltestelle zu gelangen. Es waren meine gesamte Kindheit und Jugend, die ich hier zurückließ. [S. 17]
Das drängende Bedürfnis nach Kontrolle war schwächer geworden. Ich blieb zwar stets an der Oberfläche haften, natürlich, ich konnte ja auch noch nicht tiefer greifen, aber die Worte hatten begonnen, wie soll ich sagen, sich einzunisten. So stellte ich mir das vor: Die Wörter, die zuvor wie wild in meinem Kopf herumgesprungen waren, kamen allmählich zur Ruhe, ganz so, als fänden sie jetzt den richtigen Platz, um Wurzeln zu schlagen. Ich hatte einmal gehört, dass es bei einem Fötus genauso sei: In den ersten drei Monaten der Schwangerschaft dreht und wendet er sich, bis er seinen Platz in der Gebärmutter findet und sich einnistet. Aber in diesen ersten drei Monaten besteht auch die Gefahr, dass er sein eigenes kleines Stückchen Paradies nicht findet und dann sein Leben lassen muss. Ich war schwanger mit dieser neuen Sprache, dem Italienischen, und wartete darauf, dass sie sich entwickelte, um mich zur Welt zu bringen, um einer neuen Ana das Leben zu schenken, da die alte nicht ewig in ihrer Ausweglosigkeit verharren konnte.
[S. 19]
Bevor Mario auftauchte, war mir diese Veränderung nicht aufgefallen. Mama sprach nie Italienisch mit mir, und wenn sie es versuchte – etwa um mir bei den Hausaufgaben zu helfen – überkam mich eine unerklärliche Unruhe. Sobald sie anfing, in dieser Sprache zu sprechen, schien sie ein anderer Mensch zu werden. Die Art und Weise, wie sie die Hände bewegte, ihr Gesichtsausdruck, alles an ihr veränderte sich, und das Gefühl, sie nicht mehr zu kennen, machte mir Angst. Sie behauptete, dass ich diese Distanz zwischen uns nicht mehr spüren würde, sobald auch ich Italienisch gelernt hätte. Dass ich diese Entfremdung fühlte, liege nicht an ihr, sondern daran, dass sie, wenn sie Italienisch sprach, wie all die anderen wurde, die ich nicht verstand.
Als Mario bei uns einzog, begannen wir auch zuhause Italienisch zu sprechen. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren und weiterhin Moldawisch zu sprechen, aber sie wies mich zurecht: „Schatz, Mario versteht uns nicht...“.
„Ich verstehe auch kein Italienisch...“, erwiderte ich.
Daraufhin versuchte Mario mich geduldig und übertrieben freundlich zu beruhigen: „Aber du lernst schnell und bald wirst du besser sprechen als ich“.
Ich sah ihn mit ausdruckslosen Augen an, ohne zu antworten. Ich konnte nicht ertragen, wie langsam und bewusst deutlich er sprach, um mir das Verständnis zu erleichtern. So wie sein rücksichtsvolles Lächeln und die verschwörerischen Blicke, die er und Mama sich zuwarfen. Was mich aber am meisten störte, war, sie untereinander reden zu hören: Sie unterhielten sich so schnell, die Worte sprudelten regelrecht aus ihnen heraus, und bevor ich es geschafft hatte, auch nur eines zu verstehen, waren sie schon hundert Worte weiter, die in einem unverständlichen Schwall wie von der Dunkelheit verschluckt untergingen. Ihre Gespräche waren lebhaft und erinnerten mich an die zwischen Mama und Papa, als ich noch klein war und nicht alles verstand.
Ich fragte mich, wie Mama in einer anderen Sprache genauso fröhlich sein konnte, wie es ihr so leichtfallen konnte, zu lachen, zu reden, zu scherzen. Aber vor allem verstand ich nicht, wie sie in dieser neuen Sprache lieben konnte. Wenn im Fernsehen Liebesfilme liefen und die Schauspieler einander „Ti amo“ sagten, musste ich unweigerlich lachen, für mich waren das nur leere Worte. Wie schaffte es Mama, an sie zu glauben? Wer weiß, ob sie diese Worte überhaupt sagte und ob sie für sie die gleiche Bedeutung hatten wie damals das „Te iubesc“ zwischen ihr und Papa.
Nun, wenn Mama das konnte, war es vielleicht doch möglich, einen Mann in einer anderen Sprache zu lieben, aber für mich klang das alles falsch und sinnlos. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sich meine Sichtweise vielleicht ändern würde, sobald ich selbst einmal Italienisch gelernt hätte. Doch sofort packte mich die Angst: Was, wenn für mich dann Moldawisch unecht und ausdruckslos klingen würde? [S. 52/53]
Ich griff nach dem Handy, das Mario mir zum Geburtstag geschenkt hatte, und wählte den italienischen Notruf 118. Ich sprach mit zitternder Stimme, meiner Meinung nach völlig unverständlich, doch in der Zentrale verstand man, dass eine Frau in der Nähe des Bootsverleihs zu Boden gestürzt war. Am anderen Ende der Leitung beruhigte mich eine freundliche Frau: „Okay Ana, wir haben die Rettungskräfte verständigt. Jetzt beruhige dich, hör mir zu und folge meinen Anweisungen. Es ist wichtig, dass du sofort mit einer Herzdruckmassage beginnst. Dreh die Frau auf den Rücken! Verstanden?“.
„Ja, habe ich!“.
„Gut! Jetzt suche den unteren Rand des Rippenbogens…“.
„Nein, stopp, ich verstehe Sie nicht, ich bin keine Italienerin!“, unterbrach ich sie panisch. Aber sie sprach weiter, half mir, die richtige Stelle am Brustbein zu finden, und gab mir die notwendige Anleitung, um die Herzdruckmassage durchzuführen. Während ich verzweifelt versuchte, Adele wiederzubeleben, traf die Rettung ein. Die Sanitäter stürzten aus dem Fahrzeug, schoben mich zur Seite und beugten sich über den leblosen Körper. Sie reanimierten Adele – ein, zwei, drei Mal, bis sie sich bewegte, sogar für einen kurzen Moment die Augen öffnete. Sie luden sie in den Krankenwagen, und da sie wohl dachten, ich sei die Enkelin, nahmen sie mich mit und setzten mich nach vorne. Der Rettungssanitäter fragte mich, was passiert war, und ich erzählte ihm alles der Reihe nach. [S. 122/123]
Ich versank in einem weichen, staubigen Sessel. Ich war todmüde. Zum ersten Mal, seit ich in Italien lebte, war ich über meinen Schatten gesprungen und hatte mit so vielen Menschen gesprochen, dass mir alles unwirklich erschien. All das Reden, Denken und Mich-ins-Zeug-Legen hatte mich erschöpft, und ich war kurz davor einzuschlafen, als der Arzt kam.
„Das waren erste Anzeichen eines Herzinfarkts“, erklärte er mir. Es sei ein glücklicher Zufall gewesen, dass ich bei ihr gewesen war und so schnell gehandelt habe. Er lobte mich dafür, dass ich so rasch reagiert hatte, und ich sagte ihm, dass meine Mutter Krankenschwester sei und hier arbeitete. Er kannte sie und meinte, er würde sie gleich holen. Adele sei jedenfalls außer Lebensgefahr und schon morgen würde ich sie besuchen können. Sie habe vor ein paar Jahren schon einmal einen Herzstillstand gehabt und hätte eigentlich mit dem Rauchen und Kaffeetrinken aufhören und ihre Ernährung umstellen sollen, meinte der Arzt. Dann ging er.
Ich versank erneut im Sessel. Mir war vor Aufregung ganz flau im Magen. Die Worte des Arztes gingen mir nah. Mein Gott, es war wirklich geschehen, die Worte in dieser fremden Sprache hatten mich gefühlsmäßig tatsächlich in ihren Bann gezogen! Ich konnte es kaum glauben. Das war bisher erst zwei Mal passiert, seit ich in Italien lebte. Das eine Mal, als Damiano mir gesagt hatte, dass er mich liebte, und das andere Mal, als er mich verlassen hatte. Und jetzt hatte mich die listige alte Adele dazu gebracht, mein Schneckenhaus zu verlassen, und es geschafft, dass ich tiefe Rührung verspürte! [S. 123/124]
Ich nahm das Buch zur Hand. Grigore Vieru, Orfeo rinasce nell’amore [A.d.Ü.: dt. etwa „Orpheus erwacht in neuer Liebe“] oder Făgăduindu – mă iubirii.
Ich öffnete es; links standen die Gedichte auf Moldawisch, rechts auf Italienisch. Meine Augen wanderten von hier nach da, die moldawischen Wörter vermischten sich mit den italienischen, überlagerten sich. Hektisch las ich zuerst die linke und dann die rechte Seite und umgekehrt, auf der Suche, auf der Suche nach… Ich wusste nicht, wonach genau. Nach einem Fehler? Nach einer Ähnlichkeit? Nach einem schlecht übersetzten Wortspiel?
Aber ich entdeckte nichts dergleichen. Die beiden Versionen des Gedichts lebten je ihr eigenes Leben, ein jedes Gedicht auf seiner Seite. Die moldawischen Wörter schufen Bilder in meinem Kopf, die nur ich verstand. Und die italienischen ebenso. Schließlich rufen Worte immer nur unsere eigenen, für andere unverständliche Bilder in uns wach. Jeder von uns hat seine eigene Sprache. Und das Erstaunliche: Einige italienische Sätze sagten mir gar nichts, während mir die moldawischen eine ganze Welt eröffneten. Zugleich kamen mir andere Sätze auf Moldauisch nichtssagend vor, während sie mir auf Italienisch unter die Haut gingen. [S. 156/157]
Weitere Buchtitel von Elvira Mujčić
Elvira Mujčić: La lingua di Ana. Chi sei quando perdi radici e parole?
Mit einem Vorwort von Jasmina Tešanović, Formigine (Modena/Italien),
Infinito Edizioni, 2012.
Weitere Informationen (PDF, it.; Verlag)
Die o.g. Seitenangaben im Text der hier auszugsweise vorgestellten deutschen Übersetzung beziehen sich auf die italienische Erstfassung des Romans.
Die deutschsprachigen, für die Publikation leicht redigierten Textfragmente wurden übersetzt von einem studentischen Kollektiv der Universität Graz unter der Leitung von Susanne Mandl, Mag. phil. (Universität Graz, Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft) in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Simona Bartoli-Kucher und Prof. Dr. Tommaso Meozzi (Universität Graz, Institut für Romanistik).
Das Übersetzer/innen/kollektiv setzte sich aus folgenden Mitgliedern zusammen: Lea Baumgartner, Angelina Bischof, Hannah Brandstätter, Chiara Drage, Julia Egg, Lukas Engl, Lea Feier, Sandra Götz, Drini Halili, Celina Sophie Hinterhofer, Sabine Verena Jaklitsch, Marie Kolb, Jakob Kolouch, Viktoria Anna Kovacs, Judith Krenn, Anna Kriegl, Carolina Leiter, Lisa Maier, Hanna Mayr, Julia Marianne Mitterbacher, Lisa Noelle Müller, Helmut Ofner, Lisa Oswald, Magdalena Oswald, Naomi Petutschnig, Vanessa Schlatzer, Irene Tanzi, Martina Trani, Julia Tuider, Anna Christina Weber, Karina Wolfger, Linda Wolfinger, Chang Milay Yerbilla.
Über die Beweggründe ihres Schreibens spricht Elvira Mujčić auf KulturPort.De im Interview mit Dagmar Reichardt.
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