Literatur

Saša Stanišic` fantastische Fähigkeit, Geschichten zu erzählen ist immer wieder eine Freude für uns Leser. Seine große Erzählkunst zeigt sich auch in „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“, erschienen bei Luchterhand.

 

In zwölf Erzählungen geht es um Möglichkeitsräume, um Perspektiven, um Träume, die wahr werden oder die – weil noch nicht ausgeträumt – in eine vielversprechende Zukunft münden könnten. Es geht aber auch um die eigene Migrationsgeschichte des Autors, um Herkunft, Ankommen und Dasein.

 

Dies alles spielt auch in seinen bisherigen Büchern eine wichtige Rolle, für die der Autor mehrfach preisgekrönt worden ist. 1978 in Višegrad in Bosnien-Herzegowina geboren, kam Saša Stanišic 1992 als Kriegsflüchtling mit seiner Familie nach Deutschland, nach Heidelberg. Damals, in der neuen Heimat, hat er jeden Abend im Bett gelegen und gedacht, „gibt es nichts anderes als dieses prekäre Leben?“, bekennt er im Interview mit Denis Scheck in „Druckfrisch“. Der 14jährige träumte sich heraus aus dem Elend und in bessere Möglichkeiten hinein. Damals ist in ihm die Keimzelle für Erzählbares gelegt worden: Saša entwickelte Wunsch-Lebensläufe für sich und seine Familie. Das half ihm herauszukommen aus dem Elend. Außerdem hat er Glück gehabt: Schule, Nachbarschaft, Freundeskreis halfen ihm anzukommen in der neuen Heimat, ohne die ursprüngliche Heimat verleugnen zu müssen. So sagt und sieht Saša Stanišic, Sohn einer bosnischen Mutter und eines serbischen Vaters, die Sache mit der Herkunft und der Ankunft.

 

Mit „Wie der Soldat das Grammofon reparierte“ (2006) begann die schriftstellerische Erfolgsgeschichte des jungen Autors. Im Debütroman verarbeitete er nicht zuletzt und nicht zum letzten Mal die mit seiner Familiengeschichte verbundenen Erfahrungen literarisch. Schon dieser erste Stanišic-Roman begeisterte Kritik und Leserschaft; er wurde in 31 Sprachen übersetzt. Sein zweiter, in einem Dorf namens Fürstenfelde in der Uckermark angesiedelter Roman „Vor dem Fest“ (2014) wurde ebenfalls zum Bestseller. Jeder und Jedes hat in diesem märchenhaften Buch eine unverwechselbare Stimme. Auch im Erzählband „Fallensteller“ ((2016) zeigt sich die sprachliche Brillanz des Autors. In zwölf Erzählungen werden hier immer wieder Überraschungen geboten, Fallen gestellt - und es wird aufgezeigt, welche vielfältigen Fallen die deutsche Sprache hat. Sein bisher letzter Roman „Herkunft“ (2019) ist vielleicht die persönlichste lange Geschichte, die Saša Stanišic uns erzählt hat und für die er mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Zum Glück hat der Sprachzauberer Stanišic uns längst noch nicht alles erzählt und auserzählt, was er zu erzählen weiß…

 

sasa Stanicic Erzaehlungen COVERWie in dem Band „Fallensteller“ sind es auch diesmal zwölf Erzählungen, die aktuell unter dem Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ erschienen sind. Georg Horvath taucht auch hier übrigens wieder auf (wie schon im „Fallensteller“). Diesmal als Vater von Paul in drei Memory-Geschichten und in einer der hintenangestellten Anprobe-Storys. Auch Freund Mo ist wieder dabei. Allen Geschichten vorangestellt ist die Aufforderung des Autors an seine Leser: „Bitte der Reihe nach lesen“. Das macht Sinn, denn die Geschichten bedingen einander, bauen aufeinander auf, ergänzen einander. Die erste Geschichte „Neue Heimat“ ist in den 90er Jahren angesiedelt. Sie erzählt von vier Jugendlichen, die im Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund leben, einem Brennpunktviertel, in dem vor allem Migranten leben. Einer der Jungen, Fatih, hat die Idee eines Probenraumes, in dem die Zukunft für 10 Minuten erlebbar wird. Eine gute Idee aus gutem Grund, denn die Eltern der vier haben entweder einen Kackjob oder gar keinen. Eine andere, bessere Zukunft wäre also wünschenswert.

Keinesfalls sollten wir über die ersten Sätze hinweglesen oder sie zu leichtnehmen.

 

Fangen wir also von vorne an. Die erste Geschichte beginnt so: „An einem heißen Weinbergnachmittag im Juni 1994 warf Fatih einen Stein in die Luft und wir anderen versuchten, seinen Stein mit unseren Steinen zu treffen, und Fatih sagte, „Wartet mal kurz“, und die Steine prasselten zu Boden. „Wie super wäre es“, fuhr er fort, „wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal. Kostenpunkt: hundertdreißig Mark.“

 

Erstaunliche erste Sätze, die im Laufe der Zeit, des Buches wieder auftauchen. Die nun anders erzählte Geschichte „Neue Heimat“ bildet dabei den Schluss. Wie ein Kreis, der sich schließt, sich aber jederzeit wieder öffnen kann – zum richtigen Zeitpunkt, den der Autor bestimmt. Überhaupt ist Zeit hier ein großes Thema, geht es doch um richtige und erfundene Erinnerungen, um Zukunftsmöglichkeiten und verpasste Gelegenheiten. So wie die titelgebende Geschichte einer Witwe die Möglichkeit eröffnet, vier Jahre nach dem Tode des Ehemannes neue Wege zu gehen, eine in die Zukunft weisende Bekanntschaft zu knüpfen mit einem anderen Mann – vorausgesetzt, sie platziert die Gießkanne auf dem Grab mit dem Ausguss nach vorne. „Sich die Zeit vorzustellen und all die Worte, die es brauchte, um einander besser kennenzulernen, zwei Menschen, die so viel mehr Vergangenheit besaßen als Zukunft, so viel mehr alte Geschichten als neue Pläne […]“ Wie anrührend ist dieser Gedanke, wie einfühlsam beobachtet und geschildert der mögliche Anfang einer alten, neuen Liebe.

 

Ebenso berührend erzählt ist die „Traumnovelle“, eine Geschichte über die türkische Reinigungskraft Dilek, deren Mann zurückging in die Heimat, dort ein Haus baut und auf sie wartet. Wir erleben Dilek bei der Arbeit in einem deutschen, wohlsituierten Haushalt. Sie verrichtet ihre Arbeit ernst, träumt dabei allerdings und bekommt daher lange nicht mit, dass die Zeit stehengeblieben ist. Auch deshalb nicht, „weil, seien wir ehrlich: Groß viel Erfahrung mit dem Stehenbleiben von Zeit hast du als Menschheit ja nicht. Wie oft passiert das schon? Auf welche Signale müsste man achten, welche Zeichen, bitte, verstehen? Bloß weil die Vögel auf einmal die Fassung verlieren, glaubt man nicht gleich: Aha, jetzt also ist die Zeit stehengeblieben.“ Dilek, die gerade die Heizung abstaubt mit einer Bürste aus Ziegenhaar - ein Geschenk ihrer Arbeitgeberin, die eben noch deutlich hörbar nebenan auf die Tastatur ihrer Schreibmaschine eingedroschen hat, nun aber verstummt ist. „Je unzufriedener Frau Sehner mit Österreich war, desto härter drosch sie in die Tastatur. […] dieses feststeckende Containerschiff im Suezkanal, die toten Flüchtlinge im Burgenland, Klima, der Weinanbau […]“, schreibt Frau Sehner. Letzteres ist eines ihrer Herzensthemen, das sie daher in ihrem wöchentlichen Newsletter an ihre Freundinnen besonders gerne aufgreift. Warum? Weil sie und ihr Gatte selbst einen Weingarten besitzen! Wieviel Melancholie, Traurigkeit, Schmerz, Tragik stecken in dieser (Lebens)Geschichte, die dringend einen Wandel benötigt. Aber auch wieviel Stärke und Selbstvertrauen. In anderen Geschichten finden wir viel Witz und Humor, auch das erzählt mit wissendem, klugem, zärtlichen Blick auf die handelnden Menschen.

 

Natürlich wird jede und jeder in diesem Buch – das keiner Kategorie zugeordnet ist – seine Lieblingsgeschichte(n) finden. Ich gestehe, als Erstes habe ich die Geschichte über meine Lieblingsinsel Helgoland gelesen. Sie steht mittendrin im Buch. Ich bin also der Bitte des Autors, der Reihe nach zu lesen, nicht gefolgt. Wer weiß, vielleicht ist auch ein derartiges Handeln von Saša Stanišic beabsichtigt, hat er es in denkbare Überlegungen zu möglichem Leseverhalten einbezogen. Zuzutrauen wäre es ihm. Das Besondere an dieser meiner Lieblingsgeschichte über einen Jugendlichen aus Heidelberg auf Helgoland, die einen noch längeren Titel trägt als das Buch selbst, ist der unerwartete Perspektivwechsel, die personelle Erweiterung des Erzählenden. „Die Geschichte beginnt im Inselkrug, Helgolands ältestem Lokal. […] Einen besonderen Grund, den Krug aufzusuchen, gibt der Autor mir nicht.“ Erzählt wird zwar aus der Ich-Perspektive, doch der Autor mischt sich ein, ist ebenfalls anwesend. Einmal ist von „einer verworfenen Version der Geschichte“ die Rede. Oder es heißt: „An dieser Stelle bricht der Text ab. In der Variante, für die sich der Autor entschieden hat…“ Solche literarisch-witzigen Spielchen des Autors sind auch für uns Leser vergnüglich.

 

In „Der Hochsitz“, erfahren wir erstaunt, der Autor war gar nicht auf Helgoland im Sommer 1994. Er ist stattdessen in Heidelberg geblieben, hat die Ferien dort verbracht und heimlich auf dem Hochsitz viele Bücher gelesen, von Heine, Kafka, Fallada. Hilde Domin „kannte der Hochsitz auch schon. Der Hochsitz war seine einsame Insel. […] Ich schrieb. Schrieb auch von meiner Zeit auf Helgoland. Ich glaube, in jenem Sommer auf jenem Hochsitz und auf jener Insel bin ich Schriftsteller geworden. In einem Mischwald in der Kurpfalz – und auf einem Felsen in der Nordsee. […] Fast am Ende des Buches angelangt, dürfen zwei der Hauptpersonen die Anprobe betreten und ihre Zukunft testen. Sie haben die Vergangenheit hinter sich und in sich. Und weil das so ist, heißt es auf einer der letzten Buchseiten zu Recht und wahrhaftig: „Im Weinberg liegen bestimmt noch unsere Steine, in Geschichten schlagen unsere Herzen.“


Saša Stanišic: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“

Luchterhand Literaturverlag, München 2024
Gebunden, 256 Seiten

ISBN 9783630877686
Weitere Informationen und Leseprobe (Verlag)

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