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Für den 8. Dezember 2024 ist die Wiederöffnung der weltberühmten Kathedrale Notre-Dame de Paris – eines der Wahrzeichen der französischen Hauptstadt, geplant.

Nach dem Großbrand vom April 2019 hat die Renovierung der Kathedrale länger gedauert als geplant.

 

Knapp 200 Kilometer südöstlich von Paris liegt die Kleinstadt Troyes an der Seine. Troyes nennt sich Cité du Vitrail (dt.: Stadt der Glasmalerei). Anlässlich der Wiedereröffnung von Notre-Dame de Paris zeigt das dortige Museum Cité du Vitrail eine Reihe von Glasfenstern, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einmal für den Sakralbau in Paris vorgesehen waren.

 

Im Jahre 1935 nämlich schlugen zwölf Pariser Glasmalkünstler eine Modernisierung einer Reihe von farbigen Glasfenstern von Notre-Dame vor.

 

Der Vorschlag war nicht ungewöhnlich, denn ab dem 18. Jahrhundert wurden mehrere Umbauten und Veränderungen an Notre-Dame vorgenommen.

Bis heute wurde der mittelalterliche, gotische Kirchenbau, der nach 200-jähriger Bauzeit im 14. Jahrhundert sein heutiges Ausstehen erhielt, mehrmals restauriert.

1728 – in der Frühzeit der französischen Aufklärung wurden die frühgotischen Buntglasfenster durch Weißglasfenster ersetzt, um den Kirchenraum deutlich zu erhellen.

 

1844 entschied eine Kommission und das Domkapitel, Notre-Dame wieder vollständig mit Buntglasfenstern zu bestücken. Zwischen 1855 und 1865 planten die Architekten Eugène Viollet-le-Duc (1814–1879) – der die Leitung innehatte – sowie Jean-Baptiste Lassus (1807–1857) neue Glasfenster anfertigen zu lassen, die die mittelalterlichen Traditionen so weit wie möglich respektieren sollten. Der Auftrag bestand aus tonnenschweren, großfigurigen Glasfenstern für die hohen Choröffnungen, legendäre Glasfenster für einige Kapelle und einige Grisaille-Glasfenster für den Rest des Gebäudes.

 

Édouard Baldus Notre Dame Paris 1991.35 Cleveland Museum of Art

Édouard Baldus (1813–1889): Notre Dame, Paris, 1852 mit neuen Fenstern an der Chorempore. Sammlung des Cleveland Museum of Art, Edwin R. and Harriet Pelton Perkins Memorial Fund

 

Die Architekten beauftragten sieben der besten Glasmaler jener Zeit, von denen einige, wie Charles Laurent Maréchal, genannt Maréchal de Metz (1801­–1887), Eugène Oudinot (1827–1889) und Louis Charles Auguste Steinheil (1814–1885), Meister ihrer Kunst waren und zu den Pionieren der Wiederentdeckung einer hermeneutischen historischen Glasmalerei gehörten.

 

Lassus und Viollet-le-Duc stützten sich bei der Gestaltung der neuen Glasfenster auf Schriften, die sich auf die verschwundenen Glasfenster bezogen, und fanden ihre Inspiration in den Aufzeichnungen der erhaltenen alten Fragmente sowie in den Glasfenstern anderer Gebäude wie der Sainte-Chapelle oder der Kathedrale von Chartres.

 

Das Geschick der Architekten bestand darin, nebeneinander Werke der sieben verschiedenen Künstler, ohne jedwede Disharmonie zu platzieren.

 

Auf historischer, künstlerischer und ästhetischer Ebene galt sowohl der Ausbau der Buntfenster im 18. Jahrhundert als auch die erneute Überarbeitung im 19. Jahrhundert als wenig befriedigend und wurde später kritisiert. Das ebnete einem neuen Eingreifen den Weg.

 

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1935 dann der Vorschlag die Grisaille-Glasfenster des 19. Jahrhunderts durch moderne Schöpfungen der Künstler Louis Barillet, Valentine Reyre, Jean Hebert-Stevens, Jean Hebert-Stevens, André Rinuy, Pierre Louzier, J.J.K. Ray, Louis Mazetier, Jean Gaudin, Max Ingrand, Jacques Gruber und Jacques Le Chevallier zu ersetzen. Es bildeten sich zwei unversöhnliche Lager: das der Befürworter einer Erneuerung der sakralen Kunst durch die Moderne und den Gegnern, die die Erhaltung der traditionellen Kirchenfenster und des Kulturerbes der Kathedrale postulierten.

 

Das künstlerische Projekt wurde niemals umgesetzt – es gab lediglich kurzzeitige Probeeinbauten.

 

Die Heftigkeit des Streits über das Einbauen von zeitgenössischen Kunstwerken in ein altes und höchst symbolträchtiges Gebäude ist heute vergleichbar mit den leidenschaftlichen Diskussionen über die aktuelle Restaurierung von Notre-Dame infolge des Brandes 2019.

 

Vom 22. Juni 2024 bis 5. Januar 2025, fast 90 Jahre nach Beginn dieses Streits, und erstmals seit dem Ausbau der Glasfenster, zeigt die Cité du Vitrail diese Werke in der Kapelle und den Nebenräumen des Hôtel-Dieu-le-Comte in Troyes im Rahmen einer außergewöhnlichen Ausstellung.

Die Exposition in Troyes fängt mit Viollet-le-Ducs Eingreifen um 1855 an. Neben etwa fünfzehn Glasmalereien (Lanzett- und Rosenfenster), die zum ersten Mal seit ihrem Probeeinbau im Jahre 1937 und Ausbau 1939 ausgestellt werden, veranschaulichen nicht nur ungefähr zwanzig Entwürfe und Skizzen, sondern auch Gemälde und zahlreiche Archivalien (Pläne, Fotografien, Presseartikel usw.).

 

sainte genevieve detail visage jacques le chevallier 1937 archives departementales de l aube

Restauriertes Glasfenster von Jacques Le Chevallier. Rechts: Detail des Gesichts von Sainte-Geneviève, 1937. © Archives départementales de l'Aube

 

Die Ausstellung schildert den Grundsatzstreit, der von 1935 bis 1965 dauerte und von Höhepunkten, Unterbrechungen und Umschwüngen geprägt war.

Die Fragestellungen der damaligen, wie heutigen Debatten sind kulturell überaus wichtig: Darf und kann man moderne Kunstwerke in historische Bauwerke und Denkmäler einfügen? Ist jedes zeitgenössische künstlerische Schaffen dazu geeignet? Und wenn ja, wie?

Selbstredend gelten diese Fragen nach Werk- und Epochentreue, Intension und Transformation auch für andere kulturelle Genres: Architektur, Musik, Instrumentenbau, Theateraufführungen etc.

 

Die Querelen mobilisierten nicht nur Kulturakteure, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Einige der Kisten, in denen Glasfenster aus den 1930er Jahren lagerten, wurden zwischen 2015 und 2018 auf dem Dachboden von Notre-Dame von Julien Bourdeau, Konservator und Chefarchäologe des Departements Vendée, entdeckt und später einige dort restauriert. Die umfassende Restaurierung der Glasmalereien, die in Absprache mit Privatsammlern und der „Direction régionale des affaires culturelles“ (DRAC) Ile-de-France (Regionale Direktion für kulturelle Angelegenheiten) durchgeführt wurde, wird in der Ausstellung im Ergebnis präsentiert.

 

Die Besucher können sich ab 22. Juni selbst einen Eindruck der Glasmalereien sowie der viele Archivalien des Streits machen, die die Kulturszene und die breite Öffentlichkeit in Atem hielt.


Notre-Dame de Paris: la querelle des vitraux (1935-1965) | Notre-Dame de Paris: Der Streit um die Glasmalereien (1935-1965)

Zu sehen vom 22. Juni 2024 bis 5. Januar 2025 in der Cité du Vitrail, Hôtel-Dieu-le-Comte, 31 Quai des Comtes de Champagne 10000 Troyes/Frankreich

Weitere Informationen (Museum, fr.)

 

Generalkuratoren: Anne-Claire GARBE, Kuratorin der Cité du Vitrail Nicolas DOHRMANN, Kurator, Direktor des Archivs und für Kulturerbe, Département de l’Aube. Wissenschaftliche Kuratoren: Marie-Hélène DIDIER, Kuratorin, Conservation régionale des Monuments historiques Île-de-France

Julia BOYON, wissenschaftliche Assistentin, Cité du Vitrail

 

L’INA-Video

Nouveaux vitraux à Notre-Dame. Beitrag im Journal de Paris vom 03.03.1965 (04:12 Min.)

Auf der Restaurierungsbaustelle. Probeeinbau von zwölf Glasfenstern in Notre-Dame de Paris. Im Interview: Glasermeister Jacques Le Chevallier, der für das Projekt verantwortlich ist. Besuch der Baustelle und der Werkstatt. Beschreibung des Projekts, der Schwierigkeiten und der verwendeten Technik.

 

YouTube-Video:

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Les vitraux de Notre-Dame restaurés à Troyes (4:59 Min. fr.) Jean-Louis Georgelin, Leiter der Baustelle von Notre-Dame de Paris erläutert in Troyes die Restaurierungsarbeiten, 23. Juni 2023. Reportage: Mattéo Clochard, L‘Est éclair

 
 Letzte Textänderung: 18.6.2024, 16:30h

 

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