Das Museum für Kultur und Identität der litauischen Juden, auch kurz als „Litvak Museum“ bekannt, wurde am 18. Januar 2024 in Litauens Hauptstadt Vilnius eröffnet. Die neue Einrichtung würdigt das reiche historische und kulturelle Erbe der „Lita’im“, Litvaks oder Litwaken und ihren Einfluss auf die moderne globale Gesellschaft.
„Lita‘im“[1] sind jene Juden, die ihre Wurzeln auf dem Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen haben.
Die jüdische Kultur ist seit Jahrhunderten[2] untrennbar mit dem litauischen Leben verbunden. Vom weithin bekannten gastronomischen Erbe wie dem Bagel bis hin zu herausragenden Wissenschaftlern, Künstlern, Komponisten und Musikern haben die Litwaken – eine eigenständige ethnokulturelle Gruppe – auf der ganzen Welt Einfluss genommen.
In Vilnius sind die Spuren des litauisch-jüdischen Erbes in den Straßen der Stadt teilweise erhalten geblieben, auch wenn vieles durch die Grauen des 20. Jahrhunderts zerstört wurde. 90% der jüdischen Bevölkerung Litauens wurde zwischen 1941–1944 ermordet, etwa 215.000 Menschen[3]. Erst seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion, 1990 wird die litauische Kollaboration und das jüdische Erbe aufgearbeitet.
2020 feierte die Stadt das Jahr des „Vilna Gaon“[4] und lud Einwohner und Besucher ein, die Hintergründe, Traditionen und Viertel der litauisch-jüdischen Geschichte auf speziellen Routen zu erkunden.
Lina Šlipavičiūtė-Černiauskienė: „The Walls Remember“. Wandmalerei im sogenannten Glasviertel von Vilnius. Foto: Monika Krilaviciene
Litvak Museum
Zu Ehren des jüdischen Erbes wurde Anfang des Jahres 2024 in Vilnius das „Museum für Kultur und Identität der litauischen Juden“, auch bekannt als „Litvak Museum“, eröffnet. Die Einrichtung befindet sich im ehemaligen und restaurierten Gebäude des Hebräischen Gymnasiums Tarbut in der Pylimo Straße und ist die größte Zweigstelle des „Vilna Gaon Museums für jüdische Geschichte“. Als einziges Museum seiner Art im Land bietet es auf vier Stockwerken einen umfassenden Überblick über die Geschichte, die Kultur und die Bräuche der litauischen Juden sowie über die Aspekte ihres täglichen Lebens.
Ein Teil der Ausstellung zeigt die linguistischen Verbindungen zwischen Litauern und Juden auf. Im Museum ist eine Abteilung den Sprachen gewidmet, wie das moderne Hebräisch, Jiddisch[5] und Esperanto[6] in den Regionen des Landes verwurzelt sind, in denen Litvaks lebten und arbeiteten.
Einzigartige sakrale Gegenstände aus der Großen Synagoge von Vilnius sind ausgestellt: Kiddusch-Becher, Rimonim – granatapfelhafte Aufsätze der Torah-Rolle, Jads – Torah-Zeiger in Handform zum Lesen der Zeilen. Nach Jahren von Ausgrabungen wurden die Reste sakraler Fragmente entdeckt: Gedenktafeln, Synagogensäulen und -fenster.
Im Judaica-Saal werden die berühmtesten Kantoren des Judentums Litauens vorgestellt, deren Stimmen sowohl in der Großen Synagoge von Vilnius als auch im Ausland zu hören waren.
Ein separater Ausstellungsraum ist den Schtetln gewidmet – Orte, deren Einwohner vor dem Zweiten Weltkrieg ein sehr hoher jüdischer Anteil ausmachte. „Das Leben in einem Schtetl war ein eigener Mikrokosmos. Die kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Juden und Litauern sowie zwischen den Juden selbst waren sehr heterogen", so Historiker Dr. Aivaras Poška, Leiter des Ausstellungs-Departments des Museums. Eine spezielle Kartei ermöglicht es den Besuchern, sich mit der Geschichte der historischen Schtetl, den Synagogen und den wichtigsten Persönlichkeiten vertraut zu machen.
Im obersten Stockwerk des Gebäudes befindet sich das Museum, das sich dem Werk Rafael Chwoles (1913–2002) widmet, einem berühmten jüdischen Künstler des 20. Jahrhunderts. Er stammte aus Vilnius, floh während des Zweiten Weltkriegs nach Russland, kehre im Sommer 1944 zurück, zog 1959 zunächst nach Warschau, dann nach Paris, wo er fast 90-jährig verstarb. Er hinterließ fast 3.500 Gemälde und 8.000 Zeichnungen. Chwoles beschäftigte sich künstlerisch insbesondere mit dem städtischen Leben und malte viele Portraits – farbenfroh, expressiv und zumeist klein- und mittelformatig.
Rafael Chwoles: Ostra Brama (Tor der Morgenröte), Vilnius, 1955, Öl auf Leinwand, 38x48cm. Privatsammlung
„Das Museum ist eine Hommage an den Beitrag der Litauer zur lokalen und globalen Kultur und beleuchtet ihre historischen Bestrebungen. Durch die immersive Gestaltung von 17 Ausstellungsabteilungen sind die Besucher eingeladen, verschiedene Aspekte des Lebens der Juden in Litauen im Laufe der vielen Jahrhunderte zu entdecken, wie ihre Geschichte, ihr askenasisches Judentum, ihre Sprache, ihre Literatur, ihre Musik und ihr Theater, und sie lernen Geschichten kennen, die von Litvaks selbst erzählt werden.
Gleichzeitig lenkt die Eröffnung eines Museums dieser Größenordnung die Aufmerksamkeit auf das jüngere Erbe der Litwaken, die ins Ausland ausgewandert sind, und auf ihren langanhaltenden Einfluss auf die globalen Gemeinschaften", so Dr. Simonas Strelcovas, Leiter des Vilna Gaon Museums für jüdische Geschichte.
„Dieses neue jüdische Museum“, führt er weiter aus, „erzählt eine ganz andere Geschichte, nicht primär die der Shoa, sondern eine die kaum in den Lehrbüchern steht: Es sind Kultur, Tradition, Religion, Schrift, Sprachen, Küche, Spiele, Bräuche, berühmte Persönlichkeiten, auf die wir in Litauen und darüber hinaus stolz sein können. Wir hoffen, dass es im Museum viele Veranstaltungen, interessante Gespräche, Diskussionen, Besichtigungen, Anhörungen geben wird. Ich glaube, dass sich das Museum auf schöne und bedeutungsvolle Weise in den Kulturraum von Vilnius und landesweit einfügen wird.“
Ausstellungsansicht. Foto: Go Vilnius
Weltweite Anerkennung des Einflusses der Litwaken
Zahlreiche Litvaks haben im Laufe der Zeit die örtliche wie internationale Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsszene geprägt.
Der aus Vilnius stammende Schriftsteller Romain Gary (1914–1980) machte sich in den literarischen Kreisen Frankreichs einen Namen und wurde als einziger Schriftsteller zweimal mit dem renommierten Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet.
Der jüdische Wissenschaftler Aaron Klug (1926–2018), der seine Kindheit in der Region Vilnius verbrachte, erhielt später den Nobelpreis für Chemie.
Leonard Cohen (1934–2016), ein jüdisch-kanadischer Künstler mit litauischen Wurzeln, war ein bedeutender Schriftsteller, und Singer-Songwriter des 20. Jahrhunderts.
Vilnius hat das Andenken an den Künstler in einer Skulptur von Romualdas Kvintas (1953–2018) und Martynas Gaubas (*1980) in der Altstadt verewigt. Foto: Go Vilnius
Der in Litauen geborene französisch-amerikanische Bildhauer Jaques Lipschitz (1891–1973) – eigentlich Chaim Jakoff Lipschitz – war einer der wichtigsten kubistischen Bildhauer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der in Frankreich, den USA und in Italien lebte. In Vilnius ist ihm ein Erinnerungsmuseum gewidmet, das zurzeit allerdings renoviert wird. Seine Werke finden sich außerdem in den wichtigsten Sammlungen und Museen sowie im öffentlichen Raum.
„Ich bin ein Bildhauer aus Litauen", pflegte Lipchitz bei Ausstellungseröffnungen in den berühmtesten Museen und Galerien der Welt zu sagen, obwohl Litauen damals auf der Weltkarte nur als sowjetische Teilrepublik verzeichnet war. Der Bildhauer kümmerte sich heimatverbunden um die im Ausland lebenden litauischen Künstler. In seiner Korrespondenz mit dem Bildhauer Vladas Vildžiūnas (1932–2013) und dem Musikwissenschaftler und ersten Staatspräsidenten nach der Unabhängigkeit Litauens, Vytautas Landsbergis (*1932), zeigte er konstantes Interesse am kulturellen Leben Litauens, stellte die symbolistischen Kunstwerke von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875–1911)[7], einem breiten Publikum im Westen vor. Čiurlionis stammte wie Lipschitz aus dem Kurort Druskininkai an der Memel – gelegen im äußersten Süden Litauens. Das Lipschitz-Grab findet sich in Jerusalem.
Philip Glass (*1937), ein begnadeter Minimal-Komponist, der als Sohn jüdischer Emigranten aus Litauen in Baltimore geboren wurde, hat Opern, Kammermusikkompositionen und viele andere musikalische Werke sowie Filmmusiken geschaffen, von denen die Soundtracks zu The Truman Show, Cassandra’s Dream, Kundun und Dracula die bekanntesten sind.
Nicht nur berühmte litauische Künstler haben ein dauerhaftes Vermächtnis auf globaler Ebene hinterlassen, sondern das jüdische kulinarische Erbe hat auch den Geschmack auf der ganzen Welt bereichert. So stammt der Bagel[8], der stark mit der jüdischen Kultur assoziiert wird, ursprünglich wohl aus der Region Vilnius, obwohl er vor allem von New Yorkern verbreitet wurde. Auch der gebackene Kartoffelauflauf Kugel[9], ein Grundnahrungsmittel in litauischen Haushalten, geht auf die jüdische Küche zurück, da es sich um ein traditionelles Festtagsgericht zum Schabbat oder an Chanukka handelt.
Museum für Kultur und Identität der litauischen Juden
Valstybinis Vilniaus Gaono Žydų Muziejus, (LŽKTM – dt.: Staatliches Jüdisches Museum Gaon von Vilnius oder Jüdisches Gaon-von-Vilnius-Museum)
Pylimo gatvę 4A, im ehemaligen Gebäude des Hebräischen Gymnasiums „Tarburt“, Vilnius/Litauen.
- Weitere Informationen (Museum; engl.)
- Weitere Informationen (Litvaks World)
[1] Der Begriff wird manchmal verwendet, um alle orthodoxen Charedi-Juden zu bezeichnen, die unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft einem aschkenasischen, nicht-chassidischen Lebens- und Lernstil folgen.
[2] Das Jahr 1128 verzeichnet die ersten jüdischen Familien in Litauen. Nennenswerte jüdische Migration von West nach Ost und besonders nach Litauen begann nach den Pestprogromen der Jahre 1349/50. Bereits 1388 erhielten die Juden von Wilma Privilegrechte und die jüdischen Gemeinden erhielten weitgehende Autonomie.
[3] Quelle: Benz, Marion Neiss: Judenmord in Litauen. Studien und Dokumente. Berlin 1999, S. 15.
[4] Gaon (wörtlich: Herrlichkeit, Weisheit) Der Höhepunkt des Judentums in Litauen war das Wirken des Gelehrten Elijah Ben Solomon Zalman (1720–1797), bekannt als Gaon fun Wilne (der Weise von Wilna). Ursprünglich ist der Titel der als Talmudinterpreten bekannten Oberhäupter der jüdischen Akademien in Babylonien im siebten bis elften Jahrhundert.
[5] Ähnlich wie im Deutschen sind viele Jiddische Wörter in den allgemeinen Sprachgebrauch des Litauischen eingegangen und finden bis heute Verwendung.
[6] Ludvikas (Ludwik Lejzer) Zamenhof (1859-1917) war der Schöpfer der Esperanto-Sprache. Mit dem Esperanto wurde der Versuch unternommen, eine gemeinsame Weltsprache zu etablieren.
[7] Weitere Informationen (https://www.kultur-port.de/reisen/10775-litauen-ein-land-der-ausdauernden-symbole.html)
[8] Die im Jahr 1610 erstmals in jüdischen Quellen in Krakau belegten Bagel entstanden vermutlich in der Region Litauen/Polen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie von osteuropäischen jüdischen Einwanderern in Nordamerika eingeführt.
[9] Der Kigel, jiddisch קוגל wurde zum litauischen Nationalgericht und heißt dort: Kugelis.
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