Zum dreihundertsten Mal jährt sich am 22. April der Geburtstag Immanuel Kants, des sicherlich bedeutendsten Philosophen der Neuzeit, und schon zuvor bietet sein Todestag am 12. Februar uns die Gelegenheit zu einer Beschäftigung mit seinem Werk.
Philosophische Fachverlage wie der Kostermann-Verlag legen angesichts dieser Jubiläen ältere Werke auf, und schon seit dem Herbst zeigt die Bundeskunsthalle in Bonn eine Ausstellung, die „das Werk Immanuel Kants einem philosophisch nicht vorgebildeten, explizit auch jungen Publikum mittels innovativer, leicht zugänglicher Vermittlungsformate nahebringen“ möchte, wie es in der Beschreibung heißt.
Und natürlich wird es anlässlich einer solchen Gelegenheit auch zahlreiche Neuerscheinungen geben, die sich an eine breitere Öffentlichkeit richten. Im Herbst ist das Werk des Frankfurter Philosophen Marcus Willaschek erschienen, eines ausgewiesenen Kenners der Kantischen Philosophie, der vor Jahren mit anderen Autoren einen sehr nützlichen Kommentar zur „Kritik der reinen Vernunft“ und später zusammen mit Georg Mohr ein gigantisches „Kant-Lexikon“ herausgegeben hat. Sein Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“ will den ganzen Kant und damit auch den „vorkritischen“ Kant darstellen, also den Denker, bevor dieser 1781 die erste Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ erscheinen ließ.
Willaschek stellt nicht allein das philosophische Werk Kants vor, sondern kommt auch ausführlich auf sein Leben zu sprechen, das tatsächlich viel interessanter gewesen ist, als viele denken. Sein ganzes Leben hat Kant wohl wirklich in Königsberg verbracht, aber in diesem Leben ist er vielen bedeutenden Menschen begegnet und hat sich selbst vom „eleganten Magister“ zu dem Mittelpunkt eines geselligen Mittagstischs entwickelt, an dem der deutschlandweit bekannte Professor und Schriftsteller zahlreiche Freunde und Gesprächspartner empfing. Auch kommt der Autor ausführlich auf die sensationell vielseitige Vorlesungstätigkeit Kants zu sprechen, denn der große Denker las auch über Geographie, Anthropologie oder Ethnologie oder verfasste naturwissenschaftliche Schriften. Es muss sich also um ein buntes Kompendium handeln, so bunt, interessant und vielfarbig wie das Werk des großen Denkers.
Willaschek ist ein fähiger Autor, der Kant nicht versimpelt, sondern ihn mit einfachen Worten sehr gut erklären kann. Dazu spart er nicht mit Kritik – ganz offensichtlich ist er ein Bewunderer, aber keiner ohne einen kritischen Abstand, und deshalb werden allerlei Vorwürfe gegen Kant sachlich vorgestellt und unaufgeregt diskutiert. Unter anderem geht es um die Frage, ob Kant gelegentlich rassistisch argumentierte. Allerdings, in die Tiefe geht Willascheks Buch kaum – es richtet sich weniger an Studenten oder andere Leser, die schon gute Grundkenntnisse mitbringen und an Anregungen aller Art interessiert sein müssen. Der Leser, der Autor und Verlag vor Augen gestanden haben muss, möchte wissen, worum es Kant gegangen ist und worin seine Leistungen bestanden haben. Und damit ist es dann auch gut.
Willascheks Buch gewährt interessante kulturgeschichtliche Einblicke, insbesondere in das Universitätsleben der damaligen Zeit, das ganz anders organisiert war als das heutige. Zum Beispiel hielten die Professoren ihre Vorlesungen – sie lebten vor allem von den Kolleggeldern, die die Studenten zahlen mussten – in ihren eigenen Räumlichkeiten ab. Willaschek gebührt Anerkennung für eine lebhafte und anschauliche Schilderung der Königsberger Verhältnisse sowie der Lebensumstände Kants – bis hin zu seinem Tod.
Das Leben Immanuel Kants schildert auch Volker Gerhardt, aber diesem Autor kommt es mehr auf den prinzipiellen, den „systematischen Zusammenhang von Vernunft und Leben“ an. „Die philosophische Erkenntnis“, schreibt er, „hat einen personalen Kern, der unverzichtbar ist.“ Wirklich wird das sehr oft vergessen – insbesondere bei der Behandlung älterer Philosophen –, und die Betonung dieser Zusammenhänge, für die Gerhardt auch sonst bekannt ist, hebt sein Buch von vornherein heraus aus der unüberschaubaren Kant-Literatur.
Allerdings muss es ungewöhnlich sein, dass der Autor eine existentielle Ausrichtung bereits Kant zuspricht, nicht erst späteren Philosophen des 19. Jahrhunderts. Für andere Historiker der Philosophie ist Sören Kierkegaard der erste, dem eine solche Haltung zugesprochen wird; manche suchen sie auch im Spätwerk Schellings. Aber schon in frühen Werken Kants oder in den Ankündigungen seiner Vorlesungen meint Gerhardt Belege für diese These zu finden, zunächst einmal in dem selbstbewussten Personalpronomen „Ich“, dann aber auch an seiner Argumentation.
Gerhardt wirft ein ganz anderes Licht auf die Philosophie Kants als die meisten seiner Kollegen, die in aller Regel das Nüchterne, an der Physik Isaac Newtons orientierte Denken Kants darstellen und es schon deshalb kritisch betrachten oder sogar ablehnen. Tatsächlich aber war Kant, was auch Willaschek betont, ganz und gar kein staubtrockener Logiker: Wie falsch dieses Bild von Kant ist, das wird in den letzten Jahren häufiger herausgearbeitet. Sarkastisch schreibt Manfred Sommer (es war sichtlich nicht seine eigene Meinung): „Als ob es darum ginge, ‚rigoros‘ nun Leiblichkeit und Sinnlichkeit zu ‚verdrängen‘, ‚maskulin‘ gegen alles Sanfte und Zarte ‚sich zu verpanzern‘ und ‚rigide‘ alle Empfänglichkeit und Empfindsamkeit zu ‚unterdrücken‘.“ So sah man früher Kant, aber diese Sicht ist sehr falsch.
Kants Schüler Johann Gottfried Herder oder der Königsberger Autor Johann Georg Hamann waren die ersten, die in der Vernunftkritik die Darstellung der sinnlichen Seite vermissten. Auf ihre Einwände berufen sich bis heute zahlreiche Kritiker Kants. Aber Gerhardt schätzt Kritik an Kant nicht und lässt Einwände generell nicht gelten. Wir sprachen schon davon, dass nach Gerhardt Kant auf „dem Weg zu einer Philosophie des Lebens“ gewesen ist, die es doch tatsächlich erst viele, viele Jahre nach seinem Ableben geben sollte und die sich lange durchaus im Widerstand zu seiner einseitig ausgelegten Philosophie formierte. Seine These versucht Gerhardt bereits an dem frühen Aufsatz „Wahre Schätzung der lebendigen Kräfte“ zu belegen, einer Arbeit, die in aller Regel als ein Misserfolg angesehen wird, weil Kants Lösung eines physikalischen Problems sich als schlicht falsch erwies. Außerdem stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seit drei Jahren die richtige Lösung bereit: Das war auch schon damals peinlich.
Das für Kant typische, in diesem Aufsatz erstmals angedeutete Verfahren sieht Gerhardt darin, dass er „einen bereits physikalisch fassbaren Unterschied zwischen (‚von außen‘ erfahrbaren) ‚toten‘ und der (nur ‚von innen‘ her) zu begreifenden ‚lebendigen‘ Natur“) zu finden versuchte. Seine reife Philosophie ist ja von dem Gegensatz zweier Welten, derjenigen der Notwendigkeit und der der Freiheit, geprägt.
Links: Titelblatt der ersten Auflage der Critik der reinen Vernunft, Riga 1781. Rechts: Johann Gottlieb Becker (1720-1782): Portrait Immanuel Kant, 1768, Öl auf Leinwand. Schiller-Nationalmuseum, Marbach/Neckar. Gemeinfrei
In der Darstellung Gerhardts nimmt Kant das ganze Leben in den Blick – eine etwas steile These, der viele widersprechen werden, auch wenn Kant nicht mehr als der Stiesel gelten kann, als den ihn Sommer oben ansprach. Selbstverständlich hat er immer die Bedeutung der Wahrnehmung für die Erkenntnis betont („Begriffe ohne Anschauung sind leer“), aber er hat niemals den Leib in seine Überlegungen mit einbezogen. Wahrscheinlich konnte ein Philosoph des 18. Jahrhunderts das noch gar nicht leisten, und es sollte ja deshalb auch erst viel später geschehen.
Zu diesem Thema gibt Gerhardt zu, dass Kant „kein Wort über die leiblichen Bedingungen der sinnlichen Anschauung“ verliert. Aber? Vermutlich, „weil sie offenkundig sind.“ Das ist nun aber wirklich ein sehr schwaches Argument! Ein klassisches argumentum e silentio. Und: Wenn das wahr sein sollte, dann wäre immer noch die Frage nach den Unterschieden zwischen den Sinnen zu stellen, denn Gehör, Tastsinn oder das Gesicht dürfen keinesfalls über einen Kamm geschoren werden. Von Kant gibt es die gut dokumentierten anthropologischen Vorlesungen, die von Willaschek wie von Gerhardt gleichermaßen gewürdigt werden und in denen Kant sehr leicht auf die Bedeutung des Leibes hätte eingehen können. Aber er hat es nicht getan. Erst in seinem Nachlass finden sich einige Bemerkungen über das Sehen und das Hören.
Unabhängig von diesen Einwänden: Gerhardts Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen. Es stellt in einer sehr gut lesbaren Form den ganzen Kant vor – die Schlusskapitel sind den Notizen Kants zu einem letzten, leider nicht einmal in Ansätzen vollendeten Werk gewidmet, dem „Opus postumum“ –, und aus jeder Zeile spricht eine intime Kenntnis des gewaltigen Gesamtwerks und ein wirkliches Verständnis seiner oft verwickelten Gedankengänge. Das Wichtigste aber scheint mir sein sehr eigener Blick auf die Werke Immanuel Kants, denn Gerhardt liest ihn anders als jeder andere Philosoph, und er trägt seine Deutung mit großer Energie und Überzeugung vor. So ist die Lektüre in jedem Fall bereichernd – auch oder vielleicht sogar gerade dann, wenn man nicht allem zustimmen mag. (Für den 20. März hat der Verlag eine überarbeitete Neuauflage des Büchleins angekündigt; dieser Besprechung liegt noch die alte Fassung zugrunde.)
Wie gelungen und wie individuell Gerhardts Blick auf die Philosophie Kants ist, das zeigt ein Vergleich mit dem Buch seines Lehrers Friedrich Kaulbach – ein Klassiker, 1969 erstmals in der Sammlung Göschen erschienen und bis heute im Buchhandel. Kaulbach, der ein großer Kantforscher war, geht viel konventioneller vor, wenn er das Werk Kants geduldig durchbuchstabiert. Er, der sonst einen gelegentlich merkwürdigen Sprachstil pflegte, schreibt hier viel trockener als in manchen anderer seiner Werke. Diese Stelle bezieht sich auf den Nachlass und das, was wir dort über den Leib finden: „Das Subjekt wird als Leib innere, apriorische Erscheinung. […] Der Leib als apriorisches System ist subjektive Welt, die als objektive Welt bzw. System der Natur ausgelegt wird.“ Das ist schon (noch…) eine andere Sicht als diejenige Gerhardts.
Merkwürdigerweise bietet Willascheks Buch, das sich doch an eine ganz andere, an eine Leserschaft fern der Universität richtet, mehr Literaturhinweise als das Bändchen Gerhardts, das mit Anmerkungen aller Art ziemlich knappst. Auch Willascheks Buch ist sehr gut, also sowohl kenntnisreich als auch sehr gut geschrieben, reicht aber nur für eine erste Begegnung mit dem Werk Kants.
Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens
C.H. Beck 2023
430 Seiten
ISBN: 978-3406807435
Weitere Informationen (Verlag)
Leseprobe (PDF)
Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn
Immanuel Kant und die offenen Fragen
Zu sehen bis 17. März 2024 in der Bundeskunsthalle, Helmut-Kohl-Allee 4, in 53113 Bonn.
Weitere Informationen (Bundeskunsthalle)
Weitere erwähnte Publikationen:
Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Balcin (Herausgeber): Kant-Lexikon.
De Gruyter 2021
2894 Seiten
978-3110762433
Georg Mohr, Marcus Willaschek (Herausgeber): Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.
De Gruyter, 2., überarbeitete Aufgabe 2024
553 Seiten
978-3110610451
Volker Gerhardt: Immanuel Kant – Vernunft und Leben.
Reclams Universalbibliothek 2024
420 Seiten
978-3150142288
Friedrich Kaulbach: Immanuel Kant,
De Gruyter, 2. Auflage 1983
356 Seiten
978-3110089905
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