Kultur, Geschichte & Management

Mit der zunehmenden Digitalisierung von Alltag und Arbeitswelt verschwimmen die Grenzen zwischen analogen und virtuellen Lebensräumen. Technologische Entwicklungen wie das Metaverse lassen die Grenzen zwischen analogem und virtuellem Erleben noch durchlässiger erscheinen.

 

Welche Chancen und Gefahren birgt diese Entwicklung – politisch, sozial und individuell? Unter dem Titel „Merging Realities: Leben im Hier und Netz” veranstaltete die Kreativgesellschaft Hamburg am 1. Oktober 2022 im Oberhafen-Quartier ihren alljährlichen Kongress, der diese Frage diskutieren und damit letztlich auch ihre eigene Arbeit reflektieren sollte.

 

Ursprünglich wurde die Kreativgesellschaft im Jahre 2010 von der Hansestadt Hamburg gegründet, um kostengünstige Flächen für Kreative zu akquirieren und diese Solo-Selbständigen und Klein-Unternehmen zu unterstützen, für ihre Produkte wie Musik, Design, Filme, Games etc. einen besseren Marktzugang zu finden. Das tut sie, indem sie z.B. auf Workshops betriebswirtschaftliches Knowhow vermittelt, Messeauftritte sponsert und in allen Fragen berät. Mittlerweile hat die Kreativgesellschaft zusätzlich die Aufgabe übernommen, Kreative und Traditionsfirmen zusammenzubringen, um die Digitalisierung der Wirtschaft zu forcieren, weil Deutschland da hinterherhinkt. D.h. Startups denken gemeinsam mit eingesessenen Wirtschaftsunternehmen über deren Probleme nach. In der Regel erarbeiten sie dabei Lösungen, die mit dem Einsatz digitaler Technologie Produktionsabläufe und Dienstleistungen verbessern.

 

Wie verändert sich Gesellschaft durch die digitalen Entwicklungen und: wollen wir das überhaupt? Das fragte Egbert Rühl, Geschäftsführer der Kreativgesellschaft, zu Beginn des Kongresses und stellte fest, dass die aktuellen politischen Entwicklungen von Krieg und Energiekrise den Optimismus des Vorjahr-Kongresses gekippt haben. Allein schon angesichts der Tatsache, dass die Verwaltung gewaltiger Datenmengen in den sogenannten Clouds – was nichts anderes sind als große Serveranlagen – ebenso gewaltige Energiemengen verbraucht.

Trotzdem sprach Rühl die Hoffnung aus, dass der aktuelle Kongress Anregungen liefert, wie man gesellschaftliche Dystopien zwar denken, aber vielleicht verhindern kann. Einige Hinweise gab es dann im späteren Verlauf tatsächlich, z.B. dass Europa weiterhin auf der politischen Ebene die rechtlichen und administrativen Voraussetzungen schaffen sollte, um Nutzerdaten zu schützen, und die digitalen Plattformen nicht den großen Tech-Konzernen überlassen darf, sondern eigene europäische entwickeln muss. Deutlich wurde aber auch, dass es schwierig ist, den Vorsprung der USA aufzuholen.

 

Moderator Wolfgang Wopperer-Beholz, der souverän durch die dichte Abfolge von Keynotes und Paneels – also Vorträge und Podiumsdiskussionen – führte, formulierte ebenfalls gleich zu Beginn, dass technologische Entwicklungen wie das Metaverse unser Realitätsprinzip in Frage stellen, d.h. unsere Wahrnehmung des Sehens.

 

Mind the Progress 01 F Jan Marius Komorek Hamburg Kreativ GesellschaftModerator Wolfgang Wopperer-Beholz. Foto: Jan-Marius Komorek/Hamburg Kreativ Gesellschaft

 

Das konnte ich in einem separaten Ausstellungsraum gleich praktisch selbst erleben. Mithilfe einer VR-Brille besuchte ich die interaktive Installation „Neura futures“. In einem virtuellen Raum locker verteilt sah ich meist weiblich anmutende Figuren auf Podesten, fantasievolle ornamental-dekorative gestaltete Avatare, die sich bewegten, z.B. tanzten oder sich teilten, um wieder miteinander zu verschmelzen. Über die Steuerung eines Joysticks konnte ich die Wege zwischen diesen Podesten abschreiten.

Diese Ausstellung bzw. interaktive Installation haben Frauen vom Roots Club geschaffenen. Der Club zielt u.a. darauf ab, „ein sicherer Ort für den authentischen Ausdruck von weiblichen und nicht-binären Personen zu sein, die im Web3 arbeiten“. Folgerichtig trat dann bei einer Podiumsdiskussion die Club-Gründerin Sara Lisa Vogl aus Berlin auf einer Leinwand als Avatar auf – warum? Sie wolle ihren Körper den Blicken des Publikums entziehen und so ihre psychische Verletzlichkeit schützen, lautete ihre Antwort.

 

In diese Richtung argumentierte auch Dorjee Lhamo Gerhard, Journalistin und Concept Creative. Sie sieht den Freiheitsgewinn im Metaverse in der Wählbarkeit der eigenen Identität, d.h. der Möglichkeit, den eigenen Körper den Blicken der anderen – und damit dem u.U. diskriminierenden Urteil – zu entziehen, indem jede*r einen Avatar entwirft und in dessen Gestalt agiert. D.h. es geht ihr um die Freiheit der Repräsentation. Dazu kam der Einwand aus dem Publikum: Repräsentation verschiedener Identitäten sei im Internet und Metaverse relativ leicht herzustellen. Schwieriger sei es dagegen, die Inklusion, d.h. die Teilhabe unterprivilegierter Gruppen zu sichern, die eben nicht die Möglichkeiten wie ausreichend Bildung und Geld haben, um autonom in die digitale Welt einzutauchen.

Was mich an dieser Art virtuellem Freiheitsversprechen irritiert: mein Freiheitsbegriff beinhaltet die Selbstermächtigung und damit das Ziel und die Fähigkeit, sich in seinem Anderssein zu zeigen und Anerkennung zu fordern, vor allem rechtliche und ökonomische, kurzum dem Blick – und Urteil – des Anderen standzuhalten und seine Macht zu unterlaufen oder zu brechen. Beispiel: „Schwul“ war in Deutschland früher ein Schimpfwort, die engagierten Homosexuellen haben sich aber absichtsvoll als schwul bezeichnet und selbstbewusst als Schwulenbewegung Anerkennung und Rechte erkämpft.

 

Mind the Progress 02 Dorjee Lhamo Gerhard F Jan Marius Komorek Hamburg Kreativ Gesellschaft

Dorjee Lhamo Gerhard. Foto: Jan-Marius Komorek/Hamburg Kreativ Gesellschaft

 

Wenn es Sara Lisa Vogl und anderen leichter fällt, als Avatar öffentlich aufzutreten und die eigene Position zu vertreten, dann scheint das erstmal verständlich. Auch ist es naheliegend, dass ein Zoom-Auftritt vor Publikum, der per se schon etwas Artifizielles hat, eine gute Gelegenheit ist, sich digital-künstlerisch zu präsentieren. Als Spiel mag es reizvoll sein, sich in wechselnden Identitäten gegenüberzutreten -–so wie man sich für Rollenspiele eben auch gerne verkleidet. Aber in meiner Erfahrung beeinträchtigt es in einem Gespräch das gegenseitige Verständnis, sich in einer Maskerade voreinander verbirgt.

 

Meinen Ausstellungsbesuch per VR-Brille fand ich aufregend, weil es für mich noch ein seltenes Erlebnis ist, sich nur imaginär per Joy-Stick durch einen virtuellen Raum zu bewegen. Nur mein Augensinn ist dabei aktiv und was ich sehe, suggeriert mir, dass ich mich bewege, obwohl kein Muskel aktiv ist, ich in meinem Körper nichts von dem fühle, was ich sehe. Das Realitätsprinzip bzw. meine Realitätswahrnehmung wird durcheinandergebracht. Auf Dauer empfinde ich das deshalb als unangenehm und erlebe das als Reduktion, nicht als Erweiterung. Denn für mich ist die Distanz des analogen Sehens sehr wichtig, die die Bewegung des ganzen Körpers impliziert, und damit das von mir gesehene Objekt erfahrbar im Außen verortet. Die Grenze zwischen außen und innen muss für mich immer deutlich spürbar bleiben, denn genau an dieser Grenze entwickelt sich mein Denken, meine Position und mein Handeln.

 

Mind the Progress 3 F Jan Marius Komorek Hamburg Kreativ Gesellschaft

Moderator Wolfgang Wopperer-Beholz im Gespräch mit Leonie Ascone. Foto: Jan-Marius Komorek/Hamburg Kreativ Gesellschaft

 

Aufschlussreich war dazu der Beitrag der Psychologin und Neurowissenschaftlerin Leonie Ascone. Sie beschrieb den Nutzen von Metaverse für die verhaltenstherapeutische Behandlung von Sucht oder Angststörungen. Wobei sie zunächst betonte, wie unersetzbar sie den direkten analogen zwischenmenschlichen Kontakt hält. Doch um Situationen therapeutisch durchzuspielen, kann das Metaverse nützlich sein. Wer z.B. Höhenangst überwinden möchte, braucht dann nicht mehr in realiter auf einen Turm zu steigen, sondern kann die angsteinflößende Situation per Metaverse simulieren und überwinden. Evidenzbasierte Erkenntnisse dazu fehlen bisher, dazu ist die Technologie noch zu jung.

 

Was mir auffiel: was auf diesem Kongress an Bildern gezeigt wurde, hatte durchweg eine Comic-Ästhetik – warum eigentlich? Um die Künstlichkeit des Mediums Netz zu unterstreichen? Kein einziges Bild oder Foto einer analogen Realität habe ich gesehen – Ausnahme: ein Film von Sebastian Egert, der in einer pointierten Abfolge von kurzen Szenen die Dystopie eines totalitären Überwachungskapitalismus vor Augen führt – sehr humorvoll, aber damit nicht weniger kafkaesk und furchteinflößend.

Auch der Soziologe und Zukunftsforscher Christian Schuldt zeigte ein comicartiges Wimmelbild, um zu illustrieren, wie wir die aktuelle gesellschaftliche Umbruchsphase erleben, diese technologische Entwicklung hin zu einer ultimativen Virtualität: als Überforderung und Verunsicherung. Zu viele Optionen per Mausklick, zu viel technische Komplexität: schon wenn wir im Internet nur einkaufen, nimmt uns Künstliche Intelligenz bei der Auswahl manche Entscheidungen ab, ohne dass wir verstehen, wie das geschieht, vielleicht merken wir es nicht einmal. Schuldt erinnerte daran, dass es ein menschliches Bedürfnis ist, eine konsistente Realität zu erleben, um sich orientieren zu können. Er forderte, das Metaverse human zu gestalten, damit keine soziale Entkoppelung, keine Verrohung stattfindet. Wie das konkret aussehen muss, ließ er offen.

 

Dem Freiheitsversprechen digitaler Medien steht die Erfahrung von politischer Manipulation und Daten-Missbrauch gegenüber. Das Publikum, das hier im Oberhafen-Quartier darüber diskutierte, repräsentierte überwiegend eine Netz-affine Szene von Kreativen, Studierenden, Aktivist*innen, Expert*innen. Der Frauen- und Männeranteil war ziemlich ausgeglichen, dass kaum sogenannte PoC (People of Color) präsent waren, wurde mehrmals selbstkritisch angemerkt. Nur einmal wurde bemängelt, dass die Breite der Gesellschaft, die von dem technologischen Systemumbruch betroffen ist, kaum vertreten war: die Traditionswirtschaft nicht, die Massenmedien nicht, die Politik und Verwaltung nur vereinzelt. Schade, denn die mit diesem Kongress beabsichtigte gesellschaftliche Auseinandersetzung ist dringend notwendig.

 

Letztlich muss sich der praktische Nutzen oder Schaden der technologischen Entwicklung erst noch beweisen. Wer sich der neuen Medien bemächtigt, sie versteht und kontrolliert, beeinflusst damit auch ihre Wirkung. Egbert Rühl entwarf dazu seine ganz eigene Utopie und stellte die steile These auf, dass Metaverse könne ein Raum für die kapitalistischen Verwerfungen werden, eine Art Bad-Bank für zerstörerisches Wachstum. Und in der analogen Wirklichkeit könnten wir dann eine nachhaltige Wirtschaft und eine freie, friedliche und gerechte Gesellschaft mit einem freundlichen und respektvollen Miteinander gestalten: das wäre es doch, oder?


Mind the Progress, Kongress für Netzkultur und digitale Gesellschaft

Fand am 1.Oktober 2022 im Hamburger Oberhafen statt, initiiert von der Hamburg Kreativ Gesellschaft.

Weitere Informationen (Mind the Progress Homepage)

 

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