Wahrscheinlich ist alles, was Insekten ausmacht, für uns fremd und unverständlich, aber besonders ein Merkmal unterscheidet sie radikal von uns: Sie sind segmentiert, in einzelne Abschnitte unterteilt, tief eingekerbt.
Menschen dagegen fühlen und verstehen sich als eine Einheit, und sie schauen auf sich selbst als ein einziges Wesen zurück.
Ihre Einteilung in verschiedene Abschnitte unterscheidet die Kerbtiere von allen anderen Kreaturen. Merkwürdigerweise spiegelt sich ihr Lebenslauf in ihrem Körperbau (oder umgekehrt), denn ihre Lebensabschnitte sind in ähnlich radikaler Weise voneinander unterschieden wie ihre Körperteile. Die Libelle, die sich verpuppt und nach ihrem Larvenstadium im Wasser in einen schillernden Flieger verwandelt, scheint zwei gänzlich verschiedene Wesen zu sein. Frösche oder Lurche sind in diesem einen Punkt den Insekten ähnlich, aber ihr Zustandswechsel ist bei weitem nicht so radikal, denn man kann nachverfolgen, wie die Kaulquappe allmählich in einen Frosch übergeht.
Metamorphos; Maria Sibylla Merian – aus Metamorphosis insectorum Surinamensium, Bildtafel LX. 1705. Gemeinfrei
Die Einheitlichkeit der Gestalt und eine sich über das ganze Leben erstreckende Identität zeichnen dagegen den Menschen aus. Nicht allein, dass sein Äußeres zunächst zwar wachsen und reifen muss, sich aber niemals radikal ändert – im Rückblick erkennen wir (oder unsere Eltern) uns selbst auch in ganz alten Fotos wieder, denn schon in sehr jungen Jahren waren wir die Person, zu der wir doch erst heranwachsen mussten. Dieser sich über ein ganzes Leben erstreckenden äußerlichen Identität entspricht eine innerliche, die durch die Erinnerung geleistet wird. Von den ersten beiden Lebensjahren abgesehen, ist uns unser ganzes Leben präsent. Wir sind eins: in unserer Gestalt wie in unserem Lebenslauf. Und unsere seelische Einheit ist kein Produkt der Biologie, sondern das Resultat eines geistigen Vorgangs, denn wir haben uns selbst zu der Person gebildet, die wir heute sind. Hätten wir uns nicht selbst gebildet, niemand sonst hätte das für uns übernehmen können.
Eine vier Zentimeter lange männliche Gefleckte Heidelibelle (Sympetrum flaveolum). Foto: André Karwath
Bei Insekten wie den Libellen unterscheidet man die Larve von der Imago, dem erwachsenen Insekt, das über dem Wasser nach Beute sucht. Nach der Metamorphose genannten Umwandlung eines Wasserwesens und dem anschließenden Schlupf braucht das Tier eine Weile, um die Flügel zu härten; ist dies geschehen, kann es sofort fliegen und auf die Jagd gehen und ist auch später bei der Fortpflanzung niemals darum verlegen, was es als nächstes zu tun hat. Man kann so etwas Instinkt nennen oder Veranlagung. Letzteres Wort wird heute gern damit umschrieben, etwas liege in den Genen, als könne der Ersatz des einen Wortes durch das andere irgendetwas erklären. Aber leider – erklären kann man hier gar nichts, sondern allenfalls fassungslos zur Kenntnis nehmen und anschließend um- und beschreiben. Wir Menschen, die wir die einfachsten Dinge als Säuglinge und Kinder mühsam zu erlernen haben und damit eigentlich niemals zu Ende kommen, stehen dieser unfehlbaren Sicherheit der Kreatur ratlos gegenüber. Wir erklärt sie sich?
Wie alle Wirbeltiere besitzen Menschen ein Zentrum, in dem Sinnesdaten von außen wie innen zusammenlaufen, um dort irgendwie zu einem Bild zusammengefasst oder auch in ein Schema eingeordnet zu werden. Und das führt schließlich zu einigen Konsequenzen, sprich Aktivitäten aller Art. Wo wir uns selbst erleben, finden wir uns zu einem Lebewesen vereinigt. Wir sind ein Organismus, kein Sammelsurium von Organen. Was Kleist von den Marionetten sagt – dass sich „der Schwerpunkt der Bewegung“ immer in dem bewegten Glied befinde –, das trifft auf Insekten noch viel mehr als auf die Marionetten zu. Nicht aber auf uns, weil bei uns alles von einem Zentrum ausgeht. So sind unsere Bewegungen viel störungsanfälliger.
Gustav Theodor Fechner: „Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen“. Buchcover einer späteren Auflage und Originalschmutztitel. Verlag: Hamburg und Leipzig, Voß, 1848
1848 fand der Physiologe Theodor Fechner in seiner kleinen Schrift „Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen“ ein ebenso poetisches wie wahres Bild für das Verhältnis von Leib und Seele, indem er den Leib mit einer Violine verglich, die das Spiel ihrer Saiten selbst fühlt. Einen Leib nämlich hat man nur, wenn man Empfindungen kennt und Berührungen, wenn man Wärme spürt oder Kälte, wenn die Muskulatur sich müde anfühlt oder sich die Eingeweide merkwürdig bewegen, wenn die Nase juckt, der Rachen nach einer großen Anstrengung brennt oder der Kopf schmerzt. Ohne Empfindung kein Leib; und das Bewusstsein wohnt weder im Nirgendwo noch in einer Maschine, sondern eben dort: in einem Leib, den es fühlt. Manche Freaks werden es vielleicht bedauern, aber ganz gewiss gibt es ohne den Leib kein Bewusstsein, und die Vorstellung von Bewusstsein in einem Computer oder einem anderen Gerät ist vor allem eines: Nonsens.
Ein bewusster Leib bildet eine Einheit. Kein normaler Mensch sagt, sein Arm habe dieses oder jenes getan oder sein Gehirn habe sich etwas eingeprägt, sondern er selbst hat das getan. Aber Insekten sind zusammengesetzt, und nicht selten können Teile von ihnen weiterleben und noch allerhand anrichten, nachdem sie gewaltsam abgetrennt wurden. Schlangenköpfe können noch um sich beißen, wenn sie sich ohne Anhang wiederfinden. Und von Tintenfischen liest man, jeder ihrer acht Arme habe ein eigenes Gehirn. Aber je höher ein Lebewesen entwickelt ist, desto weniger selbstständig sind seine Organe und Körperteile. Wir Menschen werden deshalb post mortem nicht mehr aktiv, auch nicht in Teilen. Wenn wir tot sind, dann im Ganzen.
Vielleicht gibt die folgende Bemerkung des Biologen Jakob von Uexküll den Beginn einer Erklärung für die unbeirrbare Sicherheit, mit der Insekten und andere niedere Lebewesen sich bewegen und in der Welt orientieren: „Die Beine können alleine laufen, die Flügel alleine fliegen, die Freßwerkzeuge allein fressen, ganz unbekümmert darum, ob der übrige Körper auch noch vorhanden ist oder nicht. […] Es besitzen alle diese Organe eine in sich vollkommen geschlossene Reflexkette“. Einzelne Organe sind selbstständig, als seien es Lebewesen für sich. Aber nicht bei uns – bei uns werden zwar nicht alle, aber doch sehr viele Bewegungen zentral gesteuert. Und nur in diesem Fall können sie bewusstwerden, und nur in diesem Fall wird Befangenheit zum Problem.
Ameise. Foto: CP17/pixabay
Bei einem Insekt oder einem Krebs dürfen wir annehmen, dass sie so etwas wie ein Verhältnis zu sich selbst als Organismus auch nicht in Ansätzen entwickelt haben – anders als ein Bär, der aber seiner selbst noch längst nicht so bewusst ist wie ein Mensch. Erst der Mensch überblickt sein eigenes Leben und versteht alle Teile seines Körpers als Teil seiner selbst, selbst Totes wie sein Haar, von dem er sich gelegentlich befreit. Deshalb konnte Hugo von Hofmannsthal eines seiner berühmtesten Gedichte, die „Terzinen über Vergänglichkeit“, mit der Zeile beenden: „So eins mit mir als wie mein eignes Haar.“ Mit allem an und mit uns sind wir eins.
Henri Bergson hat in seiner Naturphilosophie („Schöpferische Evolution“) Instinkt und Intelligenz einander gegenübergestellt. Sie stellen die beiden Tendenzen dar, in denen sich animalisches Leben entwickelt hat. Instinkt bedeutet, dass ein Wesen auf gebahnten Wegen wandelt, Intelligenz, dass es sich diese Wege mitunter selbst suchen muss und auch zu finden weiß. Im Reich der Insekten herrscht der Instinkt fast total, wogegen bei den Wirbeltieren die Intelligenz eine größere Rolle spielt: sie bewegen sich immer wieder in Situationen, in denen sie sich neu orientieren müssen, aber sie (und damit natürlich auch wir…) kennen ebenfalls Instinkte. Dabei sind Instinkte auf zwei Bereiche konzentriert: Fortpflanzung und Ernährung.
Nicht selten handelt es sich um komplizierte Handlungsfolgen, die sich aber allesamt durch ein Merkmal auszeichnen: In ihnen muss die Reihenfolge strikt eingehalten werden. In seinen berühmten Büchern über Insekten hat Jean-Henri Fabre gezeigt, dass die Jagd einer Wespe auf ein Beuteinsekt, um auf diesem ein Ei abzulegen, in allen Teilen festgelegt ist – erst muss dieses geschehen, dann jenes, und wenn etwas nicht stimmt, dann muss das Tier wieder von vorn anfangen. Keinen Teilvorgang kann die Wespe überspringen. Und uns selbst geht es manchmal ähnlich, zum Beispiel, wenn wir ein Gedicht aufsagen und hängenbleiben; wie die Wespe bei der Jagd, so gehen auch wir ein Stück zurück und beginnen von neuem. Unser Gedächtnis funktioniert wie der Instinkt eines Insekts! Und: Es funktioniert aus der Bewegung heraus.
Was Bewusstsein ist und was ein bewusstes Wesen von einem unbewussten unterscheidet, das spiegelt sich in dem Verhältnis von unbewusstem Instinkt und bewusster Intelligenz und noch zusätzlich von Gedächtnis und Erinnerung. Das Gedächtnis beobachten wir auch bei Tieren, und zwar schon bei den primitivsten Lebensformen. Die Erinnerung hingegen findet sich einzig und allein beim Menschen; auch den höchsten, uns nahestehenden Tieren ist sie mit hoher Wahrscheinlichkeit unbekannt.
Das Gedächtnis geht im pragmatischen Verhalten auf, ist also von vornherein in die Bewegung des Lebens hineingenommen und ohne diese gar nicht zu verstehen. Gedächtnis ist eine Eigenschaft von allen Organismen, die zur Eigenbewegung fähig sind, und ist einzig und allein auf die Zukunft bezogen. Am schönsten lässt sich das am Instinkt zeigen, der sich als das Gedächtnis einer Art verstehen lässt. Der Instinkt des Kuckucks etwa sagt ihm, was im Herbst zu tun ist, aber was hat die Vergangenheit, was also hat das Verhalten seiner Vorfahren damit zu tun? Es geht einzig und allein um sein eigenes Leben als Zugvogel.
Ein Zugvogel… Bei dem instinktiven Verhalten geht es immer um elementare Fähigkeiten, die das Überleben des Individuums oder der Art sichern, und sehr oft spielen Wege eine Rolle – zum Beispiel beim Aal, der es aus der Mündung der Trave bis in die Sargassosee schafft, um dort zu laichen (man übertrage die Reise des Fisches einmal auf unsere Größenverhältnisse!); oder bei den Schildkröten, die nach Jahren an den Strand der Insel zurückkehren, in dessen Sand sie einst von der Sonne ausgebrütet worden waren und nun selbst ihre Eier zu legen gedenken; oder bei den Gänsen, die sich in den hohen Norden aufmachen. Wie finden diese Tiere ihren Weg? Wahrscheinlich werden sie von dem ältesten Sinn aller Lebewesen geleitet, dem Geruchssinn.
Sargassosee im westlichen Atlantik. Abb.: Clker-Free-Vector-Images
Zwei der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts singen das Hohelied des von Gerüchen aus seinem Schlaf aufgeweckten Gedächtnisses, das sich alsdann daranmacht, eine weit zurückreichende, längst verschüttet geglaubte Geschichte in der Gestalt von Erinnerungsprozessen vor uns auszubreiten. Marcel Prousts Erlebnis mit der in den Tee getauchten Madeleine ist zu bekannt, als dass sie hier nacherzählt werden muss, aber zu wenige Leser kennen Heimito von Doderers gewaltige Romane. Insbesondere in „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“ (1951) beschreibt Doderer immer wieder Geruchssensationen aller Art und spricht die Stunden an, die der „Melzerich“ auf einem mit Kampfer haltbar gemachten Bärenfell beim „Denkschlaf“ genannten Kef verbringt, einem von Mokka und Wasserpfeife provozierten Zustand, in dem er „halb erwacht und mit intensiven Bildern knapp unter der Decke des wirklichen Erwachens und Verflachens“ dahintreibt. Mit diesen intensiven Bildern arbeitet dann die Erinnerung in Gestalt des Erzählers und gestaltet einen Erinnerungsstrom, dem sich kaum jemand entziehen kann.
Strudlhofstiege, 9. Bezirk (Alsergrund), Wien (Mit einer Gedichttafel Heimito von Doderer). Foto: Andreas Praefcke. CC3.0
Und nicht allein die Erinnerung ist aktiv, sondern überhaupt die Seele. Sie nimmt nicht einfach nur hin, sondern arbeitet mit dem Material – oft in Form von Bildern. „Die Seele eines jeden Menschen“ heißt es in Immanuel Kants kleiner Schrift „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“ (1764), „ist selbst in dem gesundesten Zustande geschäftig, allerlei Bilder von Dingen, die nicht gegenwärtig sind, zu malen, oder auch an der Vorstellung gegenwärtiger Dinge einige unvollkommene Ähnlichkeit zu vollenden durch einen oder andern chimärischen Zug, den die schöpferische Dichtungsfähigkeit mit in die Empfindung einzeichnet.“
Während alles instinktive Verhalten die rechte Reihenfolge einhalten muss, wenn es funktionieren soll, während also für das Gedächtnis eins nach dem anderen zu geschehen hat – wie für uns, wenn wir ein Verb konjugieren oder ein Gedicht aufsagen –, springt die Erinnerung klabauterhaft hin und her; und auch hierfür sind die Werke Doderers beispielhaft, der in seinen Riesenromanen nur selten die richtige Reihenfolge einhält, sondern immer wieder weit vor- oder zurückgreift. Das ist für den Leser gelegentlich etwas anstrengend, aber es erhöht den Eindruck, eine wirkliche Geschichte zu lesen, keine ausgedachten Döntjes. Alles, was uns Doderer erzählt, besitzt buchstäblich den Geruch des Lebens.
Was das Gedächtnis physisch ist, ob es sich überhaupt materiell erklären lässt, wie und wo sich Erlerntes und Erlebtes organisch konserviert und wie es abgerufen werden kann, das zu erforschen ist der Menschheit bis heute nicht gelungen. Anfang des 20. Jahrhunderts prägte der Zoologe Richard Semon den Begriff des „Engramms“, worunter er die physische Spur einer Erfahrung im Gehirn (und nur dort!) verstand, aber wie man sich ein solches Engramm vorzustellen hat, woraus es besteht und wie es entsteht, wie der Organismus darauf zurückgreift oder wie sich ein Engramm als Instinkt vererben lässt, das ist trotz enormer Anstrengungen der Wissenschaft bis heute vollkommen ungeklärt. Ich behaupte: So etwas wie ein Engramm kann es als ein isoliertes Stück Organismus gar nicht geben, weil das Gedächtnis im ganzen Körper steckt, denn nur zusammen mit den Sinnesorganen und der Muskulatur besitzt das Gehirn die Fähigkeit, sich etwas zu merken. Es ist deshalb der Organismus als Ganzes, der das Gedächtnis trägt. Schließlich sind wir keine Gliedertiere… In den Worten Doderers: Der „Mensch [denkt] nicht nur mittels des Kopfes und oberhalb des Kragenknopfes […], wie die Fachgelehrten, sondern mit dem ganzen Körper.“
Erinnerung ist etwas ganz anderes als das Gedächtnis, fußt allerdings auf ihm und ist ohne es überhaupt nicht denkbar. Das Gedächtnis gibt wenigstens einen Teil des Materials, vielleicht aber sogar alle Bausteine, aus denen die Erinnerung unsere Identität zusammenbastelt, so dass wir mit dem Verlust des Gedächtnisses notwendig auch unsere Erinnerung und unsere Identität verlieren. Umgekehrt aber ist es so, dass der Verlust der Erinnerung die Alltagsfähigkeit eines Menschen nur unwesentlich beeinträchtigt. Was beeinträchtigt, ja meist vollkommen zerstört ist, ist seine Persönlichkeit.
Wie zahlreiche Experimente beweisen, kann auch ein Mensch ohne Erinnerung noch Fakten lernen und sich ohne Anstoß durch seine Wohnung und sogar durch die Straßen bewegen. Nur ist er sich eben dessen, was er gelernt hat, nicht mehr bewusst. Berühmt wurde das Experiment des Schweizer Forschers Edouard Claparède (1873-1940), der einem unter Amnesie leidenden Patienten mit einer Spitze, die sich zwischen seinen Fingern befand, beim Händeschütteln in die Hand stach. Später konnte sich der Patient nicht an diesen Vorfall erinnern, ging aber lieber auf Abstand, wenn Claparède sich näherte, und an Händeschütteln war schon einmal überhaupt nicht zu denken. Man sieht, dass auch ein Mensch ohne Erinnerung dazulernen kann, weil er noch über sein Gedächtnis verfügt. Vielleicht ist dieses sogar völlig intakt? Seine Gesprächspartner wird er bereits nach wenigen Minuten nicht wiedererkennen, aber neue Fakten werden ganz korrekt in seinem Gedächtnis abgespeichert und dienen dem zukünftigen Verhalten, das immer unbewusst bleiben wird.
Edouard Claparède um 1920. Quelle: International Bureau of Education Archives. Public Domain
Obwohl also die Erinnerung auf das Gedächtnis angewiesen ist, ist sie etwas wesentlich anderes und vor allem: wesentlich mehr. Zunächst, weil irgendeine biologische Funktion nicht zu erkennen ist – im Gegensatz zum Gedächtnis, ohne das es keine Lebewesen geben könnte, scheint die Erinnerung für das bloße Überleben schlechterdings überflüssig –; sodann wegen ihrer Verlogenheit, denn sie täuscht uns unendlich oft, weil wir selbst es sind, die sie manipulieren; endlich, weil sie an das Bewusstsein gekettet ist und sich an ihr besser als an jedem anderen Phänomen erläutern lässt, was das Bewusstsein eigentlich ist.
Ließe sich Bewusstsein als Distanz zu sich selbst definieren? Wäre das ausreichend neutral? Man könnte zunächst einmal das bloße Wissen um sich selbst als Bewusstsein verstehen, aber wäre einfache Kenntnisnahme nicht ein sehr blasser, ein zu blasser Begriff? Vielleicht kommt man weiter, wenn man die Fähigkeit, sich selbst zu imaginieren, als den Hauptausdruck des Bewusstseins nähme? Woran man sich erinnern kann, das kann man doch in seinem Innern sehen. Der Patient des Professors Claparède – davon bin ich überzeugt – konnte sich selbst nicht sehen, aber die meisten Menschen haben eine mehr oder weniger lebhafte visuelle Fantasie. Wir haben sie im Schlaf, aber auch, wenn wir einfach so sitzen und träumen; und dann gibt es noch Menschen, die von Bildern geradezu überfallen werden. Auf jeden Fall ist die Erinnerung nicht auf Bewegung angewiesen, und manchmal lässt sie einen Menschen sogar gänzlich erstarren.
Das Gedächtnis ist auf Bewegung angewiesen – ohne sie geht gar nichts. Menschen in Narkose zum Beispiel können manchmal noch auf Fragen antworten, und sie können gelegentlich Schmerz empfinden, aber nichts davon geht in ihr Gedächtnis über – weil ihre Muskulatur nicht mehr arbeiten konnte. Umgekehrt fördert jede Bewegung das Gedächtnis; wir lernen leichter, wenn wir auf und ab gehen, beim gedankenlosen Radfahren fällt einem manches ein, an das man lange nicht mehr gedacht hatte – wie überhaupt bei Tätigkeiten, bei denen man sich nicht konzentrieren, wohl aber bewegen muss. Und wenn Bewegung wichtig ist, um das Gedächtnis zu stärken, dann ist, nein dann muss Bildschirmlernen für Kinder und Jugendliche sehr schlecht sein. Und für Erwachsene natürlich ebenso.
Erinnerung dagegen hemmt uns. Wer denkt nicht an den „Parzival“ Wolframs von Eschenbach, in dem ein Falke einen Vogel schlägt? Aus dessen Wunde fallen drei Blutstropfen in den Schnee, deren Anblick Parzival erstarren lässt, weil sie ihn an seine geliebte Cundwiramurs erinnern:
„uz ir wunden ufen sne
vieln dri bluotes zäher rot
die Parzivale fuogten not.“
Von dem Anblick der drei Blutstropfen vermag sich der rote Ritter Parzival nicht zu lösen. Er starrt auf sie hinunter, tief in seine Gedanken an seine Ehefrau Cundwiramurs versunken, und erweckt den Eindruck eines Schlafenden:
„diu zuct im wizzenlichen sin.
Sus hielt er als er sliefe.“
Wolfram von Eschenbach: Parzival. Die Episode der Blutstropfen im Schnee, um 1467. Detail aus einer Buchseite. (Bern, Burgerbibliothek, Cod. AA 91 f. 59v, gemeinfrei)
Auch die Forderung eines Ritters vom nahebei gelegenen Artushof vermag ihn nur für Augenblicke von seinen Gedanken zu befreien. Er hebt die Lanze und hebt seinen Gegner aus dem Sattel, aber gleich, nachdem er den Tjost siegreich bestanden, versinkt er wieder in seinem Brüten, aus dem ihn endlich der edle und offenbar sehr kluge Ritter Gawain befreit, indem er eine Decke auf die drei Tropfen wirft, um sie zu verbergen.
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