Kultur, Geschichte & Management

Als ein Plädoyer für mehr Toleranz und Gelassenheit versteht sich eine Sonderausstellung im St. Annen-Museum in Lübeck.

 

Gegen sexuelle Vorurteile aller Art möchte eine Zusammenstellung des Lübecker Völkerkundemuseums angehen. Sie demonstriert, dass viele Kulturen mehr als nur zwei Geschlechter kennen, Homosexualität tolerieren und auch den Wechsel (vielleicht sogar mehrfachen Wechsel) zwischen den Geschlechtern akzeptieren. Als Beispiele dienen einerseits die fernöstlichen Kulturen – vor allem in China, Japan und Indien – sowie Afrika. Auch Lübeck kommt vor, denn als Hafenstadt fand sich in ihr seit dem Mittelalter Prostitution, und auch dieser gegenüber scheint es bis heute Vorurteile zu geben.

 

Naturgemäß ist es eine bunte und in Teilen aufregende Ausstellung, die von dem Leiter des Völkerkundemuseums, Lars Frühsorge, kuratiert wurde. Im ersten Raum finden sich allerlei Objekte aus deutschen Landen, darunter ein Keuschheitsgürtel – hier kann man lernen, dass diese oft von weiblichen Bediensteten getragen wurden, um sich gegen Übergriffe ihrer Herrschaft zu wehren. Ein großes Bild veranschaulicht die Haremsphantasien des 19. Jahrhunderts, in denen sich leicht bis überhaupt nicht bekleidete Damen in geschmeidigen Tänzen ergingen, umgeben von anderen, ebenfalls nur notdürftigst gewandeten Frauen. Auch finden sich Videos oder Karten des Stadtgebietes, auf denen man sehen kann, wo und zu welchen Zeiten es Prostitution gab und immer noch gibt. Heute ist das Hafengebiet Lübecks fast frei davon, denn das euphemistisch in „Sexarbeit“ umgetaufte Geschäft hat sich in die Vorstädte verzogen. Zu diesem Thema wird auch Heinrich Manns „Professor Unrat“ in einer Vitrine ausgestellt. Außer in dem berühmten Katharineum spielt sich das Geschehen in einer anrüchigen Kneipe ab, über deren genaue Lage sich Herr Prof. Raat bei einem Schuster zu informieren versucht, als er die Künstlerin Rosa Fröhlich aufsuchen möchte.

 

Galerie - Bitte Bild klicken
Prostitution ist aber nur ein Nebenthema dieser Ausstellung. Wichtiger erscheint da die Diversität. Dass es Menschen gibt, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zuordnen lassen, findet in den meisten Ländern Europas erst heute Eingang in die öffentliche Diskussion. Im Zeitalter der „queeren Kultur“ gibt es nicht mehr zwei Geschlechter, die einander starr gegenüberstehen, sondern unendlich viele fließende Übergänge – ein Gedanke, der noch heute vielen fremd ist. Und dabei werden bereits seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch hierzulande andere Auffassungen vertreten.

 

Man darf bei dieser Gelegenheit an Otto Weininger (1880-1903) erinnern, der in „Geschlecht und Charakter“ – einem sowohl antisemitischen als auch misogynen Machwerk – von der Vorstellung einer alle Menschen umfassenden Bisexualität ausging. Das war ein ganz moderner Gedanke, der sich aber trotz des spektakulären Erfolges seines Buches nicht durchsetzen konnte. In der Lübecker Ausstellung hätten Weiningers Leser einiges Anschauungsmaterial zum Thema sammeln können, wenn auch keinesfalls alles dem Thema Sexualität oder Erotik unterzuordnen ist. Zum Beispiel kann man lernen, dass es in Albanien für eine Frau schon seit langem möglich ist, das Geschlecht zu wechseln und als Mann zu leben – aber ohne Operation und ohne Heirat. Sie müssen einen Schwur leisten, weshalb diese Menschen als „Schwörende Jungfrauen“ bezeichnet werden. Dann dürfen sie eine Firma leiten oder können einer ungewollten Heirat entgehen.

 

In Indien gab es sogenannte „Hijras“, Vertreter eines dritten Geschlechtes, die sich durch Kastration (heute: Operation) in eine Frau verwandelten und zwischen Unterhaltungskunst und Prostitution wechselten. Und wie man eine afrikanische Statue mit einer männlichen Vorder- und einer weiblichen Rückseite verstehen soll, hätte vielleicht ein kleiner Artikel in einem Katalog erläutern können, den es aber leider nicht gibt.

 

Der mittlere Saal profitiert von der übergroßen Schenkung, die der Sammlung erst in den vergangenen Tagen zugegangen ist. In ihr kann man erotische oder doch wenigstens für den europäischen Blick erotisch anmutende Skulpturen aus Afrika anschauen, meist aus schwarzem Holz geschnitzt. Darunter sind „Jenseits-Ehepartner“, deren Funktion mir nicht ganz klar geworden ist – offenbar stellen sie so etwas dar wie erträumte Liebhaber oder fiktive Wesen, mit denen man sich beratschlagen kann. In diesem Raum finden sich auch Masken.

 

Im dritten und größten Saal wird es dann noch einmal etwas expliziter, denn die (für den Internetauftritt verpixelten) Bilder besonders aus Indien und Japan sind derart deutlich und muten uns so pornografisch an, dass es schon etwas fragwürdig sein muss, Jugendliche in das Museum zu schleppen. Nun, „schleppen“ ist vielleicht das falsche Wort; wenn sie erst einmal herausgefunden haben, was es dort alles zu sehen gibt, gehen sie wahrscheinlich freiwillig mit. Allerdings werden in Vitrinen auch kleine (und sehr harmlose) japanische Puppen gezeigt, und man kann außerordentlich schön getuschte chinesische Bilder anschauen. Oder ein Tantra-Bild aus Indien, dessen Bildunterschrift uns darüber belehrt, dass sich Tantra keinesfalls auf Sex reduzieren lässt.

 

Man muss ein wenig hermeneutisch denken, wenn man sich die Bilder aus fremden Ländern anschaut, denn manches missverstehen wir (Fruchtbarkeitsgötter empfinden wir als pornographisch, obwohl sie es nicht zu sein scheinen und sogar auf Gräbern zu finden sind), anderes ist ganz offensichtlich pornographisch, aber doch nur, weil man dem europäischen Blick entgegenkommen wollte. Offenbar ist das ganz besonders im Japan des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen. Allerdings scheint das wohl bedeutendste Kunstwerk dieser Ausstellung, „Der Traum der Fischersfrau“ des großen japanischen Holzschnitzers Katsushika Hokusai (1760-1849), nicht auf europäische, sondern ganz und gar auf japanische Phantasien zurückzuführen sein. Hokusai schuf farbige Holzschnitte, Ukiyo-e genannt, aus bis zu acht mit äußerster Sorgfalt bearbeiteten Platten aus hartem Kirschbaumholz, und die Schönheit seiner Arbeiten schlägt auch den Europäer in den Bann.


„Sex und Vorurteil“

Zu sehen bis 29. August 2021

Völkerkundesammlung, Lübeck, in den Räumen des St. Annen-Museum, Lübeck

Eintritt: 1.4. – 31.12. 10:00 – 17 Uhr

Weitere Informationen

 

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment