Der Kunsthistoriker Boris von Brauchitsch hat ein sehr persönliches Buchprojekt verwirklicht.
Eine Retrospektive über das fotografische Werk seiner Eltern Helga und Victor von Brauchitsch (*1936/1940), die einer Fotografengeneration angehören, die vor dem großen Foto-Boom in Deutschland ihre Arbeit aufgenommen hat. Eine Entdeckung, über die es lohnt zu sprechen.
Sebastian Castro (S.C.): Wo fangen wir an?
Boris von Brauchitsch (B.v.B.).: In der weitläufigen Dunkelkammer meiner Eltern. Da habe ich als Kind viele Stunden verbracht, musste stillhalten, wenn das Fotopapier belichtet wurde, damit nicht der Labortisch auf dem alten Parkettboden wackelte, und durfte zusehen, wie die Bilder im Entwickler langsam auftauchten. Ich bin zwischen den Fotos meiner Eltern aufgewachsen. Fotos waren schon da, als ich geboren wurde und es wurden nach und nach immer mehr.
S.C.: Das klingt ja ein bisschen inflationär.
B.v.B.: Keineswegs. Die Welt ist zwar groß und bietet unbegrenzte Motive, man kann fast alles fotografieren, weil fast alles sichtbar ist, aber dieser medialen Geschwätzigkeit, das haben mir meine Eltern früh vermittelt, muss man radikal entgegentreten. Jedes Bild muss ein Votum gegen die beliebige Produktion sein.
S.C.: Ich produziere Bilder als Statement gegen die Produktion von Bildern?
B.v.B.: Ganz genau, das ist es. Für jedes Bild, das Du machst, müssen sozusagen tausend andere vor Scham im Boden versinken! Dein Bild muss so stark sein, dass sich die tausend anderen, die passabel sein mögen, von selbst erledigen. Mein Vater pflegt zu sagen: Es gibt viele gute Bilder, aber sehr wenig sehr gute.
S.C.: Inwieweit ist dieser Blick und diese Wertung nicht auch eine Frage persönlicher Prägung, eines individuellen Geschmacks.
B.v.B.: Der Blick steht über dem Geschmack. Und er ist dessen Voraussetzung. Wenn ich nicht gelernt habe zu sehen, kann ich auch keinen ernstzunehmenden Kunstgeschmack haben. Es gibt ja bis heute Menschen, die glauben, mit einer teuren Kamera machen sie automatisch gute Fotos. Die Werbung suggeriert das auch noch. Und die Industrie stellt zudem noch tolle Bearbeitungsprogramme bereit. Die Fotografie hat die Welt da draußen inzwischen gar nicht mehr nötig. Man kann sich seine Bilder selber basteln. Die aktuelle computergenerierte Bildproduktion ist in ihrer Fiktion allerdings genauso trivial und verlogen, wie einst die familiären Erinnerungsbildchen. Ein Computer bringt einen leider nicht weiter, wenn man nicht gelernt hat sehen.
S.C.: Die Orte, an denen sich Helga und Victor von Brauchitsch befinden, wenn sie fotografieren, scheinen oft ziemlich surreal und menschenleer. Und zwar ganz gleich, ob sie in Italien, auf Lanzarote oder auf Island unterwegs sind.
B.v.B.: Man sucht sich eben seine Orte und versucht, fotografisch deren Geheimnis zu erfassen. Und menschenleer bedeutet übrigens keineswegs, dass sie sich nicht für Menschen interessieren würden, doch die Spuren und Zeichen, die Menschen hinterlassen, sind eben oft aufschlussreicher, als wenn man Menschen direkt ablichtet.
S.C.: Die beiden Bände, die Sie über ihre Eltern gemacht haben, in einer Kassette vereint, zeigen nur analoge Fotografie in schwarz-weiß.
B.v.B.: Das ist ein kleiner Rückblick auf das, was in rund 50 Jahren entstanden ist. Ein stilles und strenges Credo, das die Welt da draußen „irre“ ist und genug Material bietet, um alle Fiktionen in den Schatten zu stellen. Die Bilder meiner Eltern sind nicht manipuliert. Kein Schnickschnack. Das ist ein Teil ihrer verblüffenden Wirkung.
S.C.: Wir sehen also die Wirklichkeit?
B.v.B.: In sehr präzisen, bewusst kalkulierten Ausschnitten, ja.
S.C.: Aber Kunst gibt doch, glaubt man Paul Klee, nichts Sichtbares wieder, sondern macht sichtbar.
B.v.B.: Klar, dass einem als Fotograf ein solcher Satz erst einmal aufstoßen muss. Aber Paul Klee war eben ein Lobbyist des Abstrakten, übrigens in einer Zeit, als das Abstrakte noch skandalös war. Doch vielleicht würde Klee mir heute zustimmen, wenn ich sage: Fotografie gibt das Sichtbare wieder und macht es wahrnehmbar. Bessere Belege für diese Aussage als die Bilder meiner Eltern lassen sich kaum finden. Sie zeigen eine Realität und sind doch unglaublich subjektiv und zugleich dezidiert in ihrer Aussage über diese Wirklichkeit.
S.C.: Die beiden Bände nebeneinander zu betrachten, ist ausgesprochen faszinierend. Eine Fotografin, ein Fotograf, 45 Jahre verheiratet, oft gemeinsam oder zumindest an denselben Orten unterwegs. Und doch hat man zwei Blickwinkel, die sich hin und wieder berühren oder überschneiden, die aber meistens sehr verschieden sind.
B.v.B.: Das war ein Grund, zwei Bände zu machen. Helga und Victor von Brauchitsch sind eben kein Künstlerpaar, das gemeinsam geschaffen hat, sondern in einem inspirierenden Miteinander. Die Bände sind also auch der Spiegel einer Beziehung, in dem Sinne, dass man die Bilder aufeinander beziehen kann, miteinander korrespondieren lassen kann. Sie sind natürlich auch Bilder einer Ehe und zweier abweichender Welt-Anschauungen. Ich freue mich über diese Kassette besonders, weil sie so viele Facetten und Perspektiven bietet, die es wert sind, entdeckt zu werden.
Helga und Victor von Brauchitsch
Sichtweite
Kehrer Verlag Heidelberg 2009
ISBN 978-3-86828-0494
Siehe auch: www.vonbrauchitsch-fotografie.de
Boris von Brauchitsch
1963 in Aachen geboren. 1983 bis 1988 Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte in Berlin, Bonn und Frankfurt/Main. 1988 Magister im Bereich Architekturgeschichte. 1991 Promotion im Bereich Fotografiegeschichte. Seit 1992 Kurator von Ausstellungen und Aktionen moderner und zeitgenössischer Kunst. 1992 bis 1993 Leiter der Galerie der Künstler in Frankfurt/Main. 1995 bis 1997 Gründungsdirektor und Leiter Kunsthaus Kaufbeuren. Seit 1999 Sachbuchautor. Außerdem Tätigkeit als Fotograf und freier Journalist. Lebt und arbeitet in Berlin und Carrizal (Ingenio, Gran Canaria). www.borisvonbrauchitsch.de
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