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Wie erstaunt waren die Reisenden, als sie die von den Briten zerstörte Herater Universität Musalla (4) mit dem Mausoleum von Gauhar Shad (5) besuchten. Die fünf übrig gebliebenen beschädigten Minarette, die wie hohe Schornsteine aussahen und durch Beschiessung mit Kanonenkugeln ihren gesamten Schmuck verloren hatten, standen in einer zerstörten Mondlandschaft. Die Zitadelle von Herat war zu einer Ruine degradiert. Aber am Fuß der Zitadelle stand eine Anzahl offener Läden, in denen der schönste Nomadenschmuck hergestellt wurde. Das Mausoleum von Sultan Ghias-ud-Din im Norden der Freitagsmoschee war verschwunden.
Die Aufzählung der Aggressionen, denen die Stadt Herat und viele andere Ortschaften Afghanistans im Laufe der Jahrhunderte und insbesondere während des 19. und 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren, kann man endlos fortsetzen. Gräfin v. Kanitz sah viele nicht vernarbte Wunden, und dass das Volk in großer Armut leben musste. Aber es hütete das Wenige, das es besaß, mit Liebe. Die Fahrt von Herat über Farah, Lashkargah nach Kandahar zeigte, wie ein Despot wie Timur Leng (6) die blühende Ebene um den Helmand-Fluss in eine Wüste verwandeln kann. Trotz mehrerer Rückschläge haben die Nomaden ihre positive Lebenseinstellung nicht verloren. Ihre Gastfreundschaft war und ist sprichwörtlich. Sie bieten aus ihren kargen Reserven ohne Entgelt ein kühles Milchgetränk und Fladenbrot an, Chapati genannt. Die Nomaden würden sogar für einen Gast ein Lamm schlachten. Sie zeigen, wie man einen Kelim webt und begleiten die Gäste zu Fuss bis zur nächsten Ortschaft. Die Frauen präsentieren stolz ihre in Lumpen gekleideten Kinder. Sie brechen nicht zusammen, wenn sie über große Distanzen Wasser in Tonkrügen schleppen müssen.

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Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Jeder Stamm hat seine ureigene Lebensart. Dennoch haben all diese Eigenarten, Gegensätze und Verstimmungen, die offen oder im Verborgenen zu Konflikten führten, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Afghanen nicht schmälern können. Die Afghanen sind gegen feindliche Fremde immer gemeinsam aufgetreten und haben gegen sie mit ihren archaischen Waffen gekämpft. Die Porträts von Gräfin v. Kanitz zeigen, wie die verschiedenen Völkerschaften sich integriert haben. Äusserlich wird es schwer fallen, einen Pashtunen von einem Tajiken zu unterscheiden. Durch die Brutalität des Emirs Abdur Rahman (7) blieben die Hazaras unterprivilegiert. Hazaras, Pashtunen, Tajiken, Uzbeken, Turkmenen und Nuristani stritten um die fruchtbaren Täler und um Wasserstellen. Kafiristan (heute Nuristan) und Swat wurden auf Befehl der Briten durch die Durand-Linie (8) getrennt. Die Bewohner dieser fruchtbaren Gebiete haben diese Schmach bis heute nicht vergessen. Kann man es ihnen verargen, wenn sechs Monate im Jahr kein Wassertropfen vom Himmel fällt und die Hungersnot Scharen von afghanischen Kleinkindern hinwegrafft?

Bis heute versuchen die im Ausland erzogenen und durch Pakistanische Offiziere indoktrinierten Pashtunen, jeden Fortschritt im eigenen Land unter dem Deckmantel des Islam zu untergraben. Das Ausland versorgt sie mit todbringenden Waffen, zeigt ihnen, wie sie im Namen des Islam das Wenige, das das Volk noch besitzt, zu zerstören haben. Als Paradebeispiele können das 51 Megawatt-Kraftwerk Kajakai und die Bewässerungstalsperre im Helmand-Gebiet aufgeführt werden, die immer wieder von den Taliban, die in Pakistan erzogen worden sind, bombardiert werden. Da die Afghanen eigene Kraftwerke nicht betreiben können, muss Afghanistan Strom aus dem Ausland einführen.

Die Bilder von Gräfin v. Kanitz zeigen ein neugieriges und fröhliches, aber auch misstrauisches Volk. Eindrücklich sind die Bilder, wie fast alle Männer einer Dorfgemeinschaft nach dem Freitagsgebet auf die Strasse rennen, um ein ausländisches Paar zu sehen, das ihr Dorf besucht.

Oder ein Volk, das im Atan (9) und in seiner Volksmusik die Freude am Leben zeigt. Ein Volk, das in Minuten der Freude in der Lage ist, den traurigen Alltag zu vergessen. Sie geben den Widerschein eines Lichtes, welches die Gesichter trotz Lumpen und Armut erstrahlen lässt. Die Fotografien zeigen die mächtigen Berge, die Siedlungen, die nach aussen schmucklosen Häuser, die einladenden Teestuben, die Nomadenzelte und ihre Bewohner, die Dörfer, den Staub auf den Pfaden, die Waren in den Dokans (10) sowie die Kleider der Bewohner.

Persönlich zeigen mir die Fotografien, wie Afghanistan vor 60 Jahren aussah. Widrige Zustände haben heute das Land und die Menschen verändert. Die Bilder, die tief in mir schlummerten, wurden durch die Aufnahmen von Gräfin v. Kanitz wieder zu neuem Leben erweckt. Ich habe die Quartiere von Kabul und Kandahar in Gedanken durchwandert, das zerstörte Mausoleum von Gauhar Shad in der Musalla von Herat besucht, mit den Nomaden geplaudert, mit den pashtunischen Tänzern wieder getanzt, die Bamiyan-Grotten und die wundervollen Fresken bewundert und mit dem blinden Sänger wieder Tränen vergossen. Die Bilder zeigen mir die Schönheit des Bamiyan-Tals, die Majestät des Hindukush, und was ein Unmensch wie Dschingis Khan oder der Turkmongole Tamerlan (Timor Leng) aus der blühenden Oase von Helmand, der Stadt Zaranj, einer Kulturstadt wie Balch, oder aus Menschen machen kann. Menschen, die ihr Dorf und ihren Besitz schützen wolltenund aus Blutrache zwischen Brüdern, Verwandten und Nachbarn den Ruin der Samaniden und der Ghaznaviden, heraufbeschworen.

(1) Im Mädchennamen Yvonne Gräfin v. Kanitz, nach der Hochzeit: Yvonne v. Schweinitz.
(2) Hunza bezeichnet ein kleines, verstecktes Königreich im Himalaya (Nordpakistan).
(3) Quelle: Leon B. Poullada „The Kingdom of Afghanistan and the United States: 1828-1973“, Seite 40.
(4) Musalla heißt übersetzt: Haus für das Gebet.
(5) Gauhar Shad (*um 1378 - † 1. August 1457); persische Adelige und erste Frau von Schah-Rukh. Förderin der Literatur und der Künste.
(6) Timur Leng war ein zentralasiatischer Eroberer am Ende des 14. Jahrhunderts und Gründer der Timuriden-Dynastie in Persien.
(7) Abdur Rahman Khan (*1844 - †1. Oktober 1901) war von 1880 bis 1. Oktober 1901 Emir von Afghanistan.
(8) Die Durand-Linie ist eine ungenaue, 2.450 km lange Demarkationslinie zwischen Afghanistan und Pakistan.
(9) Atan ist ein traditioneller Tanz mehrerer Bevölkerungsgruppen in Afghanistan und gilt als Nationaltanz.
(10) Dokans sind offene Verkaufsläden und -stände.


Yvonne von Schweinitz: "Gesichter Afghanistans - Erfahrung einer Alten Welt". Alle Fotos: (c) Yvonne von Schweinitz
In der Reihe „Kunst in der Handelskammer“ erscheint ein Katalog mit Abbildungen der Fotografien und Texten von Prof. Dr. Habibo Brechna, Claus Friede und Mathias von Marcard.

Eine Ausstellung von Claus Friede*Contemporary Art (www.cfca.de) und Marcard Pro Arte & VV GmbH (www.marcard.net)
sowie der Handelskammer Hamburg und der Elsbeth Weichmann Gesellschaft e.V., wurde in Hamburg gefördert durch die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Die Ausstellung in der Villa Ichon, Bremen wird gefördert durch die Markert Gruppe Hamburg/Neumünster (www.markert.eu).

Laufzeit: 15.12.2011 – 21.01.2012
Eintritt frei
FInissage: 21.01.2012 Lesung von Diana Nasher: "Töchterland – Ein Buch über eine deutsch-afghanische Familie" in Kooperation mit dem Heyne Verlag München und dem Literaturkontor Bremen.

Villa Ichon
Goetheplatz 4
28203 Bremen

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