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Das Kind mit dem Gips langweilt sich und ist ein bisschen einsam, nachts muss es manchmal dringend von der hübschen Schwester Evelyn geknuddelt werden (und der junge Arzt, der eigentlich dasselbe Anliegen hat, wird von der Schwester schnell mit einer Geste auf später vertröstet.)
Schließlich entdeckt das kleine Mädchen Roy und freundet sich mit ihm an.
Catinca Untaru erklärte man, Lee Pace sei tatsächlich nach einem Unfall gelähmt. Der Schauspieler wurde täglich im Rollstuhl zum Set gebracht und vorsichtig in sein Bett getragen, von allen bedauert – ja, denn damit es wirklich authentisch blieb, schwindelte Tarsem den gesamten Stab mit an. Als Pace nach Beendigung der Dreharbeiten im Krankenhaus plötzlich aufstand und wandelte (bis dahin hatten alle geglaubt, ein anderer Darsteller sollte in den ‚Märchenszenen’ den maskierten Banditen spielen) da konnten unkompliziertere Gemüter lachen, sensiblere brachen in Tränen aus und einige waren kompakt böse.
Ich bin der Ansicht, dass Lee Pace seine Rolle ganz hervorragend spielt, zumindest im Sinne des Regisseurs, dem es so sehr auf Glaubhaftigkeit ankommt. Er ist genau der intelligente, vom Schicksal beleidigte, etwas weichliche junge Mann, der er sein soll; nicht übertrieben kinderlieb, aber ganz amüsiert von dem Pummelchen im Nachthemd mit umgebundener Strickjacke. Er beginnt also, der Kleinen ein selbst erfundenes, improvisiertes Märchen zu erzählen. Wie die meisten nicht berufsmäßigen Erzähler, die meinen, so müsse man es machen, benutzt er eine Art Sonntagssprache, Formulierungen wie: „…little did he know…“ oder entsprechend: „…wusste er doch nicht…“
Die Geschichte handelt von fünf Männern, die den bösen Gouverneur Odious töten wollen. Die Erzählung ist von Roys Tagesform abhängig, sie nimmt unerwartete Wendungen und sie ist wirklich ziemlich simpel. Hier liegt ja nicht Shakespeare mit gebrochenen Knochen, sondern ein depressiver Normalbürger, deshalb darf die Fabel, die er täglich anstückelt (respektiert man Tarsems Bedürfnis nach Echtheit) gar nicht brillant sein.
Während wir Roy nur hören, so sehen wir die Handlung durch Alexandrias Augen, was ungemein entschädigt. Denn aus der Ruhe und vergleichsweisen Einfarbigkeit des Krankenhauses explodiert der Film, sobald er die fünf Helden zeigt, in einer Orgie aus Farbe, Tempo und verblüffenden Landschaften oder Bauwerken. Tarsem stand die ganze Erde zur Verfügung und er hat sich großzügig bedient. Auf der Jagd nach dem bösen Odious hetzen die Helden mal schnell für ein paar Sekunden an den Pyramiden oder der großen chinesischen Mauer vorbei und die schöne Prinzessin wird für ihre Hinrichtung vor dem Taj Mahal festgezurrt, alles in echt.
Ebenso phantastisch wie die Szenarien sind übrigens auch die Kostüme der Japanerin Eiko Ishioka, die schon für die Gewänder in Bram Stoker’s Dracula den Oscar bekam.
Das unwillkürliche Casting im Kinderkopf funktioniert ganz glaubhaft, Alexandria verarbeitet natürlich nur das, was sie kennt. Der starke Ex-Sklave Otta Benga beispielsweise sieht aus wie der nette Schwarze, der dem Krankenhaus Eisblocks liefert, der Sprengstoff-Experte ähnelt dem einbeinigem Stuntman, der, während Roy im Krankenhaus liegt, dessen kleinen Hund in Pflege hat. Die schöne Prinzessin gleicht selbstverständlich Schwester Evelyn, einer der Krankenpfleger ist das Vorbild für den jungen Charles Darwin im Schmetterlingsmantel, der böse Odious trägt nicht nur den Kopf des berühmten Hauptdarstellers Sinclair, der Roy die Freundin ausspannte, sondern auch gleich seinen gestreiften Anzug. Der maskierte Bandit schließlich, die Hauptfigur, muss Roy selber sein.
Und dann gibt es noch den Indianer… In Alexandrias Phantasie zeigt sich dieser Mann von Anfang an als Inder. Schließlich ist sie mit einem befreundet, der auch auf der Orangenplantage arbeitete, und das Wort Indian steht (seit Columbus’ Irrtum) für beide Rassen. So hören wir Roys Stimme, die von Wigwam und Squaw spricht und sehen gleichzeitig den Mann mit Bart und Turban, dessen verschleierte Frau in einem orientalischen Palast lebt. Die hübsche Idee dieses Missverständnisses wurde von der deutschen Synchronisation totgetreten; hier heißt es im Text immer nur Inder – in Unterschätzung des Publikums?
Gouverneur Odious befehligt eine Armee knurrender, blaffender Soldaten, deren Panzer und Helme Kopien der verbleiten Sicherheitsuniform des Röntgentechnikers im Krankenhaus sind, vor dem Alexandria sich fürchtet. Und genau wie das Kind besitzt der junge Charles Darwin eine Zigarrenkiste zum Transportieren seiner Schätze.
Auch auf anderer Ebene taucht die Realität immer wieder in das Märchen ein und umgekehrt. Wenn Alexandria zappelt und sich die Hand zwischen die Beine klemmt, weil sie doch gerade jetzt weiter zuhören will, statt einem dringenden Bedürfnis nachzugeben – dann sagt der demaskierte Bandit höflich zu der ebenfalls zappelnden und klemmenden schönen Prinzessin: „Die Damentoilette ist dort hinten links…“
Und mitten im wilden Galopp einer Verfolgungsjagd dreht sich der Bandit auf dem Pferd zu seiner Zuhörerin, um sich zu erkundigen: „Kannst du eigentlich schon lesen?“
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