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Ist das nicht tragisch? Ein Regisseur sucht bis zur Verzweiflung nach einem unbefangenen kleinen Mädchen, und als er es gefunden hat bekommt er vorgeworfen, das Kerlchen wirke unbedarft.
Immer wieder hielt man Tarsem den fast gleichzeitig erschienenen Film „Pans Labyrinth“ von del Toro vor die Nase: Hier, SO hätte er das machen müssen! Eine vernünftige, logische Geschichte, ein glaubwürdiger politischer Hintergrund. Das landete bestimmt nicht aus Versehen im Kinderfilmwettbewerb. Da wusste man, woran man war.
Und das, scheint mir, ist der Hauptgrund für das Fall-Desaster: die Leute wissen nicht, wo sie es einsortieren sollen. Sie sind aber gewohnt, in Sparten, Genres und Rubriken zu denken. Sie haben gar keine Zeit, um ein Gebilde daraufhin zu untersuchen, wo es hingehört. Jemand, der mehr als zwanzig Jahre an einen einzigen Film gibt kommt aus einer anderen Welt.
Seit Anfang September ist die deutsche DVD im Handel.
Was gibt es zu sehen? Am Anfang in Schwarzweiß eine Eisenbahnbrücke über einem Fluss. Eben muss die Katastrophe passiert sein, die Stuntmen Roy zustieß. Die Szene wirkt seltsam verfremdet, weil die wilde Betriebsamkeit, mit der sich alle bemühen, den Verunglückten zu retten, in Zeitlupe abläuft, ganz im Gegensatz zum üblichen hektischen Getrippel uralter Filme. Außerdem – obwohl deutlich sichtbar geschrieen und gebrüllt wird – hört man keine Stimmen oder Geräusche, nur das schmerzhaft schöne, gravitätische Allegretto aus dem 2. Satz von Beethovens Siebter Sinfonie.
Bereits in diesen allerersten Bildern wird viel erklärt oder angedeutet, flüchtig und nebenbei. Da ist der Indianer und da ist der Einbeinige, neben dem – stumm - ein weißes Hündchen kläfft. Wer den Hintergrund nicht kennt, dem fällt das nicht auf oder es sagt ihm noch nichts.
(„Wenn Sie meinen Film zum zweiten oder dritten Mal sehen, werden Sie bemerken…“ hat Tarsem Singh in aller Ruhe gesagt. Er scheint das für selbstverständlich zu halten. Ich hab tatsächlich kein Problem damit, interessante Filme immer wieder anzuschauen. Aber was ist mit den Leuten, die am ‚Kenn-ich-schon’-Syndrom leiden? Die werden nie erfahren, was dahinter steckt.)
Der Pferde-Rest wird aufgefischt und mit dem Kran abtransportiert.
Der Roy-Rest begegnet uns gleich darauf und jetzt in Farbe wieder, im Krankenhausbett.
Den gefährlichen Stunt – seinen ersten – hatte er vor allem gemacht, um seiner Freundin zu imponieren, die ihn praktisch gleichzeitig mit seinem Unfall verließ, um sich Sinclair, dem berühmten Hauptdarsteller zu widmen. Zwar weint sie nun ein wenig im Auto vor der Tür. Aber deshalb besucht sie Roy noch lange nicht am Krankenbett.
Roy ist also gebrochen an Hüfte und Herz. Fraglich, ob er je wieder laufen oder lieben kann.
Im selben Krankenhaus befindet sich die kleine Alexandria, sie spricht Englisch mit dickem rumänischem Akzent (bedauerlicherweise nicht in der deutschen Fassung!), trägt den Arm in Gips, weil sie beim Orangenpflücken vom Baum gefallen ist und schleppt eine alte Zigarrenkiste mit sich herum, die ihre ‚Schätze’ beherbergt, Fotos ihres verstorbenen Vaters zum Beispiel und einen kleinen Elefanten, das Geschenk eines befreundeten Inders.
Tarsem, dem es auf Perfektion ankam und nicht auf Zeit, drehte die Krankenhausszenen ein Vierteljahr lang in chronologischer Reihenfolge. Das hatte viele Vorteile, wie etwa, dass Alexandrias Englisch zuerst sehr holprig klingt und nach und nach immer besser wird.
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