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Modern Monsters – Death and Life of Fiction - Taipeh Biennale 2012

Die 8. Taipeh Biennale 2012 nimmt sich thematisch einem Geschöpf an, das in der alten chinesischen Mythologie als Monster namens Taowu existiert und im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zur Inkarnation unterschiedlicher Ausprägung wurde.
Das klingt zunächst einmal recht rückwärtsgewandt, traditionell und befremdlich, doch der in den USA lebende Literaturhistoriker David Der-Wei Wang präzisierte und modernisierte in seinem Buch „The Monster That Is History“ Taowu als chinesische Geschichte per se. Der Biennale-Titel "Modern Monsters – Death and Life of Fiction" bekommt somit eine zeitgenössische Prägung.

Die chinesische Geschichte und deren Unkalkulierbarkeit in Sachen Verlauf, Beeinflussbarkeit und menschliche Intervention steht für den Harvard Professor Wang außer Frage. Wenn die Geschichte ein bösartiges Monster ist, das gleichzeitig die Vergangenheit und die Zukunft in sich trägt, dann sah und sieht es für den Menschen schlecht aus. Fiktive Weltverbesserung, eigentliche jedwede (literarische) Utopie, so sagt Wang, wird nach Taowu grundsätzlich durch systematische und kompromisslose Gewalt überschattet. Wang erachtet die moderne chinesische Geschichte als eine komplexe, geopolitische, ethnische, geschlechtsspezifische und persönliche Aneinanderreihung von vergangenen und zukünftigen Ereignissen unter dem Edikt der Gewalt und Brutalität. Zwei Beziehungsachsen streiten miteinander: Geschichte und Repräsentation mit Modernität und Monstrosität. Wangs Statement reicht von der brutalen Politik der Enthauptung bis zur Poetik der Selbsttötung und von der Typologie des Hungers und der Entkräftung bis zur Technologie des Verbrechens und der Bestrafung.

altEin komplexes bis kompliziertes, schmerzliches, tiefgreifendes, aber auch durch und durch politisches und philosophisches Thema, das sich die Biennale-Macher im fernen Taiwan vorgenommen haben. Aufschlussreich und interessant allemal, zumal der Brückenschlag zwischen chinesischen und westlichen Denkmodellen und Haltungen nicht nur in der Person des deutschen Hauptkurators Anselm Franke und den chinesischen Ko-Kuratoren kulminieren, sondern weil sich der Versuch das Wang'sche Taowu-Trauma auch mit Künstlern aus dem Westen zu untersuchen durch die ganze Ausstellung im Taipei Fine Arts Museum und der Paper Mill durchzieht. Kaum eine Arbeit ist in der Schau zu sehen, die die Besucher nicht irgendwie berühren könnte.

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54 Künstler sind eingeladen worden, sich künstlerisch über Tod und Leben (man beachte die Reihenfolge) von Fiktion zu äußern. Der Spiel- und Denkraum ist gewaltig, ein ganzer Fächer von gelungenen und weniger gelungenen künstlerischen Äußerungen tut sich auf. Die Gefahr, dass bei einer derartigen Anzahl von Künstlern und Werken ein scheinbar unüberschaubares Gewirr von Kunstproduktionen entsteht, haben die verschiedenen Kuratoren dadurch gebannt, dass sie quasi Kapitel und Zentren geschaffen haben. Sie nennen diese „Mini-Museen“: The Museum of Rhythm, The Museum of Ante-Memorials, The Museum of the Monster That Is History, The Museum of the Infrastructural Unconscious, The Museum of Gourd und The Museum of Crossings. Neben den Kunstwerken haben die jeweiligen Mini-Museums-Kuratoren selbst Hand angelegt und ihre Sicht auf die Themen mit weiteren Objekten, Filmen, Plänen, Texten, etc. verbunden.

Der Besucher benötigt viel Zeit, um sich durch die Mini-Museen zu arbeiten und die verschiedenen Kontexte miteinander verbinden zu können. Nur einige wenige Beispiele können hier einen Einblick in die Ausstellung geben.

Gleich am Eingang des Taipei Fine Arts Museums hat die Dramaturgin und Kuratorin Hannah Hurtzig – vielen ist sie noch als künstlerische Leiterin auf Kampnagel in Hamburg in Erinnerung – eine Installationssituation mit dem Titel "The Waiting Hall. Scenes of Modernity" geschaffen, die sich der Wissensvermittlung mit Hilfe eines Ton- und Filmarchivs widmet. Die diskursive Veranstaltung, die am Eröffnungsabend stattfand, ist während der Laufzeit der Ausstellung als selektives Archiv erlebbar. Modernität ist bei Hurtzig ein undefinierbares Etwas, das in den unterschiedlichen Disziplinen niemals auf einen übereinstimmenden Nenner gebracht werden kann. Um allerdings die kleinen büroartigen Raumquadrate mit den Archiven zu erreichen, muss jeder Besucher über eine Art Catwalk überhaupt erst einmal in die große Lobbyhalle gelangen, die Hurtzig als Backstage-Bereich definiert, als Wartehalle. Es entsteht für die Besucher eine kafkaeske Situation von warten und warten lassen. Schaut man schließlich von der Lobby auf die lange, den Eingang abschirmende Wand zurück, wird den Besuchern bewusst, dass sie regelrecht durch ein durchleuchtetes Zwischenreich gegangen sind. Die Schatten der Entlanglaufenden und Eintretenden wirken wie eine ausgeklügelte, sinnlich-theatrale Inszenierung und verweisen einerseits auf eine marionettenhafte Kontrolle eines jeden Schrittes, aber anderseits auch auf eine spielerisch-unwirkliche Szene.

Besonders erwähnenswert ist die von John Akomfrah auf drei großen Leinwänden simultan projizierte Filmarbeit „The Unfinished Conversation“, die bereits auf der Liverpool Biennale gezeigt wurde. Selten hat ein Werk, das sich mit Identität auseinandersetzt, sich so einfühlsam und bildgewaltig gegeben wie hier. Anhand des Lebens von Stuart Hall, einem in Jamaica geborenen Intellektuellen, Aktivisten und Kulturwissenschaftler, der 1951 nach England kam und mittlerweile über 80 ist, blättert der Film in einem chronologischen Tagebuch. Die patente Haltung des Filmprotagonisten, dessen Anstand, Gelassenheit und herausragende Intelligenz, fokussieren die divergierenden Kräfte seines persönlichen und intellektuellen Hintergrunds: er ist portugiesisch-jüdischer-afrikanisch-englischer Abstammung. Akomfrah, selbst in Ghana geboren und in England lebend, füllt die Sympathie zu Hall mit seinen eigenen Erfahrungen und inszeniert punktgenau seine Bildwelt. "The Unfinished Conversation" steht ganz in seiner inhaltlichen Werktradition, in der er sich mit Kolonialismus, Widerstand und Diaspora auseinandersetzt.

Dass Geschichte in Schlangenlinien verlaufen kann, zeigt eine andere Installation und Videoarbeit des taiwanischen Künstlers Hsu Chia-Wei. Im Mittelpunkt des Werks steht eine winzige Insel vor der Küste Taiwans. Während der Qing Dynastie wurde dort ein Tempel in der Größe einer Zelle errichtet, in dem ein göttliches Wesen beheimatet war. Als Chiang Kai-Shek sich mit seinen Truppen nach dem verlorenen Bürgerkrieg nach Taiwan zurückzog, wurde der Tempel aus strategischen Gründen abgebrochen und an seiner statt ein Bunker gebaut. Die Insel wurde zum militärischen Sicherheitsbereich. Es ist noch gar nicht lange her, dass die winzige Insel den rechtmäßigen Eigentümern wieder übergeben wurde.
Der Künstler inszeniert die Rückkehr eines vergleichbaren Tempels und des dort innewohnenden göttlichen Wesens. Den Tempel ließ er in Originalgröße und mit allem Interieur im Stile eines filmischen Set-Designs nachbauen.

Der französische Fluxus-Künstler Robert Filliou ist mit einer zwölfteiligen Fotocollage vertreten, die die Erinnerung an die gefallenen Soldaten der kriegsteilnehmenden Länder des Ersten Weltkriegs regelrecht durcheinander bringt, aber gleichzeitig auch verbindet. Seine 1970 für eine Ausstellung in Aachen entstandene Arbeit "CommemoR" ist mehr als ein gedanklicher Grenzwechsel – sie ist eine Kampfansage an die Monster Krieg, Gewalt und Unmenschlichkeit. Mit dem Projekt wollte der 1987 verstorbene Künstler den europäischen Völkern durch Austausch ihrer Kriegsdenkmäler zu einer endgültigen Versöhnung verhelfen. Eine typische Arbeit Fillious, denn sie zeigt sein überzeugt pazifistisches Denken und Handeln, das er konsequent seit Beginn seiner künstlerischen Arbeit im Jahr 1960 postulierte.

Die Ausstellung ist im Fazit ein durchaus erfolgreicher Versuch, sich der heutigen Welt mit jenen Fragen zu stellen, die unser Gestern und unser Morgen betreffen. Das Hinterfragen der Systeme und der Umgang mit unserer jeweiligen Geschichte lässt die Welt zwar kurzfristig nicht besser werden, aber wir wissen, worauf wir uns immer wieder einlassen: Die Fiktion ist tot, es lebe die Fiktion.


Die Taipeh Biennale ist noch bis zum 13. Januar zu sehen. Taipei Fine Arts Museum (Lobby, 1. bis 3. Stock, Adresse: 181, Sec. 3, Zhong Shan N. Rd. Taipei, Taiwan) und in der Paper Mill (Adresse: 31, Fude Rd., Shilin Dist., Taipei, Taiwan).
Geöffnet: Dienstag bis Sonntag 09:30 bis 17:30 Uhr und Samstag 09:30 bis 20:30 Uhr.
Weitere Informationen unter: www.taipeibiennial.org


Bildnachweis: © Taipei Bienniale 2012
Header: Eingang des Museums zur Taipeh-Biennale. Foto: Claus Friede
Galerie:
01. Kurator Anselm Franke
02. Installationszeichnung von Hannah Hurtzig
03. John Akomfrah: „The Unfinished Conversation“
04. Chia-Wie Hsu: Marshal Tie Jia, 2012, HD Farbvideo, Sound; Installation Tempelszene, ca. 6,5 Min.
05. Robert Filliou: COMMEMOR, 1970/2003, 12 Schwarz-weiß Fotografien, teilweise collagiert, je 70x100 cm Courtesy: Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf
06. Rosemarie Trockel: Copyright is a Myth, 2012, Digitaldruck, 90x70 cm
07. Wei-Li Yeh: Antiquity-Like Rubbish Research & Development Syndicate in Miaoli, 2012
08. The Otolith Group: Daughter Products (1952–1962), 2011, Series von 56 Silbergelatine Drucken
09. Marysia Lewandowska und Neil Cummings: Museum Futures - Distributed, 2008, HD-Video, 32 Min. Courtesy: Moderna Museet Collection, Stockholm.
10. Chieh-Jen Chen: Happiness Building I, 2012, 3-Kanal HD-Videoinstallation, 82 Min. Foto: Chen You-Wei
11. Jakrawal Nilthamrong: Zero Gravity, 2012, HD-Video, 28 Min.
12. Harun Farocki: Parallel, 2012, 2-Kanal HD-Videoinstallation, 17 Min.

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