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Sommertheaterfestival 2012

Erinnerungen können durchaus täuschen und es war bestimmt nicht alles gut, was in früheren Zeiten beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel gezeigt wurde, aber es bleiben doch etliche Eindrücke unvergesslich.
Was war das beispielsweise für eine Aufregung, als die katalanischen Feuerteufel Fura dels Baus Anfang der 90er-Jahre Kampnagel regelrecht in Brand setzten! Ungeheuer faszinierend und gleichermaßen furchterregend war dieses Spektakel! Oder das Stück „Rebis“ des kolumbianischen Ausnahmetänzers Alvaro Restrepo: Wie gebannt sah man auf dieses kauernde Etwas, das anfangs eher einer Amöbe glich als einem Menschen, um dann alle Stufen der Evolution zu durchlaufen. Was für eine Körperbeherrschung! Was für meisterhafte Metamorphosen!

Eingemeißelt im Gedächtnis bleibt auch die atemberaubende Artistik der sprunggewaltigen Tanztruppen LaLaLa Human Steps aus Montreal oder Les Ballets C de la B aus Antwerpen. Ja, wirklich: Es waren magische Momente, die den Hamburgern (und allen Tanztheatertouristen) in den 90er-Jahren auf dem Internationale Sommertheater Festival auf Kampnagel geboten wurden. Insbesondere die Eröffnung war jedes Jahr ein Highlight: Berauschende, sinnliche und hochemotionale Aufführungen, die man einfach nicht versäumen durfte und deshalb auch ohne mit der Wimper zu zucken die Urlaubspläne danach ausrichtete.

Das ist lange her. Die Leiter wechselten, die Namen wechselten und vielleicht stumpfen die Zuschauer mit den Jahren auch etwas ab. Gleichwohl hat sich bei mir der Eindruck gefestigt, dass das Internationale Sommerfestival viel an Sinnlichkeit verloren hat. In den vergangenen fünf Jahren unter Matthias von Hartz wurde es nun vollends verkopft, mit riesigen Ansprüchen und Wahnsinnskonzepten beladen (in diesem Jahr findet u.a. ein Marathon mit 11 Perspektiven zu Wachstum statt) – aber, aber… leider blieben die mitreißenden Aufführungen zunehmend auf der Strecke.

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„Levée des conflits“ (die Aufhebung der Konflikte), der Festivalauftakt von Boris Charmatz in diesem Jahr, ist nun der vorläufige Gipfel an sprödem Konzepttanz: 24 Tänzer kommen nacheinander auf die Bühne, um jeweils 25 einzelne Bewegungen auszuführen. Sie wischen mit den Händen über den Boden, rollen sich ein und wackeln mit dem Po, erheben sich langsam und vollführen wie einst Charlie Chaplin in „Moderne Zeiten“ merkwürdige Arbeitshandlungen in der Luft, um sich schließlich krampfartig aufzubäumen und hinzuwerfen. Erst laufen diese Bewegungsmuster zeitversetzt, gegen Ende fast parallel. Wie Rädchen in einem Getriebe wirken die Tänzer des Musée de la danse in Rennes in dieser minimalistischen Choreographie, wie die einzelnen Moleküle eines pulsierenden Körpers, einer zuckenden Skulptur, die sich zum Schluss zu einem Strudel formt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ein schöner Moment ist das und hier stellt sich zu den experimentellen Klängen von Henry Cowell Miles Davis und Helmut Lachenmann in der Tat so etwas wie ein Sog ein. Doch das sind maximal zehn Minuten von hundert. Lasst es gut sein, möchte man die übrige Zeit rufen, wir haben verstanden. Und so beklatscht man wie erlöst zum Schluss die völlig verausgabten Tänzer – für sie war es eine Tortur, für die Zuschauer aber auch.

Boris Charmatz wollte mit diesem Stück die Grenzen zwischen Bühne und Museum überwinden, eine neue Form der beweglichen Installation schaffen. Ursprünglich sollten die Zuschauer nach eigenem Belieben und so lange sie wollen, diese neue Form der sozialen Skulptur besichtigen können. So, wie es auch Tino Sehgal in seinen eigenwilligen Installationen vorsieht. Sehgals temporären Kunstwerke sind nicht materiell, sondern Gedankengebäude, die in bestimmten Situationen und Begegnungen mit dem Publikum entstehen. Für das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel konzipierte der 36-jährige Künstler die Arbeit „This is Exchance“ auf der Empore im Foyer: Ein leerer kleiner Raum, in dem ein netter junger Mann den Besucher mit der Frage konfrontiert: „Was sagen Sie zur Marktwirtschaft?“ Dann kann es vorkommen, das plötzlich ein halbes Dutzend Menschen im Kreis stehen und über Marktwirtschaft diskutieren, gestikulieren, den Standort wechseln. Der Sprung zu Charmatz ist damit gar nicht mehr so weit weg.

Es wäre auch in seinem Fall nur konsequent gewesen, „Levée des Conflits“ in einer Ausstellungshalle zu zeigen – man schaut rein, bleibt ein paar Minuten und geht wieder Dann wäre es wirklich etwas ganz Neues gewesen. So aber bleibt ein quälend langatmiges, bemüht konstruiertes Stück Tanz im Gedächtnis.

Eine Zumutung, in diesem Fall aber eine Positive, war auch das zweite Stück des Eröffnungsabends: „Die Priesterin“, des ungarischen Regisseurs Arpad Schilling und seines Ensembles Krétakör. Es handelt von der Schauspielerin Lilla, die mit ihrem Sohn aus Budapest in ein kleines Dorf zieht, um dort an der Schule Theater zu unterrichten. Drei Schauspieler und 15 Jugendliche aus Transsilvanien hat Schilling für seine außerordentlich spannende Collage aus fiktiven und dokumentarischen Szenen auf die Bühne geholt. In Videoeinspielungen wird anfangs das trostlose kleine Dorf irgendwo in Ungarn vorgestellt, später sieht man die Jugendlichen auf einer Mauer sitzen und über den Weggang der unkonventionellen, von den Schülern sehr geliebten Lehrerin diskutieren. Sie hatte keine Chance: Kollegen, Pfarrer, Eltern – alle in dem erzkonservativen Dorf machten ihr und ihrem Sohn das Leben schwer.

Was die Kinder hier erzählen, ihre Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, das wirkt alles absolut authentisch, im Film ebenso, wie auf der Bühne. Man kann als Zuschauer kaum unterscheiden, was real ist und was nicht. Auch durch die Beteiligung der Zuschauer gelingt es Schilling großartig, eingefahrene Sehgewohnheiten von Theatergängern aufzubrechen. So zum Beispiel, wenn die Schauspiellehrerin Lilla Sárosdi unvermittelt ins (hell erleuchtete Publikum fragt: „Wer von Ihnen hat schon einmal eine Frau geliebt?“ und dann der einzigen Dame, die sich schüchtern meldet, aufmunternd zuruft „dann sind wir ja schon mal zwei“.

Für Arpád Schilling, der 2009 den Europäischen Theaterpreis für Neue Realitäten im Theater erhielt, ist das Theater ein Instrument, gesellschaftliche Veränderungen zu spiegeln. Ein Ort, „wo, im Idealfall, die Zuschauer als repräsentatives Muster der Gesellschaft an Szenarien jener Probleme beteiligt sind, die ihr Leben unmittelbar berühren“. „Die Priesterin“ ist ein beeindruckendes Beispiel dafür“.

Das am stärksten beindruckende und berührende Stück der ersten Festivalwoche war jedoch Lola Arias „Melancholie und Protest“. Bewundernswert, diese junge Theatermacherin. Nicht nur, weil sie mit einfachen Mitteln unerhört starke Bilder zu erzeugen vermag, auch wegen ihres Mutes, ein so persönliches Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Mit so viel Liebe, Humor und Witz die Geschichte ihrer manisch-depressiven Mutter nachzuerzählen und sie dabei selbst noch aus dem Off sprechen zu lassen. Schonungslos, aber nicht ohne Witz, schildert Arias die kleptomanischen Anfälle der Mutter, einer Literaturprofessorin, in manischen Phasen, die Versuche, mit Tabletten, Therapien und Singen die Traurigkeit zu bekämpfen. Dabei wird klar, dass dieses Bedürfnis, die Krankheit der Mutter zu verstehen, in den diffusen Schuldgefühlen der Tochter begründet liegt: Die Depressionen setzten erst nach ihrer Geburt 1976 ein. „Wieso war meine Geburt ihr Auslöser und nicht die meiner älteren Schwestern?“, fragt Lola Arias am Rande vor einem Mikrofon stehend, während eine Schauspielerin in einer kleinen Holzkiste Episoden aus dem Leben der Mutter nachspielt. „War es überhaupt die Geburt oder war nicht vielmehr der Militärputsch in Argentinien 1976 der Auslöser der Krankheit? Die Tatsache, dass immer mehr Studenten aus den Literaturseminaren für immer verschwanden?“ Fragen, die im Raum stehen, auf die es jedoch keine Antworten gibt. Die jedoch klar machen, wie schwammig die Grenzen zwischen Privatem und Politischem verlaufen.

Wie der ungarische Kollege Arpad Schilling arbeitet auch die Südamerikanerin Arias mit unterschiedlichen Medien. Sie mixt Musik, Video und Schauspiel und schafft so ein facettenreiches Bildertheater von großer Suggestionskraft. Zwei Frauen und zwei Männer deutlich über 70 Jahre, begleiten das Spiel als Statisten und bedienen die Jalousie, die den Kasten mitunter verschließt und als Projektionsfläche der Filmszenen dient. Sie haben ihren großen Auftritt im zweiten Teil des Stückes, im „Protest“. Selbstbewusst stellen sich die vier Senioren vor das Publikum und ziehen vom Leder: Sie haben es satt, nicht mehr ernstgenommen zu werden. Sie wollen Liebe, Sex, Anerkennung und Würde. „Auch ihr werdet einmal so sein“ schleudern sie den Zuschauern entgegen und entblättern dabei ganz, ganz langsam ihre alten Körper.
Hut ab vor diesem Quartett. Und mehr Theater von dieser Qualität.


Das Internationale Sommerfestival 2012 findet noch bis zum 25. August statt.
Kampnagel Hamburg, Jarrestraße 20, in 22303 Hamburg
Weitere Informationen

Bildnachweis:
Header: Szene aus Lola Arias' „Melancholie und Protest“. Foto: L.Fernandez
Galerie:
01. Logo Sommertheater Festival 2012
02. Boris Charmatz' „Levée des conflits“. Foto: C. Ablain
03. Arpad Schillings „Die Priesterin“. Foto: M. Ridovics
04. Lola Arias' "Melancholie & Protest". Foto: L.Fernandez.

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