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Zeit, schon eine erste Bilanz zu ziehen, ob die „popkulturelle Erzählung über die Gegenwart“, wie András Siebold das Festival zusammenfasst, auch hält, was der Chef verspricht.

Mit 150 Veranstaltungen, darunter fünf Uraufführungen, ist das Internationale Sommerfestival 2023 in jedem Fall das umfangreichste seiner Geschichte, auch wenn es immer noch etwas schmerzt, dass Tanz und Theater die drei prallgefüllten August-Wochen auf Kampnagel (9. bis 27.8.) schon lange nicht mehr dominieren.

 

Gefühlt zumindest besteht das dicke Programmheft zu dreiviertel aus Konzert, Party und Performances. Aber es gibt sie doch noch die großen aufregenden Compagnien. Zum diesjährigen Auftakt kamen La Horde & das Ballet National de Marseille mit der Uraufführung von „Age of Content“, in der sich das grandiose Ensemble, wie es im Programm heißt: „Der Faszinationsmacht virtueller Bilder stellt“.

 

Das Ergebnis war, zumindest im ersten Teil des Abends, weniger faszinationsmächtig als langatmig. Ja, schon klar, es geht dem avantgardistischen La-Horde-Trio (Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel) um die choreografische Auseinandersetzung mit virtuellen Welten, um die physischen und emotionalen Reaktionen auf die Fülle an Inhalten und gleichzeitigen Realitäten unserer Zeit. Doch die von Video- und Ballerspielen übernommene digitale Ästhetik wirkt auch auf der großen Bühne (die anfangs triste Hinterhofs-Atmosphäre samt Garagentor versprüht, um später, im Hintergrund, einen apokalyptischen, rot-schwarzen Höhlen-, bzw. Hölleneingang zu projizieren) so monoton und blutleer, dass sie schnell ermüdend wirkt. Das gilt für das ferngesteuerte Auto-Skelett, das wie von Geisterhand über die dystopisch wirkende Bühne hüpft, dreht und kippt, wie für die Horde „grüner Männchen“ (bzw. eher „grüner Weibchen“ mit langen Zöpfen), in jedem Fall Wesen wie vom fremden Stern, die das Auto von allen Seiten bespringen und sich gegenseitig dabei bekämpfen. Dann folgen Sequenzen von einem Paar „Avataren“, die in roboterhaft-ruckartigen Bewegungen eine Treppe hinauf- und wieder heruntersteigen, korpulationsartige Bewegungen auf dem Boden ausführen. Danach das Ganze von vielen „Avataren“.

ISF age of content F Fabian Hammerl„Age of Content”, La Horde/Ballet National de Marseille. Foto: Fabian Hammerl

 

Bei einer mittelmäßigen Tanztruppe wären die Eintönigkeit dieser Choreografie nicht auszuhalten gewesen, das Ballet National de Marseille jedoch ist technisch derart virtuos, dass man ihm gern zusieht, egal, was es nun tanzen muss. Wirklich furios und eine Entschädigung für die zu lange erste Halbzeit wurde dann das Finale: Wie befreit, als wären sie aus diesem düsteren Traum, der Gefangenschaft in digitalen Welten, aufgewacht, durften die Tänzer*innen zur Minimalmusik von Philip Glass zeigen, was in ihnen steckt. Euphorisch und enorm temporeich wirbelten sie über die Bühne: Ein wogendes Meer aus pulsierenden, drehenden, rollenden Körpern und lachenden Gesichtern. Hinreißend, mitreißend! Verständlich, dass Madonna die Compagnie für ihre nächste Tournee gebucht hat. Das Ballet National de Marseille kann Menschen glücklich machen.


Internationales Sommerfestival Kampnagel 2023

Bis zum 27. August 2023 auf Kampnagel Hamburg, Jarrestraße 20 in 22303 Hamburg

Weitere Informationen (Sommerfestival)

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