Der 11. August 1922 hatte es in mehrfacher Hinsicht in sich. In Deutschland war es der Verfassungstag – ein Feiertag – denn drei Jahre zuvor wurde die Verfassung der Weimarer Republik unterzeichnet.
Aber an jenem Freitag bestimmte Reichspräsident Friedrich Ebert das ehemalige Kaiserlied, nun „Deutschlandlied“ genannt, zur deutschen Nationalhymne. Auch in Österreich war die Melodie von Joseph Haydn nicht unbekannt. Die Filmpremiere von „Blood and Sand“ mit Rudolph Valentino als Stierkämpfer Juan fand an diesem Abend in Hollywood statt, und auf dem Atlantik ereignete sich auf dem White-Star-Dampfer „Adriatic“ eine schwere Explosion und unterbrach die Reise von Liverpool nach New York mit Toten und Verletzten.
An demselben Tag kamen im Salzburger „Café Bazar“ Komponisten, überwiegend aus Wien, zusammen. Sie hatten etwas vor, das eigentlich weitaus mehr Tragweite und Beachtung verdiente, als es heute in der öffentlichen Wahrnehmung der Fall ist!
Sie gründeten eine Vereinigung, die nach dem Grauen des Ersten Weltkriegs und der Überhitzung des europäischen nationalen Chauvinismus‘ eine länder- und völkerverbindende Qualität vorzuweisen hatte: ein transkulturelles Friedensprojekt: die „Internationale Gesellschaft für Neue Musik“, kurz IGNM[1] bezeichnet.
Es ging nicht nur darum, wie es der Name eigentlich und offensichtlich verrät, die Förderung der Neuen Musik international und kraftvoll zu festigen, oder lediglich darum, die Interessen der Komponist*innen und Interpret*innen zeitgenössischer Musik zu legitimieren, sondern es ging um viel mehr! Es ging um den Abschluss einer Epoche und den Beginn einer neuen – oder wie es der britische Musikkritiker Ernest Newman (1868-1959), der in jenen Jahren für die „Sunday Times“ arbeitete, formulierte: „Wenn wir in früheren Jahren in unseren Ferien nach Mitteleuropa kamen, um Musik zu hören, so war dies, um solche Musik zu hören, deren Anspruch darauf, gehört zu werden, bereits fest begründet war. Wir gingen nach Bayreuth oder München und sättigten uns mit Wagner oder Mozart. Der neue Geist ist viel abenteuerlicher.
Er geht nach Salzburg, nicht um Musik zu hören, die er liebt und kennt, sondern um Musik zu hören, die er nicht kennt, in der Hoffnung, daß etwas davon wert sein möchte, geliebt zu werden. Ein bewundernswerter Geist, in der Tat! [...] Diese Leute scheinen mir unmittelbare Nachkommen des Columbus zu sein, sie segeln über unbekannte Wasser, ein neues Land zu entdecken. [...] Eine große musikalische Epoche ist abgeschlossen. Eine neue scheint sich zu bilden.“[2]
Newman war ein Freidenker, was sich historisch als allgemeine Bezeichnung auf Personen bezieht, die den Anspruch erheben, dass sich ihr Denken nur durch die Evidenz der Sache und nicht durch eine Autorität bestimmen lässt. Freie Denker hätte Europa damals tonnenweise gebraucht – wie heute.
Immerhin gab es – es klingt fast banal lokal – in jenem Salzburger Kaffeehaus auf Anregung der Komponisten und Musikwissenschaftler Rudolf Réti und Egon Wellesz und in Anwesenheit der Komponisten Béla Bartók, Paul Hindemith, Arthur Honegger, Zoltán Kodály, Darius Milhaud und Anton Webern sowie in Abwesenheit von Alban Berg, Maurice Ravel, Ottorino Respighi, Arnold Schönberg und Igor Stravinsky ein Schriftstück, eine Gründungsurkunde. Festspielpräsident Richard Strauss übernahm das Protektorat. Der grundsätzliche Anlass des Treffens waren die „1. Internationalen Kammermusik-Aufführungen“ (7.-11.08.1922), die im Mozarteum stattfanden. Vermutlich wirkten darüber hinaus die ersten Donaueschinger Kammermusiktage (1921) gründungsanregend, mehr noch Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen in Wien (1918-21)[3].
Dieses Friedensprojekt „Neue Musik“ beruht auf verantwortlichem Denken und Handeln, auf Ethik und Moral als höchstes Gut, und dem Gewinn von kultureller Bedeutung, jedoch auch gleichzeitig auf dem Sichtbarmachen des Scheiterns von Politik, Monarchismus und Propagandalügen. Dieses Geflecht wölbt sich wie ein Dach über dieser Vereinigung. Nicht weniger als das! Gesellschaftlich – und obwohl tragischer Weise bis heute – oft im Legitimationskampf, im Erklärungs- und Rechtfertigungsmodus befindlich, steht die Kultur hier weit über der Politik mit einem Konzept, dass Zivilisation postuliert und nicht Zerstörung, Machthunger, Revanche, Abgrenzung, Nationalismus oder Faschismus. Menschen, die miteinander komponieren, musizieren, sich austauschen, verbindend denken und agieren, etwas Neues entwickeln und auf Verständnis und Erlebnis fokussiert sind, denen war der Verrat an der Zivilisation und die wörtlich zu nehmende Zerstückelung höchst zuwider.
Fast genau 100 Jahre später sitzt der promovierte Musikwissenschaftler Matthew Werley (Generalsekretär der Internationalen Richard Strauss-Gesellschaft und Senior Lecturer der Musikwissenschaft, Universität Mozarteum Salzburg) an einem Tisch im Café Bazar und blickt sowohl zurück wie nach vorne in die Entwicklung der IGNM und der Neuen Musik in Salzburg. Er ist der verantwortliche Kurator der Ausstellung „Achtung International!“ die ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Mozarteum, dem aspekteSALZBURG Festival und den Salzburger Festspielen ist und mit Unterstützung durch Stadt und Land Salzburg und dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung entstand.
Die Ausstellung erzählt mittels Fotos, Dokumenten, Partituren und Briefen unter anderem von den ersten „Weltmusiktagen“ der IGNM und wie die Neue Musik von Salzburg aus die ganze Welt eroberte. Es stehen neben der Darstellung Salzburgs als internationale Stadt in der Zwischenkriegszeit sowie die Begegnungen, die hier stattfanden, auch die globale Reichweite der Forschungsarbeit der Universität Mozarteum im Mittelpunkt, denn es konnten zahlreiche Exponate aus 51 Archiven weltweit und knapp 40 international renommierte Musikwissenschaftler*innen aus 13 Ländern für das Projekt gewonnen werden. Das Jubiläum wird 2022 – quasi ganzjährig[4] – mit unterschiedlichen Veranstaltungen begangen: Konzerten, einer Tagung (20.-22. April) an der Universität Mozarteum und der Ausstellungseröffnung am Premierentag des aspekteFESTIVALS (16. März 2022, 20:00 Uhr) im Großen Foyer am Mirabellplatz.
Matthew Werley spricht vom „Januskopf“ der IGNM: „Zum Zeitpunkt der Gründung hatte die Gesellschaft einen diplomatischen Zweck: Menschen zusammenzubringen und Musik zu hören, die vier oder fünf Jahre zuvor noch verboten war. Die IGNM war ein Projekt des (neuen) Hörens. Nach dem 2. Weltkrieg zeigte die Gesellschaft dann ein anderes Gesicht: Diese hochmoderne Musik zur Förderung von jungen Komponist*innen zu öffnen, alte Muster aufzubrechen und Neues zu finden.“[5]
Die Reflexion auf die Situationen der Gründungszeit, der Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg, die Neuausrichtungen und -fokussierungen sind auch für den Fortbestand wichtig. Die Frage an welcher Stelle wir innerhalb einer Epoche stehen, welche Kräfte uns weiterbringen können, lassen sich nur in einer feinsinnigen Weise beantworten.
In einer Zeit, in der ein europäisches Land erneut glüht von den Bränden und Schmerzen eines widerrechtlichen Krieges und einer pathologischen Angst des Kreml übervorteilt worden zu sein und mit einer machthaberischen Denkungsweise, die an das 19. und 20. Jahrhundert erinnert, gewinnt ein Friedensprojekt wie die Gründung der IGNM und das 100-jährige Bestehen derselben umso mehr an Bedeutung. Wir sollten und dürfen nicht vergessen, dass nur 1.600 Kilometer von Salzburg entfernt, sinnlos getötet und gestorben wird, während wir die Eröffnung einer internationalen, völkerverbindenden Vereinigung feiern, die vor 100 Jahren und bis heute gerade dieses verhindern wollte.
„Achtung International! Salzburg & 100 Jahre Internationale Gesellschaft für Neue Musik, 1922-2022“
Zu sehen bis 23. September 2022
Foyer der Universität Mozarteum Salzburg, Mirabellplatz 1, 5020 Salzburg, Österreich
Geöffnet: täglich, 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei
- Covid-19 Info
Weitere Informationen zur Ausstellung
- ISCM – International Society for Contemporary Music
- IGNM, Österreichische Sektion
- Gesellschaft für neue Musik. Deutsche Sektion der IGNM
- Schweizerische Gesellschaft für Neue Musik ISCM
[2] Vgl.: Zitat aus Programmflyer zum 100 Jubiläum und zur Ausstellung „Achtung International!“
[3] Vgl.: HAEFELI, Anton: „Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). Ihre Geschichte von 1922 bis zur Gegenwart“, Zürich 1982, S. 47.
[4] Termine im Jubiläumsjahr: 16. März, 20:00h: Ausstellungseröffnung „Achtung International!“ im Rahmen der aspekteSALZBURG , Foyer, Universität Mozarteum, Mirabellplatz 1, 5020 Salzburg
20. bis 22. April: Internationale Fachtagung „Wegzeichen Neue Musik“
7. bis 16. August: ARCO 22 Summer Academy Mozarteum
7. August: Kammerkonzert „100 Jahre IGNM“ mit den Wiener Philharmonikern, Salzburger Festspiele
11. August: Pressekonferenz im Café Bazar
25. November: Nacht der Komponist*innen
[5] Quelle: Begleittext zur Ausstellung.
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