Was wäre, wenn seit drei Jahrtausenden hauptsächlich Frauen geforscht hätten statt Männer? Wie wäre die Weltgeschichte dann verlaufen? Wie sähen die Fortschritte in der Medizin, in der Technik, in unserer Gesellschaft wohl aus? Kultur-Port.De fragt unter anderem bei der Begründerin der Gendermedizin in Deutschland – Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrozek von der Berliner Charité – nach, die an „HERstory“ mitgewirkt hat und nicht nur „Lebensgefahr“ bei jungen Herzinfarktpatientinnen diagnostiziert.
Solche und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt der soeben angelaufenen neuen vierteiligen ARD-Doku-Reihe „HERstory“, indem sie auf dem Sendeplatz „Geschichte im Ersten“ konsequent der Vergangenheit aus weiblicher Sicht nachspürt. Allzu oft – manchmal sogar ausschließlich – wird Geschichte aus männlicher Sicht erzählt und überliefert: HIStory. Kontrapunktisch erzählt „HERstory“ nun – bewusst einseitig – Geschichte ausschließlich aus weiblicher Sicht, inspiziert ganze historische Phasen mit weiblichem Blick und fragt: Warum hat sich hier die männliche Sicht der Dinge durchgesetzt und bis heute gehalten? Was wurde verschwiegen, was unterdrückt? Und vor allem: Welche Folgen hat das bis in unsere Gegenwart?
Im Licht dieser Herangehensweise wird es möglich, Genderskandale, -themen und -perspektiven vom heutigen Stand der Wissenschaft aus im Rückblick einzukreisen, zu erkennen und neu zu lesen, um Emanzipation als kulturgeschichtliche Herausforderung für die Zukunft zu begreifen. Auch dies – wie aktuelle Umwelt-, Kriegs- und Pandemiegeschehen – ein Weckruf der Geschichte. Denn nur so kann Fortschritt mit dem Ziel von mehr Gerechtigkeit und noch weitaus besserer gesundheitlicher Versorgung – auch und gerade für die „andere“ Hälfte der Menschheit, beziehungsweise kurz „die“ Hälfte der Erdbevölkerung, nämlich die der Frauen – erreicht und auf das nächste qualitativ hochwertigere Level angehoben werden. Das wiederum fördert Diversität und passgenaue Maßnahmen statt „one fits all“-Lösungen. Dass letztere sich bis heute am Prototyp „Mann“ – und auch hier nur innerhalb eines bestimmten „Normbereichs“ – orientieren, zeigt die Doku-Serie eindrücklich auf.
Die ebenso originelle wie progressiv anregende Auftaktfolge „HERstory: Lebensgefahr – Frauen und die Medizin“, die diese Woche ausgestrahlt wurde, ist ab sofort in der Mediathek der ARD die nächsten zwölf Monate lang zu sehen: Es lohnt sich. Darin untersucht und führt etwa die schwedische Verkehrssicherheitsexpertin Astrid Linder (PhD) vor, in welchen Extremfällen es absolut tödlich sein kann, wenn Frauen im „toten“ Winkel bleiben. Weil Sicherheitstests, Medizin und Forschung immer noch den Mann als das Maß aller Dinge ansetzen – 70 bis 80 Kilogramm schwer, 1,80 Meter groß – sterben Frauen, obwohl ihr Tod vermeidbar gewesen wäre.
Das belegen Unfallstudien, zum Beispiel in Autos, die bis heute ausschließlich an männlichen Dummys getestet werden. Um das höhere Verletzungsrisiko zu minimieren – namentlich das Schleudertrauma, an dem viele Frauen oft viele Jahre als Spätfolge leiden, da sie eine schwächere Nackenmuskulatur haben, Nackenstützen aber am „Modell Mann“ entworfen und nur an Männern getestet werden –, ist es notwendig, auch Crash-Tests mit weiblichen Versuchspuppen durchzuführen, meint Linder. Genau das hat sich die Ingenieurin zum Ziel gesetzt und kurzerhand den ersten Frauen-Dummy „Eva“ entworfen: Dessen nachgebauter Körper ist kleiner (1.66 m) und leichter (62 kg) als der männliche Dummy. „Eva“ hat ein breiteres Becken und ist der geringeren weiblichen Muskelkraft angepasst: Frauen haben keine „Männernacken“, weswegen die Sicherheitssitze in deutschen Autos für Frauen nicht optimal geeignet sind und ihnen oft genug – weltweit – zum Verhängnis werden.
Ein weiteres Beispiel, mit dem sich der Film von Julia Friedrichs, Nina Ostersehlte und Andreas Spinrath befasst, ist der Herzinfarkt, der, wie man heute weiß, mitnichten eine Männerkrankheit ist. Auch Frauen erleiden ihn, allerdings haben sie häufig ganz andere Symptome: diffus sich im gesamten Körper manifestierende Schmerzen, insbesondere Rückenschmerzen, starke Übelkeit, Atemnot ohne, dass die Lungenfunktion notwendigerweise eingeschränkt wäre. Kurzum: Es ergibt sich ein viel „bunteres Bild“ bei den Frauen, infolgedessen insbesondere junge Frauen noch heute auf Grund von Fehldiagnosen proportional häufiger an Infarkten sterben müssen. Fraueninfarkte werden oft auf Grund von fehlendem Wissen nicht erkannt und deshalb falsch behandelt: So berichten Patientinnen in der ersten der insgesamt vier TV-Folgen von physiotherapeutischen Behandlungen des Rückens gegen einen – erst später festgestellten – Herzinfarkt. Selbst hochspezialisierte (meist immer noch männliche) Mediziner verkennen die weibliche Symptomatik oft, weil sie so nicht in ihren Lehrbüchern stand.
Das legt die Kardiologin Vera Regitz-Zagrozek von der Charité in Berlin in „HERstory“ einprägsam in diesem Dokumentationsteil zum Thema „Lebensgefahr“ dar. Dass Horst Seehofer 1997 behauptet hat, es lägen keine deutschen Studien vor, die Anlass dafür gäben, Infarkte von Frauen genauer zu untersuchen, zeigt bereits die Breitseite der Problematik auf. Regitz-Zagrozek hielt das schon damals schlicht für einen „Skandal“. Das ist jetzt eine Generation, bald fünfundzwanzig Jahre, her. Gut, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft und EU-Wissenschaftsförderprogramme das anders sahen und Regitz-Zagrozeks Studien zur Frauenmedizin und zu Frauenerkrankungen unterstützt haben. Unbeirrt fordert die längst international anerkannte und nachgefragte Fachärztin und sowohl in Berlin als auch an der Universität Zürich tätige Professorin nicht allein einen moralischen „Anspruch auf Deutungshoheit“ ein. Vielmehr drängt sie seit Jahren auf ganz praktischer, interaktiver „hands-on“-Ebene intensiv darauf, dass auch das Geschlecht in der Medizin systematisch „als wichtiger Faktor“ berücksichtigt wird.
Nicht ohne Unterhaltungswert, dabei mit aller nicht nur gebotenen, sondern auch denkbaren Fachkompetenz, erklärt Regitz-Zagrozek in der ARD-Fernsehdokumentation, warum in der Medikamenten- und Krankheitsforschung nur an männlichen Ratten Versuche durchgeführt werden und dass wir dadurch die Frauen permanent zu „Versuchskaninchen“ machen. Da rattert doch gleich der Hamster im ewig sich drehenden Rad, könnte man meinen. Doch wie absurd, unsinnig und versteckt eine solche den meisten Zuschauern bisher wohl eher unbekannte Faktenlage auch vorkommen wird: Regitz-Zagrozek hat sie schon in eine reelle Konsequenz umgedacht. Sie fordert, dass Männer und Frauen in Studien getrennt dargestellt werden müssen. Warum das im Ergebnis so wichtig ist? Uns antwortet die medizinische Gender-Expertin auf Anfrage kompakt und differenziert: „Frauen sind keine (kleinen) Männer. Diese einfache Erkenntnis wird in der Medizin jedoch oft nicht umgesetzt. Frauen erhalten die gleichen Medikamente wie Männer, oft in den gleichen Dosen, die für sie zu hoch sind, und haben fast doppelt so viele schwere Nebenwirkungen. Geschlechterunterschiede in den Symptomen und Manifestationen häufiger Erkrankungen werden vernachlässigt – eine schlechtere Behandlung zumeist der Frauen ist die Konsequenz. Und lebensbedrohliche frauentypische Erkrankungen werden oft zu spät diagnostiziert. Eine individuellere geschlechtsspezifische Therapie würde viel zur Gesundheit aller beitragen und Ressourcen schonen“.
Aus dieser Stellungnahme lassen sich nicht nur Regitz-Zagrozeks profunde Einblicke in die Materie und deren Durchdringung sowie Einordnung in komplexe Ursache-Wirkung-Mechanismen folgern. Dem Zuschauer vermittelt sich vielmehr auch unmittelbar, dass – und wie weitreichend – das biologische Geschlecht das soziokulturelle Geschlecht beeinflusst und sich beide gegenseitig – zuweilen fatal – konditionieren. Aus ihren fachfraulichen Worten spricht eine richtungsweisende, ihrer Arbeit übergeordnete, friedlich und kooperativ ausgerichtete Grundüberzeugung und wissenschaftlich durch lebenslange Forschung gereifte, notwendig folgende Vision. Sie basiert auf der gelassenen Gewissheit, dass wir nur gemeinsam positive Entwicklungen hervorbringen können, und es daher sowohl ethisch sinnvoll als auch ökologisch und ökonomisch wünschenswert ist, dass Männer und Frauen gleichberechtigt in die Medizin und das Gesundheitswesen eingebunden werden.
Weiter geht es mit „HERstory“ übrigens schon in einem Monat, genauer gesagt am Montag, den 27. September 2021 (23:35 - 00:20 Uhr). Die zweite Folge befasst sich dann mit dem Thema „Angriffslust – Frauen, Krieg und Gewalt“ und damit, warum Frauen, denkt man an Krieg, nur am Rande auftauchen. Sie sind die Opfer des Kriegs, bestenfalls Beleg für die Grausamkeit des Feindes, oder sie sind die Trümmerfrauen, die die Innenstädte nach der Kapitulation wiederaufbauen. Erzählen Frauen anderes über den Krieg? Zu Wort kommt u.a. die ehemalige Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Navanethem Pillay. Als einzige Frau auf der Richterbank am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda hörte sie den Frauen zu, die vom Krieg berichtet haben. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde daraufhin Vergewaltigung als Kriegsverbrechen verurteilt. „HERstory“ fragt: Hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen, wenn man Frauen zugehört hätte, etwa den über eintausend Teilnehmerinnen des Internationalen Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag? Sie forderten schon vor über hundert Jahren das Ende der Kriege und setzten auf Diplomatie. Im Film von Mareike Wilms, Andreas Spinrath und Nina Ostersehlte kommentieren zudem die Schweizer Politikerin Gaby Vermot – die als Gesandte des Europarates in den Konfliktregionen der Welt dafür kämpfte, den Frauen eine Stimme zu geben und sie an Friedensprozessen proaktiv zu beteiligen – sowie Bundeswehrsoldatinnen weitere Aspekte zum Thema „Krieg und Gewalt“ aus Frauenperspektive.
Eine Woche später, am 4. Oktober (23:35 - 00:20 Uhr), beschäftigt sich „HERstory“ unter dem Titel „Wendeman(n)över – Frauen und die Wiedervereinigung“ mit der Wendezeit. Wovon haben die ostdeutschen Frauen geträumt, wie haben sie die Deutsche Einheit erlebt, und was ist aus ihren Hoffnungen und Wünschen geworden? In ihrer spannenden Dokumentation erzählt die Autorin Sabine Michel mit Rückgriff auf größtenteils unbekanntes Archivmaterial, was die Auswirkungen der Zeit nach dem Mauerfall auf das Leben der Frauen bis heute bedeuten. Dazu äußert sich u.a. die Feministin und Referentin der ersten und letzten Gleichstellungsbeauftragten der DDR, Katrin Wolf.
Der vierte und letzte Film der Serie „HERstory“ nimmt sich das Phänomen „Frauenwunder – Frauen und das Wirtschaftswunder“, am 11. Oktober (23:35 - 00:20 Uhr) vor. Kritisch blickt er mit Hilfe von bislang unveröffentlichten, hochwertig restaurierten Farbfilmen der 1950-er und frühen 1960-er Jahre aus der Sicht der Frauen auf das Wirtschaftswunderland. Welchen Anteil hatten sie am neuen Wohlstand, und inwieweit konnten sie am Wirtschaftswunder überhaupt teilhaben? Die Dokumentation von Linn Sackarnd legt offen, dass die Erfolgsgeschichte des Wirtschaftswunders und das Klischee der glücklichen Hausfrau und Mutter nur die halbe Wahrheit sind. – Auch dies eine historische Reduktion und stereotypische Frauendarstellung, die es im dritten Jahrtausend sensibel zu diskutieren und neu zu überdenken gilt.
Das Schöne an dem vierteiligen Doku-Projekt: Jeder Film dieser Reihe ist unterschiedlich, steht für sich und trägt die eindeutige Handschrift des jeweiligen Autoren-Teams. Die ersten beiden Folgen von „HERstory“ wurden von btf, Köln, produziert, die dritte und vierte von Labo M, Berlin, wobei für die Redaktion der Reihe Mathias Werth vom WDR verantwortlich zeichnet. In der Quintessenz dürfte das zentrale Anliegen dieser ebenso packenden wie einfallsreich zusammengestellten, ambitionierten und aufrüttelnden deutschen Fernsehdokumentation insgesamt dem entsprechen, was Dr. med. Dilek Gürsoy – eine der wenigen Frauen, die sich in Deutschland in der „Männerdomäne Chirurgie“ durchgesetzt und es mit viel Einsatz zu einer der führenden Kunstherzexpertinnen der Welt gebracht hat – so ausdrückt: Am Ende wünscht sie sich in der ersten Folge einfach nur, dass wir alle „die Frauen mitdenken“.
HERstory
Die Folge 1/4 ist die nächsten 12 Monate lang bis zum 16. August 2022 online zu sehen in der ARD-Mediathek.
Die nächsten 3 Folgen von „HERstory“ sendet die ARD an den folgenden Terminen:
- 27. September 2021 (23:35 - 00:20 Uhr): „HERstory: Angriffslust – Frauen, Krieg und Gewalt“
- 4. Oktober 2021 (23:35 - 00:20 Uhr): „HERstory: Wendeman(n)över – Frauen und die Wiedervereinigung“
- 11. Oktober 2021 (23:35 - 00:20 Uhr): „HERstory: Frauenwunder – Frauen und das Wirtschaftswunder“
Dagmar Reichardts erste Kultur-Port.De-Berichterstattung über Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrozeks medizinische Forschung an der Charité in Berlin findet sich unter dem Titel „Europas Krise(n) 2019: Migration – Brexit – neue Weltordnung“ (12.7.2019)
Zur Frauengeschichte und zum Begriff der „Herstory“ hat Kultur-Port.De auch gesondert berichtet: "50 Jahre Frauengeschichte, 1968-2018"
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