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Cry Baby-Foto Arno Declair

Ein Haufen heulender Mädchen in schrill-bunten Schlafanzügen auf einem riesigen, rotierenden Bett und eine phänomenale Sophie Rois im langen weißen Büßerhemd.
Im Langzeitgedächtnis bleiben wahrscheinlich genau diese Bilder von René Polleschs „Cry Baby“ haften. Stürmischer Beifall für die Produktion des Deutschen Theaters Berlin, die beim TheaterFestival Hamburg im Thalia Theater zu Gast war.

„Hoffentlich wird das keine Klamotte“, flüsterte eine Dame hinter mir ihrer Nachbarin zu. „So, wie das Bühnenbild aussieht…!“ Doch, es wurde eine. Aber keine platte, wie die Zuschauerin wohl befürchtete. Vielmehr eine intelligente, vor Witz und Gedankenblitzen nur so funkelnde. Eine Klamotte auf der Meta-Ebene gleichsam. Pollesch-Fans wissen, dass der Autor und Regisseur so gut wie nie durchlaufende Handlungen serviert. Pollesch erzählt keine Geschichten, bei ihm gibt es (in der Regel) keine Rollen und Figuren. Er reißt vielmehr Themen an und lässt sie wieder fallen. Setzt Assoziationen in Gang, feiert die Bühne als Ort ungebremster Spielfreude.

cry babySein Theater ist ein postmodernes, optisch opulentes ästhetisches Gesamtkunstwerk, das letztlich immer um sich selbst kreist. Das kann auch ermüdend werden, als aufgeblasener Ballon daherkommen, von dem, wenn man mal reinpikst, nur heiße Luft übrigbleibt. Das ist die Gefahr bei Pollesch-Stücken, sie sind hochprätentiös und schrammen doch immer haarscharf an der Banalität entlang. Aber es kippte bislang noch nie. Keiner versteht so gut Philosophie und Klamauk, Tiefsinn und pure Lust am Spiel, zu verweben wie dieser 1962 in Friedberg/Hessen geborene Theatermann.
Auch bei „Cry Baby“ gibt es weder Rollen noch Figuren. Nur Szenen, die sich zu einer surrealen Collage formieren – gespickt mit absurden Disputen, Verweisen auf Philosophen und Zitaten aus der Klassiker-Kiste des deutschen Bildungsbürgertums, die – wenn überhaupt einer Logik - dann einer surrealen Traumlogik folgen. Das Bühnenbild von Barbara Steiner huldigt dem Deutschen Theater in Berlin in dem Pollesch und Sophie Rois mit eben diesem Stück in der vergangenen Spielzeit ihren Einstand gaben. Die plüschig-antiquierten Logen des Berliner Zuschauerraumes sind als Theaterkulisse weit in die Bühne hineingezogen, die von einem riesigen goldenen Bett dominiert wird. Nachdem die letzten Klänge eines Flamencos verklungen sind, stürzt Sophie Rois mit einem „ICH BIN SO MÜDE“ – Stöhnen auf dieses Bett zu. Ein Bett, das ein Eigenleben zu haben scheint und sich zur Freude des Publikums am Schluss allein zur Rampe fährt, um den Applaus entgegenzunehmen.

Wenn es überhaupt einen roten Faden in diesem Stück gibt, dann ist es das Thema Schlaf. Der Schlaf in all seinen Aggregatzuständen, von den Tagträumen bis zum Abtauchen ins Nichts, so, wie ihn der französische Philosoph Jean-Luc Nancy in seinen Reflexionen beleuchtet hat.
Doch wie in einer guten Boulevard-Komödie gelingt der Protagonistin ihr sehnlichster Wunsch natürlich nicht. Kaum auf dem Bett, drängen sich 12 Mädchen in bunten Schlafanzügen um sie – während Bernd Moss – hier der Zuschauer par excellence – ebenfalls im Schlafanzug aus einer Loge auftaucht und fordert, man möge ihn endlich wecken, wenn das Stück beginnt. Und da es bereits begonnen hat, „dann eben, wenn es zu Ende ist“.
Moss wird sich in den nächsten 70 Minuten immer wieder einmischen. Sich ein herrliches Wort- und Degengefecht mit der unglaublichen Sophie Rois liefern, die mal als Prinz von Homburg über die Bühne fegt, mal als trotzig-rotzige Schauspielerin brilliert, die mit ihren Kolleginnen Judith Hofmann und Christine Groß über „Liebhaber-Theater“ diskutiert („Ich dachte immer, das ist ein Stück voller Liebhaber“). Um schließlich vehement darauf zu bestehen, für ihr Spiel, „für meine echte Leidenschaft“ selbst zu zahlen. Unterdessen mischen die 12 Teenies die Szenen immer wieder auf, schlüpfen in die Rolle des antiken Chores, formieren sich zum kleistschen Erschießungskommando oder zu feschen Tanzgirls.

Wer sein Verständnis für die komplexen Ansätze des Regisseurs und Autors vertiefen möchte, dem empfiehlt das Programmheft Louis Bunuels Filme „Dieses obskure Objekt der Begierde“, „Die Milchstraße“, „Das Gespenst der Freiheit“, Adornos Schrift „Zur Dialektik des Engagements“, Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“, Wolfgang Pohrts „Borthers in Crime“ , Luc Boltanskis „Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt“ und Hugo von Hofmannsthals „Elektra“.

Intellektuell höchst anspruchsvolle Kost. Aber keine Sorge, man muss weder die Philosophen noch Heinrich von Kleist auswendig kennen, um einen äußerst kurzweiligen, vergnüglichen Abend zu erleben. Zu verdanken ist das vor allem einer hin- und mitreißenden Sophie Rois, die bei allem Gestöhne über Müdigkeit eine Energie ausstrahlt, die das Thalia Theater bis in die hintersten Sitzreihen elektrisiert hat.

René Pollesch: Cry Baby

Eine Produktion des Deutschen Theaters Berlin. Hamburger Theater Festival.
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Alle Cry Baby-Fotos: Arno Declair

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