Bildende Kunst

Was eigentlich macht Caspar David Friedrich zu einem der nach wie vor populärsten Künstler in Deutschland? Ist es die romantische Abendstimmung, die so viele seiner Bilder dominiert? Die schlichte Schönheit und Harmonie seiner Gemälde? Ist es das Kreuz als das Symbol des Christentums?

Denn auf nicht wenigen seiner Gemälde ist es zu finden, meist an prominenter Stelle, so dass es sofort ins Auge fällt.

 

Aber die Mehrheit der hiesigen Bevölkerung ist doch an christlicher Religion kaum oder überhaupt nicht interessiert, und für viele von Friedrichs Bewunderern dürfte das ebenfalls gelten. Und wenn es nicht das Kreuz ist, dann sind es andere religiöse Symbole – vor allem solche, die die Vergänglichkeit alles Lebens betonen. Eine Vielzahl seiner Bilder ist religiös konnotiert – das ist der spontane Eindruck, den die meisten Betrachter haben. Und trotzdem steht dieser Maler auch bei Ungläubigen hoch im Kurs.

 

CDF Heldengraeber

 Caspar David Friedrich: Grabmale alter Helden (Gräber gefallenere Freiheitskrieger, Grab des Arminius), 1812, Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle. Gemeinfrei

 

Allerdings, Caspar David Friedrich war phasenweise auch vergessen. Eine seiner Renaissancen erlebte der Maler 1974 im Anschluss an eine Ausstellung der Hamburger Kunsthalle, die diesen Künstler vom 15. Dezember an erneut feiern wird. Der Rezensent war damals noch sehr jung, aber er besuchte die Stadtbibliothek und entlieh sich ein Werk über diesen Maler, dessen Bilder ihm so sehr gefielen. Und danach fand er sich kuriert, denn er hatte ein Buch erwischt, in dem die Gemälde des Meisters einfach durchbuchstabiert und auf den Ausdruck der Religion reduziert wurden. Als wären es Allegorien, nichts als Übersetzungen christlicher Lehrsätze in Bilder von allerdings betörender Schönheit. Es blieben, ging es nach dem Autor dieses Buches, keine Fragen offen, alles war eindeutig und im Grunde eindimensional.

 

Romantisches Kalkuel COVERNichts hätte Friedrichs Bildern weniger gerecht werden können. Und nichts könnte Werner Busch ferner liegen als eine derartige Deutung der Kunst Friedrichs. Diesem Autor kommt es vielmehr darauf an, ihr Uneindeutiges und Vieldeutiges aufzuweisen und darüber hinaus zu zeigen, dass nach dem Willen des Künstlers seine Kunst zu denken geben soll. Keinesfalls soll sie sich in der Illustration irgendwelcher Dogmen oder Glaubensartikel erschöpfen. Seine Bilder besitzen eine viel größere Tiefe, als es zunächst scheint, und es bedarf einer sorgfältigen, vor allem auch formalen Analyse, um ihren Gehalt offenzulegen. Aber danach – für Werner Busch ist das wesentlich – bleiben immer noch Fragen offen. Friedrichs Werke sind symbolisch, nicht allegorisch, und so sollen und so können sie nicht ein für alle Mal ausgedeutet werden.

 

Wer könnte Bilder besser analysieren als Werner Busch? Er ist seit Jahrzehnten einer der prominentesten deutschen Kunsthistoriker mit zahlreichen Buchveröffentlichungen und unzähligen Katalogbeiträgen und Aufsätzen. Eines seiner wichtigen Werke behandelt das „Unklassische Bild von Tizian bis Constable und Turner“ (2009), in dem unter anderem die Behandlung der Wolken (besonders natürlich bei John Constable) eine wesentliche Rolle spielt. Auch für Friedrich waren Wolken wichtig, und es sollte nicht überraschend sein, dass auf diese Weise noch dazu Goethe ins Spiel kommt, der über Jahrzehnte hinweg seine Beobachtungen der Wolken notierte und ihre Formen klassifizierte. Die Wolken waren Friedrich als ein Signum der Wirklichkeit bedeutend; und für den Autor zeigen sie, wie sehr sich der Künstler dieser Wirklichkeit verpflichtet fühlte.

 

John Constable Clouds Google Art Project

 John Constable: Clouds, 1822, Öl auf Karton, National Gallery of Victoria, Melbourne

 

Zuletzt hat Busch 2015 mit einem Werk über Adolph Menzel seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, Bilder auf alle Aspekte hin zu durchforschen – in dem Fall dieses kleinwüchsigen Künstlers immer mit Blick auf dessen von ihm erschlossenen oder gar errechneten Standort und die sich daraus ergebene Perspektive. Gerade die Untersuchung des dargestellten Raumes wie auch der inneren Bildproportionen ist die ganz große Stärke dieses Autors, der sie in einem ersten Friedrich-Buch bei der Analyse der beiden Fenster-Sepien (von Friedrichs Dresdner Atelier) unter Beweis gestellt hat. Beides sind ähnlich ruhige, fast leere Bilder wie das kleinformatige „Kreuz an der Ostsee“, von dem eine ganze Reihe von verschiedenen Fassungen vorliegt. In beiden Fällen demonstriert Busch, warum bei Friedrich „absolute Maßverhältnisse selbst bei den kleinsten Bildern […] gänzlich zwingend und nicht Selbstzweck sind.“

 

In seiner 2003 vorgelegten Monografie vertrat Busch dieselben Thesen wie in dem aktuellen Buch. Friedrichs Atelier erscheint in den Fenster-Sepien als „das Gehäuse, in dem sein Werk entsteht.“ Mit subtilen und sorgfältigen Bildanalysen sucht der Autor nach dem Standpunkt des Künstlers, deutet kleinste Einzelheiten und zeigt endlich, dass sich in diesen Bildern der Goldene Schnitt findet – das ist eine These, der nicht alle seine Kritiker zustimmen wollen, die aber auch das Zentrum des jetzt erschienen Essays bildet.

Das „Kreuz an der Ostsee“, das er jetzt vorstellt und ausdeutet, liegt in fünf verschiedenen Fassungen vor, die Busch sorgfältig miteinander vergleicht (also mit Blick auf die Details wie auf ihre Proportionen), um zunächst die Urfassung zu identifizieren. An ihr ist „das Kantholz des Kreuzes als solches markiert und macht seine leichte, Raum stiftende Schrägstellung deutlich.“ Es sind solche Beobachtungen, aus denen Busch seinen Honig saugt; dazu kommen die Maßverhältnisse des Bildes, die Linien, mit deren Hilfe Busch das Gemälde ausdeutet.

 

Zentral für die von Busch vorgetragene Deutung von Friedrichs Werk ist die Behauptung, dass allen Bildern eine geometrische Ordnung zugrunde liegt. Schon der Titel seines Büchleins – für manche Leser wohl eine Provokation – deutet in diese Richtung. Romantik bedeutet hier ganz offensichtlich keine unklare Gefühlsduselei, sondern verträgt sich mit Berechnung, und ein solches Berechnen und Linienziehen versucht Busch in allen Werken Friedrichs aufzuzeigen. Auf der Rückseite seines Buches können wir sogar lesen, dass Friedrichs Bilder „von mathematischer Vernunft und beobachtender Empirie“ durchzogen sind. Im Text selbst spricht Busch von Zahlenmystik, was wohl eher das Gemeinte trifft. Und zweitens ist Naturtreue ein roter Faden im Werk des Meisters, denn Friedrich arbeitete enorm exakt und auch dank seiner Studien (oft genug an der frischen Luft) und sorgfältigen Vorzeichnungen immer seinen Gegenständen und ihren Details verpflichtet.

 

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In „Romantisches Kalkül“ heißt es: „Thema dieses Essays ist es, zu überlegen, wie dieses Beharren auf der sich zeigenden Wirklichkeit im Bild mit Hilfe der Bildordnung transzendiert werden, anders gesagt, zu Kunst werden kann.“ In diesem einen Satz steckt zunächst die Behauptung, dass Friedrich ein Maler ist, dem es um eine wahrheitsgetreue Darstellung der Natur zu tun ist – deshalb fertigte er unzählige Naturstudien an, von Bäumen, von Wolken und von anderen Objekten mehr, und deshalb kann er von Busch detailbesessen genannt werden. Aber die schlichte Abbildung der Natur, der „Realien“, ergibt für Friedrich noch keine Kunst, sondern sie will mit Bedeutung aufgeladen werden, denn erst eine „abstrakte Bildordnung stellt für ihn das jeweilige Bild in einen höheren Zusammenhang.“ Erst durch die wohl überlegte Komposition gewinnen die Realien ihre symbolische Kraft.

 

Um seine These plausibel zu machen, griff Busch schon 2003 und greift er auch jetzt wieder auf eine ganz ungewöhnliche und zuvor nicht für Friedrich genutzte Quelle zurück, auf den Roman „Erwin von Steinbach oder Geist der deutschen Baukunst“, den der mit Friedrich bekannte oder sogar befreundete Rügener Pastor Theodor Schwarz 1834 unter dem Pseudonym Theodor Melas veröffentlichte. Steinbach – „edler Erwin“, so spricht ihn der Stürmer und Dränger Goethe an – war der Architekt des Straßburger Münsters, dessen Bedeutung Goethe 1773 in seiner die zuvor allgemein verdammte Gotik allererst feiernden Schrift „Von deutscher Baukunst“ in das Bewusstsein der Deutschen zurückholte. Wenn Busch diesen dreibändigen Roman von Schwarz alias „Melas“ (griechisch für Schwarz) als den Schlüssel nimmt, mit dem sich Friedrichs Werke entziffern lassen, müssen sich zwei Thesen bewähren: erstens, dass Friedrich überhaupt in diesem Buch dargestellt wird (das ist kaum eine Schwierigkeit, schon weil der Held heißt wie er), sodann, dass die Aussagen der Romanfigur sich auf ihr Vorbild (zurück-) projizieren lassen.

 

Entscheidend muss es sein, dass der Kaspar des Romans das von Busch für Friedrich behauptete und auch wirklich aufgezeigte geometrische Verfahren für sich selbst beansprucht: „Alles drängt und treibt mich, wenn ich ein Bild mache, erst in einer gewissen geometrischen Figur meine Gedanken zu fassen und rein, wie der Mathematiker, sie zu konstruieren.“ Diese Liebe zur Geometrie teilte Friedrich mit dem Theologen Schleiermacher, auf den sich Busch ebenfalls bezieht.

 

Friedrich ging es um eine naturgetreue Abbildung der Landschaft und der Pflanzen, aber das Abmalen der Wirklichkeit allein ergab für ihn noch keine Kunst. Deshalb sollte „eine vorgängige abstrakte Figur“ dem Bild zugrunde liegen, und weil Friedrich von Busch als Pythagoräer dargestellt wird, sollte diese Figur mathematischer Natur sein. Und drittens sollte eine eindeutige, eine leicht lesbare, eine sich in einer formalhaften Ausdeutung erschöpfende Darstellung vermieden werden – Friedrich ging es um die Lebendigkeit der dargestellten Verhältnisse, und so hat er seine Intentionen verschleiert.

 

Das ist eine weitere Grundthese der Friedrich-Deutung von Busch: Friedrichs Beziehung zu Schleiermacher, die These, dass dessen Theologie und sein Buch „Über die Religion“ von 1799 Friedrich eine gedankliche Anleitung boten, die religiöse Dimension der Kunst für sich zu entdecken. Das Selbstverständnis Friedrichs als Künstler korrespondiert mit der Theologie Schleiermachers. Die Figuren Friedrichs zeigen uns nicht allein sehr oft den Rücken, sondern sie tun auch nichts und schauen nur. In dieser Inaktivität, besser in diesem meditativen Sich-Versenken in einen Anblick der Natur erkennt Busch die von Schleiermacher geforderte Passivität der religiösen Anschauung. Und Schleiermachers Überzeugung, dass „die Wahrnehmung des Einzelnen zur Erkenntnis des Eigentümlichen führt und dieses Eigentümliche in sich das Gesetz des Göttlichen trägt“, findet er in der naturwahren Darstellung auch der kleinsten Einzelheiten auf den Gemälden.

 

Wie soll man sich Friedrich zufolge seinen Bildern nähern? Darauf geht Busch ausführlich ein. „Man soll sich von seinen Bildern ergreifen lassen, indem man sich in sie vertieft, eine nachfolgende Verbalisierung kann den Eindruck nur verfälschen“, schreibt Busch, und denkt, dass Friedrich Betrachtung als „hingebende Anschauung“ fordert. Könnte man nicht den „Mönch am Meer“ oder die „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ als die Veranschaulichung der von Friedrich geforderten Versenkung in ein Bild nehmen? Es ist die Haltung, die insbesondere die Rückenfiguren einnehmen.

 

CDF Zwei Männer in Betrachtung des Mondes

 Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, 1818/1819, Öl auf Leinwand, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Gemeinfrei

 

Wer denkt hier nicht an Daniel Chodowiecki, der 1780 seine „Natürlichen und affektierten Handlungen“ herausgab, Blätter, in denen sentimentales, künstliches oder geschwätziges Verhalten in Natur oder Gesellschaft einem natürlichen und gefühlvollen gegenübergestellt wird, ablesbar jeweils an der Körperhaltung der Figuren? Die Texte dazu stammen von Georg Christoph Lichtenberg, der das ganze Projekt auch angeregt hatte. Die Erläuterung zum Blatt Numero 3 könnte sich fast auf einige Gemälde Friedrichs beziehen, angefangen mit dem Umstand, dass sie uns den Rücken kehren („das Gesicht fast abwenden“). Könnte es sein, dass Friedrich sich denselben Seelenzustand wünschte wie Lichtenberg und Chodowiecki? Sollte man sich in eben dieser Weise Gott wie der Schöpfung gegenüberstellen? Könnte die folgende Beschreibung nicht einigen Gemälden Friedrichs gelten?

 

Daniel N Chodowiecki Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens Zweite Folge 1779

Daniel N. Chodowiecki, Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, Zweite Folge (Detail), 1779. Gemeinfrei

 

„Nicht leicht“, schreibt Lichtenberg über den Kupferstich Chodowieckis, „wird ein Künstler in Figuren, die das Gesicht fast abwenden, und bei denen alles unterstützt ist und ruht, mehr Empfindung ausdrücken können, als hier aus dem unschuldigen gefühlvollen starren des Mädchens und aus der Kopfhaltung der Mannsperson hervorleuchtet. Sie genießen den Anblick der untergehenden Sonne mit dem ruhigen Gefühl, das so wie jene in der Ferne sanft hinwallende Kreise die bepurpurte Fläche des Wassers, in welchem sich ihr Feuer spiegelt, die ganze Seele endlich füllt, ohne in ihr zu stürmen.“[1]

 

Eingangs seines Essays stellt Busch die von Friedrich geforderte Anschauung ausführlich dar, und was wir über die religiöse Bedeutung seiner Bilder gesagt haben – merkwürdig, dass diese Kunst von so vielen Atheisten trotzdem geliebt wird –, das können wir hier wiederholen: wer denn verhält sich vor Kunstwerken heute so, wie es Friedrich (in der Darstellung dieses Buches, aber wohl auch in Wirklichkeit) und einige Jahrzehnte zuvor Lichtenberg und Chodowieckis forderten?

Buschs glänzend geschriebenes, ruhig, sachlich und perspektivenreich argumentierendes Buch ist die Summe eines produktiven Gelehrtenlebens, aber zugleich auch mehr, denn es stellt viele Fragen und ist deshalb enorm anregend.


Werner Busch: Romantisches Kalkül

Caspar David Friedrichs Kreuz an der Ostsee

Schlaufen Verlag 2023

162 Seiten, 8 Bildtafeln

ISBN 978-3987610035

Weitere Informationen (Homepage Schlaufen Verlag)

Leseprobe (PDF)

 

Anlässlich des 250. Geburtstages von Caspar David Friedrich (1774-1840) zeigt die Alte Nationalgalerie in Kooperation mit dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin eine große Ausstellung zum Werk des bedeutendsten Malers der deutschen Romantik. Etwa 60 Gemälde und 50 Zeichnungen aus dem In- und Ausland, darunter weltberühmte Ikonen, werden zu sehen sein.

Caspar David Friedrich: Die Wiederentdeckung

19.04. bis 04.08.2024 in der Alte Nationalgalerie, Berlin

Weitere Informationen (Homepage Museumsportal Berlin)

 

Fußnote:

[1] Der Fortgang der Tugend und des Lasters. Daniel Chodowieckis Monatskupfer zum Göttinger Taschenkalender mit Erklärungen Georg Christoph Lichtenbergs, Leipzig 1980, S.62f.

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