Mit Mary Warburg erinnert das Ernst Barlach Haus in Hamburg an eine weitgehend unbekannte Künstlerin.
Der Ausstellungstitel „Auf Augenblicke frei und glücklich“ hätte dabei nicht treffender gewählt sein können: Mary Warburgs (1866-1934) kleinformatige Pastelle, Aquarelle und Zeichnungen vermitteln tatsächlich die Leichtigkeit und Intensität eines flüchtigen Glücksmoments.
Sie zeigen überwiegend Landschaften und Porträts. Daneben lernt man ihre Buchillustrationen kennen und erahnt an der Reihe ihrer dicken Skizzenbücher, mit wieviel Fleiß und Hingabe sie ihre Studien betrieben hat, am liebsten draußen in der freien Natur. Und natürlich ist auch die bekannte Bronze-Büste ihres Ehemanns Aby Warburg zu sehen, die sie 1930, ein Jahr nach seinem Tod, fertigstellte.
Seit der Wiederentdeckung des mittlerweile gefeierten Kulturwissenschaftlers Aby Warburg in den 1970er Jahren und seines legendären Bilderatlas Mnemosyne ist diese Büste immer wieder gezeigt und abgebildet worden, doch fast nie wurde dabei die Urheberin des Werks genannt. Die Hamburger Kunsthalle übernahm zwar 1976 Mary Warburgs künstlerischen Nachlass als Dauerleihgabe - war doch um 1900 der damalige Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark einer ihrer Förderer -, stellte aber ihre Arbeiten nur in höchst bescheidenem Umfang aus. Allerdings wurden ihre Bilder sehr sorgfältig gerahmt, wie man aktuell im Ernst Barlach Haus sehen kann, mit schlichten schmalen Holzrahmen und einem Passepartout, das dem einzelnen Blatt Raum gibt zu atmen. Durch diese gelungene einheitliche Rahmung strahlt die Ausstellung eine angenehme Ruhe aus.
Von den insgesamt etwa 900 Werken Mary Warburgs ist eine Auswahl von 60 zu sehen. Kurator Karsten Müller gliedert sie nicht chronologisch, sondern in drei Räume, die jeweils einen Themenschwerpunkt repräsentieren. Denn die Künstlerin blieb zeitlebens ihrem eher impressionistischen Stil treu, wagte keine avantgardistischen Experimente, sondern fühlte sich vollkommen ihrem Gegenüber und Gegenstand verpflichtet. Schon im ersten Raum, der dem Thema Kind gewidmet ist, fällt das auf. Die Bleistiftzeichnungen zeigen die Kinder der Künstlerin mitten beim Spiel vertieft, da ist keine Pose, nicht der leiseste Versuch einer Verniedlichung. Man sieht z.B. ein Kindermädchen mit leicht genervtem Gesichtsausdruck, das der ersten Tochter der Familie, der kleinen zappelnden Marietta, versucht, die Flasche zu geben. Oder die Kinderstatuette, die den etwa fünfjährigen mittleren Sohn Max Adolph darstellt, eine etwa zehn Zentimeter hohe Fayence von 1907: der Junge in Pulli und kurzer Hose steht einfach da mit den Händen in den Hosentaschen, blickt fast ein wenig mürrisch, wirkt entspannt und zugleich zurückgenommen. Für diese Plastik als auch für die kleinen Bronze, die die jüngste Tochter Frede über einem Buch hockend zeigt, eigentlich für alle Porträt-Darstellungen passt im besten Sinne das viel benutzte Adjektiv „authentisch“.
Mary Warburg erfasste mit ihrem Blick das Wesentliche und unterstützte damit auch ihren Mann Aby Warburg bei seiner wissenschaftlichen Arbeit, wenn sie für ihn z.B. Renaissance-Fresken skizzierte. Ihre Zeichnungen und die gemeinsamen Gespräche inspirierten und begleiteten seinen Denk- und Erkenntnisprozess. Da hier im Barlach-Haus aber nur die eigenständige Künstlerin im Zentrum steht, fehlen ihre wissenschaftlichen Zeichnungen in der Ausstellung.
Mary Hertz und Aby Warburg begegneten sich 1888 in Florenz, wo Aby studierte und Mary ihren Vater, den Hamburger Senator Adolph Ferdinand Hertz auf einer Italienreise begleitete. Beide waren damals 22 Jahre alt. Das gemeinsame Interesse für Kunst führte sie zusammen und ließ sofort eine tiefe Freundschaft entstehen. Einerseits ermutigte Aby Mary immer zu ihrer künstlerischen Arbeit, andererseits erwartete er von ihr nach der Heirat 1897, dass sie dabei ihre Rolle als Ehefrau und Mutter nicht vernachlässigte. Dieser Konflikt zwischen Familienpflichten und künstlerischer Arbeit begleitete Mary schon seit ihrer Jugend. Ihre Mutter Maria Hertz, geborene Gossler, erkrankte früh an Parkinson und brauchte ihre Pflege. In ihren zahlreichen Briefen und ihrem Tagebuch schwärmte Mary z.B. von den einwöchigen Ausflügen mit ihrer Malklasse und ihrem Lehrer Friedrich Schwinge in das Hamburger Umland, auf denen sie frei und ungestört künstlerisch arbeiten konnte, um sich fast im selben Atemzug dafür zu tadeln:
„Mein Gott, diese Seligkeit, so ungestört nur dafür leben zu können. Aber eins ist sicher: Egoistisch wird man dabei; und wie gut, daß vorerst keine Aussicht auf eine derartig ideale Lebensweise ist; d.h. mögen möcht’ ich es doch recht nur allzu gern.“
Nachzulesen ist das alles in einer umfangreichen Monografie über Mary Warburg, die die Kunsthistorikerin Bärbel Hedinger zusammen mit Michael Diers und Andrea Völker 2020 im Hirmer Verlag herausgegeben hat, Ergebnis eines fünfjährigen Forschungsprojekts und Grundlage der aktuellen Ausstellung. Den Konflikt zwischen der traditionellen Familienrolle einer großbürgerlichen Frau und ihrer Leidenschaft für die Kunst hat Mary Warburg auf ihre Weise gelöst. Sie zeichnete und malte einfach ihr privates Umfeld, die Angehörigen, ihre Kinder, sammelte Reiseeindrücke. Zwar trat sie öffentlich in Erscheinung, stellte in den Hamburger Galerien Commeter und Louis Bock & Sohn aus, doch einzig auf der Ausstellung „Die Kunst der Frau“ 1910 in der Wiener Secession erreichte sie ein überregionales Publikum. Sie pflegte Kontakte zu namhaften Künstlern wie Arnold Böcklin, besuchte die Künstlerkolonie Worpswede, war mit ihrer Lehrerin Wilhelmine Niels befreundet, kannte Käthe Kollwitz und Anita Rée, und holte sich Rat von Bildhauern wie z.B. Adolf von Hildebrand. Auch unterrichtete sie in der Pastellklasse von Agnes Steiner. Doch der Geltungsdrang für eine künstlerische Karriere fehlte ihr. Dass sie letztlich der traditionellen weiblichen Familienrolle treu blieb, sich um ihre Kinder, ihren kranken Mann und seine Arbeit kümmerte, hat dann die spätere Rezeption beeinflusst: ernsthaftes künstlerisches Streben sprach man Mary Warburg ab. Dass Hingabe an Kunst und Familie gleichzeitig möglich ist, scheint im Kosmos der Kunstgeschichte nicht vorgesehen zu sein.
Die Ausstellung beweist das Gegenteil. Ein Raum ist den Reisebildern gewidmet, die sie aus England, Dänemark, der Schweiz und Südtirol mitbrachte, erst als Begleiterin ihres Vaters, später ihrer eigenen Familie. Sie liebte Pastelle, das Arbeiten „mit schmutzigen Fingern“ wie sie es nannte. Damit ist das Verstreichen der Farben mit der Hand auf dem Blatt gemeint. Die Landschaftsszenen von Bergen, Wäldern, Küsten sind von intensiver, leuchtender Farbigkeit. Sie vermitteln leicht und gekonnt verschiedene Lichtstimmungen. Selbst auf den farblich matteren Ansichten der heimischen Elbe unter grauem Himmel sieht man helle Lichtpunkte von weißen Segeln oder die Spiegelungen eines Lichtstrahls, der durch die Wolken bricht. Nirgends herrscht Düsternis.
In Öl hat die Künstlerin wenig gemalt, nur ein Gemälde von 1894 hängt in der Ausstellung, eine Szene mit einem Esel und drei Kindern in Gosslers Park. Man findet es im dritten Raum, der überwiegend den Darstellungen des privaten Umfelds gewidmet ist, z.B. ein Aquarell vom Sommerhaus der Großeltern Beets in Ottensen oder das Tryptichon „Palazzo Potetje“, eine Gouache, die wie ein Altarbild funktioniert. D.h. außen, im geschlossenen Zustand, sieht man den Eingang eines Renaissance-Palastes, klappt man das Bild auseinander, blickt man in die erste Wohnung, die das junge Paar 1897 in Florenz bezogen hatte. Auf der linken Seite arbeitet Aby mit aufgestütztem Kopf an seinem Schreibtisch, das mittlere Bild zeigt den Salon mit Sessel und Kanapee, auf der rechten Seite sitzt das Paar gemeinsam an einem Tisch mit einer hell leuchtenden Lampe und liest.
Potetje war übrigens ein Spitzname von Aby Warburg. Mary schickte das Tryptichon ihren Eltern zu Weihnachten 1897 nach Hamburg, die es sogleich den Warburg-Eltern zeigten, und gewährte so einen intimen Einblick in ihr neues Florentiner Leben, was die Familien Hertz und Warburg näherbrachte. Denn Abys Vater Moritz Warburg hatte sich lange gegen die Heirat gewehrt, weil er sich eine jüdische Schwiegertochter gewünscht hatte. Die Familie Hertz war aber schon zwei Generationen vorher konvertiert und protestantisch.
Die Ausstellung im Ernst Barlach Haus ist die erste größere Ausstellung von Mary Warburg und wird vermutlich erst einmal die einzige bleiben. Denn sie ist eine Künstlerin der sogenannten zweiten Reihe, ihr Werk repräsentiert keine bahnbrechenden Umbrüche, keine Avantgarde oder ähnlich Spektakuläres. Doch Mary Warburgs Blick und ihre Bilder erfassen und enthüllen einen flüchtigen Moment von Freiheit, nüchtern und poetisch zugleich, und sind vielleicht ein Fingerzeig des Glücks.
Mary Warburg: „Auf Augenblicke frei und glücklich“
Zu sehen vom 13. Februar bis 12. Juni 2022 im
Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma, Jenischpark, Baron-Voght-Straße 50a, 22609 Hamburg
Publikation:
Bärbel Hedinger, Michael Diers (Hrsg.): Mary Warburg. Porträt einer Künstlerin. Leben, Werk, Hirmer Verlag, München 2020
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