Bildende Kunst

Mit „Why should I hesitate: Putting Drawings to work“ zeigen die Hamburger Deichtorhallen die bislang umfassendsten Ausstellung des Südafrikaners William Kentridge, einem der vielseitigsten und bedeutendsten Künstler unserer Zeit.

Eine sensationelle Schau! Hoffentlich wird sie bald wieder vollumfänglich geöffnet und kann einem breiten Publikum vor Augen führen, was ihnen bislang an kulturellere Bildung versagt blieb!

 

Seit frühster Jugend prägt Politik, das menschenverachtende Regime der Apartheid, Leben und Werk des 65-jährigen Johannesburgers. Die Eltern, beide prominente Anwälte und Apartheid-Gegner, öffnen dem jungen William die Augen für das Unrechtsregime in dem strickt antikommunistischen Land. Als Schüler kämpft Kentridge für Gleichberechtigung, im Studium spielt er Agitprop-Theater und liest Kant, Marx, Hegel, Adorno, Piscator. Schließlich landet er an der gemischtrassigen Johannesburger Art Foundation, entdeckt die Tusche- und Kohlezeichnungen des Südafrikaners Dumile, die sozialkritischen Werke von Max Beckmann, Käthe Kollwitz und Otto Dix, die russischen Avantgardisten Majakowskij und Sergej Eisenstein, sowie die großen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, William Hogarth und Francisco des Goya. Lange dachte Kentridge, er müsse sich entscheiden zwischen Theater, Film und bildender Kunst. Bis er begriff, dass die unterschiedlichen Sparten sich gegenseitig befruchten und seine faszinierende, von Weltschmerz durchtränkte Bildsprache auf dem einzigartigen Zusammenspiel von Zeichnung, Theater und Film beruhen.

 

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Die Deichtorhallen, die in drei Kapiteln eine fantastische Tour d`Horizon über 40 Jahre künstlerischen Schaffens entwerfen, beginnen chronologisch mit frühen Radierungen, „Pit“ (Grube) von 1979 und den „Little Morals“ (Kleine Moralbilder, 1991), die in ihrer abgrundtiefen Düsternis, ihrem perfiden Voyeurismus und Zynismus unwillkürlich an Goyas Caprichos denken lassen. Doch schon im nächsten Raum fangen die Bilder zu laufen an und man taucht ein in Kentridges werkumspannendes Thema: Die Erinnerung.

Die Erinnerung an Südafrikas jüngste Geschichte ist vor allem schmerzhaft. Immer wieder geht es um Terror und Tyrannei, um Verlust und Trauer. Aber es geht auch um das unbändige Vergnügen zu Zeichnen und zu Träumen. Den Gedanken freien Lauf zu lassen und in einem Daumenkino umherzuwandern. Dazu braucht der Künstler nichts weiter als einen Kohlestift und ein Blatt Papier. Er zeichnet, radiert, zeichnet neu, radiert wieder und so fort. Sprunghaft, unlogisch, assoziativ, so wie auch das Gehirn funktioniert. Die Geschichten entstehen ohne Drehbuch. Ein „Schlüsselbild im Kopf“ genügt, alles Weitere entsteht im Dialog mit der Zeichnung und der alten 16-Milimeter-Kamera in der Mitte seines Ateliers, seiner „Denkmaschine“.

 

Seit dem ersten Film, „Johannesburg, zweitgrößte Stadt nach Paris“ (1989), gibt es eine Art immer wieder kehrendes, visuelles Inventar: Ein Bakelit-Telefon, eine alte Rechenmaschine, ein Megaphon. Und zwei Personen: Den Großindustriellen Soho Eckstein und seinen Gegenpol Felix Teitlebaum. Der eine ein skrupelloser Ausbeuter im Nadelstreifenanzug, der nach dem Zusammenbruch des Apartheid-Systems und seines Imperiums komatös am Tropf hängt und von seinem erwachten Gewissen gequält wird (History of the Main Complaint, 1996), der andere ein schwacher Mensch. Immer nackt gezeichnet. Ein Tagträumer, ein Liebhaber – ein Künstler. Teitlebaum ist Kentridges Alter ego. Mit ihm bespiegelt er sich selbst, übt Kritik an der eigenen Unzulänglichkeit und lässt den Zuschauer an seinen innersten Ängsten und Hoffnungen teilhaben. Ängste und Hoffnungen, wie sie auch in „Felix im Exil“ (1994) zum Ausdruck kommen, kurz nach den ersten freien Wahlen in Südafrika gezeichnet: Eine Szene zeigt einen erschlagenen Schwarzen am Boden. Aus seinem Kopf sickert Blut. Nach und nach wird sein Körper von angewehten Papieren eingehüllt, nimmt amorphe Formen an, verwandelt sich in eine Felsenlandschaft. Ein bezauberndes Sinnbild für Vergänglichkeit.

 

Längst sind es nicht mehr nur gezeichnete Filme, mit denen William Kentridge seine Zuschauer in den Bann schlägt. Vielmehr monumentale Bühnenspektakel und Installationen, wie die Hommage an den ins Exil getriebene Revolutionsführer Leo Trotzki, der um 1930 in einem türkischen Hotel lebte. Den Eingangsbereich des Hotels ließ Kentridge zur Istanbul Biennale 2015 nachbauen, um in dem plüschigen Interieur seine Filmarbeit über Trotzkis Utopismus und die Unvollkommenheit von Maschinen zu betten. Am beeindruckendsten aber ist zweifellos die 40 Meter lange, musikalisch untermalte Videoprojektion „More Sweetly Play the Dance“. Eine endlose Prozession lebensgroßer Schatten, seltsam altmodisch, seltsam modern, fröhlich, traurig, hoffnungsvoll, hoffnungslos und von einer Poesie jenseits aller Worte. Das muss man einfach erlebt haben.


William Kentridge. Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work

Zu sehen bis 1. August 2021

In den Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1, 20095 Hamburg

Weitere Informationen: www.deichtorhallen.de

 

YouTube-Video:

IN CONVERSATION: William Kentridge 

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