Bildende Kunst

Eine ästhetisch reizvolle Installation mit hundert blauen Blumen, „gepflanzt“ von Janine Turan, kann man sich in diesen Tagen im Lübecker St. Annen-Museum anschauen.

Es ist der „Puppenhof“ des St. Annen-Museums, in dem Janine Turan ihre blauen Holzblumen – es sollen Vergissmeinnichtblüten sein – an Metallständern aufgestellt hat, versehen mit den Wünschen, den ihr „Mitmenschen“ aufgeschrieben haben. In jedem einzelnen Fall handelt es sich um Wünsche, die sich während der Corona-Pandemie nicht erfüllen ließen oder lassen: „Livemusik“ kann man auf einer Blume lesen, auf einer anderen „Sommer“, „Geschichten“, „Geborgenheit“, „Liebe“ oder „Zuverlässigkeit“. Es gab eine „Vorabinstallation“, die sich „Koffer voller Sehnsüchte“ nannte – das war eine Gelegenheit, die Wünsche des Publikums zu erfahren.

 

Die Künstlerin, eine gelernte Goldschmiedin, hat die Wünsche auf den kleinen Messingscheiben im Innern der Blüten eingraviert. Alle Blumen sind einander sehr ähnlich – von fast identischer Höhe und einem sehr ähnlichen Design der Blütenblätter –, aber die Künstlerin legte doch Wert auf die Individualität der Blüten, die sich alle zumindest ein klein wenig voneinander unterscheiden.

 

Zum Abschluss der Ausstellung werden die Blüten am 4. Oktober zwischen 15 und 17 Uhr versteigert. Das Geld soll in neue Projekte fließen.

 

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Aufgestellt sind die Blumen in dem außergewöhnlich schönen Innenhof des St. Annen-Museums. Dieser Hof ist benannt nach den Statuen, die früher auf der Puppenbrücke vor dem Holstentor aufgestellt waren, aber 1985 aus konservatorischen Gründen durch Kopien ersetzt werden mussten. Der empfindliche Sandstein sollte nicht länger den Abgasen des Autoverkehrs ausgesetzt werden. Die insgesamt acht Skulpturen, Allegorien bürgerlicher Tugenden, gehen auf den Lübecker Bildhauer Dietrich Jürgen Boy (1724-1803) zurück, und zumindest eine, die des Gottes Merkur, genießt dank eines hübschen Gedichtes von Emanuel Geibel bis heute eine gewisse Popularität. Es geht dabei um dessen „Podex“.

 

Man sollte diese Ausstellung ganz unbedingt nur bei gutem Wetter besuchen, denn immer dann (oder besser: erst dann), wenn sie von der Sonne beschienen werden, kommt die große Schönheit der Skulpturen zur Geltung; wesentlich liegt das auch an dem dunklen Backstein der in seinen ältesten Teilen spätmittelalterlichen, größtenteils frühneuzeitlichen Bauten, die einen perfekten Hintergrund bilden. Und es liegt an den großen Laubbäumen. Jetzt blühen innerhalb dieses kleinen Platzes zu Füßen der Statuen hundert blassblaue Blumen, und das ist ein großes Erlebnis für jeden, der in den Hof tritt.

 

Die Farbe der Blumen versteht sich als ein Hinweis auf die blaue Blume der Romantik, nach der sich der Held von Novalis‘ einzigem, dank seines frühen Todes leider immer Fragment gebliebenen Roman sehnt. Gleich am Anfang des „Heinrich von Ofterdingen“ sagt sein Held: „aber die blaue Blume sehn‘ ich mich zu erblicken.“ Es ist eine ganz ungerichtete, an keiner Stelle näher bezeichnete Sehnsucht – eine Sehnsucht nach etwas, das Novalis selbst nicht beschreiben oder benennen kann und das deshalb an keiner Stelle im Roman hervortritt. Vielmehr spricht Novalis von „unverständliche(n) Chiffern“, nicht etwa von genau bezeichneten Wünschen, wenn von Sehnsucht die Rede ist. Die „Ahndung“, schreibt Novalis in den „Lehrlingen zu Sais“, „will sich selbst in keine festen Formen fügen“. Das ist ein sehr großer Unterschied zu den hundert ziemlich präzisen Wünschen, die sich auf den Lübecker Blumen finden.

 

Am Ende des Mittelalters oder in der frühen Neuzeit verschwanden die Schriftzüge aus den Bildern; auf dem Weg zu einer Autonomie der Kunst gab es für sie keinen Ort mehr. Wenn sich Jahrhunderte später in DADA oder verwandten Richtungen Wörter oder gleich ganze Texte in die Kunst hineinmogelten, dann handelte es sich fast ausnahmslos um Parodien auf eine ex cathedra vorgetragene oder gar biblisch unterfütterte Lehre. Auch, ja selbst politische Künstler verließen sich allein auf die Kraft des Bildes und verzichteten ganz konsequent auf interne Kommentare, wie sie heute das Normale darstellen.

 

Vielleicht nicht ganz untypisch für die klassische Moderne ist die Selbstbeschreibung des argentinischen Künstlers Xul Solar (1887 – 1963), eines Freundes von Jorge Luis Borges, der von sich selbst wegen seiner Simulationen von Texten sagte, er sei der Meister einer Schrift, die bis jetzt noch niemand habe lesen können („Soy maestro de una escritura que nadie lee todavía.“). Gesagt war das ganz im Geiste der Romantik und im Sinne eines Novalis.

 

Ich hätte es romantischer gefunden, die Blumen nicht zu beschriften und entweder die Sehnsüchte und Wünsche unbenannt zu lassen oder aber Chiffern für sie zu finden, vieldeutige oder sogar unverständliche Zeichen im Sinne eines Novalis.


Blüteninstallation „100 Sehnsüchte – eine Installation von Janine Turan“.

Die Ausstellung ist zu sehen bis 3. Oktober 2020
in der Kunsthalle St. Annen, St. Annen-Straße 15, 23552 Lübeck.
Geöffnet: Dienstag bis Sonntag: 11-17 Uhr (im Sommer: 10-17 Uhr)
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