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Der ‚gute Hirte’ (Lateinisch ‚Pastor bonus’) ist im Christentum eine der ältesten und verbreitetsten Bezeichnungen für Jesus Christus.
Das rührt daher, das aller Ursprung christlichen Glaubens in den Gott-Legenden und Mythen eines nomadischen Hirtenvolks, den frühen Israeliten des Alten Testamentes, wurzelt.
Im Alten Testament ist das Hirtenbild sehr verbreitet: Abel, Abraham, Isaak, Jakob oder Joseph waren Hirten. Hirten wurden verheißene Führer des Volkes einerseits, verantwortungslose Könige und Richter andererseits als gute oder schlechte Hirten bezeichnet. Die bedeutendste Rolle als Hirte nahm David ein. Dem messianischen Hirten ‚mein Knecht David’, der das getrennte Volk vereinigen würde, schlägt aber Ablehnung und Mord entgegen. Jesus – der Nachfahre aus dem Hause David erleidet ein ähnliches Schicksal um es dann – am Ostertag – zu überwinden. Vielfach wird das Hirtenbild immer wieder auf Gott bezogen. Besonders findet sich das Bild aber im Psalm 23, dem ‚Hirtenpsalm’.
Einleitungschor der Cantata ‚Der Herr ist mein getreuer Hirt’ BVW 112 von Johann Sebastian Bach (1685-1750) zum Sonntag ‚Misericorias Domini’:
„Der Herr ist mein getreuer Hirt,
Hält mich in seiner Hute,
Darin mir gar nichts mangeln wird
Irgend an einem Gute,
Er weidet mich ohn’ Unterlass,
Darauf wächst das wohlschmeckend Gras
Seines heilsamen Wortes.“
Du Hirte Israel, höre! BWV 104
Der Herr ist mein getreuer Hirt BWV 112
Der höchste Hirte sorgt vor mich,
Was nützen meine Sorgen?
Es wird ja alle Morgen
Des Hirten Güte neu.
Mein Herz, so fasse dich,
Gott ist getreu.
Rezitativ (Tenor) aus der Bach Cantata ‚Du Hirte Israel höre!’ BWV 104
„Wahrlich, wahrlich ich sage euch:
Wer nicht zur Tür eingeht in den Schafstall,
Sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder.
Der aber zur Tür hineingeht, der ist ein Hirte der Schafe.
Dem tut der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme
Und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie aus.
Und wenn er seine Schafe hat ausgelassen, geht er vor ihnen hin,
Und die Schafe folgen ihm nach denn sie kennen seine Stimme (...)
Da sprach Jesus wieder zu ihnen:
Wahrlich, wahrlich ich sage euch:
Ich bin die Tür zu den Schafen.
Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht,
Der wird selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden.
Ein Dieb kommt nur, daß er stehle, würge und umbringe.
Ich bin gekommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen.
Ich bin der gute Hirte.
Der gute Hirte läßt sein Leben für seine Schafe.
Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind,
Sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht
Und der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe.
Der Mietling aber flieht
Denn er ist ein Mietling und achtet der Schafe nicht.
Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen
Und bin bekannt den Meinen,
Wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater.
Und ich lasse mein Leben für die Schafe.
Evangelium des Johannes Kapitel 10 ff
In dieser, einer der großen Gleichnisreden des Johannes Evangelium sagt Jesus von sich: ‚Ich bin der gute Hirte’ und führt das Bildwort unter verschiedenen Aspekten aus: Der gute Hirte kennt die Schafe und ruft sie einzeln beim Namen. Die Schafe erkennen ihn an der Stimme. Bis zur Hingabe des eigenen Lebens setzt sich der gute Hirte im Gegensatz zum Lohnhüter für die Herde ein.
Indirekt erscheint der Hirtentitel auch in der Erzählung vom verlorenen und geretteten Schaf. Nicht den 99 anderen Schafen, sondern dem einen verlorenen, dem Sünder, gilt sein Suchen.
Einen Gegenpol hat die Allegorie Jesu als dem guten Hirten in dem des ‘Lammes Gottes’ (Lateinisch: Agnus Dei). Hier erscheint Jesus als Lamm, das zur Vergebung der Sünden am Kreuz geopfert wird.
Die beiden Cantatas die Bach zum Sonntag Misericordias Domini komponierte und die wir vorstellen wollen, BWV 104 ‚Du Hirte Israel, höre!’ und BWV 112 ‚Der Herr ist mein getreuer Hirt, stehen genau wie die beiden Quasimodogeniti-Werke die wir vorher vorstellen in einem inneren Zusammenhang.
BWV 104 ist die jüngere der beiden Cantatas, komponiert 1724, BWV 112 wurde sieben Jahre später 1731 uraufgeführt.
Sie stehen in dem Zusammenhang von ‚alt’ und ‚neu’ von alt-testamentarischen Hirten-Bildern und dem neu-testamentarischen ‚guten Hirten’ Christus.
‚Du Hirte Israel, höre!’ beschwört in faszinierender und teils für heutiges Verständnis stark verschlüsselter Weise die Hirten Patriarchen Jacob von Gott umbenannt ‚Israel’ und Joseph seinen Sohn – zwei der wichtigen alt-testamentarischen Gründerväter des Volkes Israel.
‚Der Herr ist mein getreuer Hirt’ nimmt einen Psalter – ebenfalls von einem Hirten verfasst – dem Hirtenkönig David, dem Vorläufer Christi – zur Grundlage und beschreibt das Wirken und die Wirkung des neuen ‚Pastor bonus’, des ‚guten Hirten’ des neuen Testamentes.
So schuf Bach durch diese zwei Hirten-Canatas einen ganzen Glaubenskosmos und den inneren Zusammenhang zwischen Verheißung und Erfüllung.
Bach Cantata BWV 104 ‚Du Hirte Israel, höre!’
Uraufführung 23. April 1724 in Leipzig, Text: unbekannter Dichter
Choral ,Der Herr ist mein getreuer Hirt’, Johann Walter 1524
Evangelisches Gesangbuch Nr. 274
„Du Hirte Israel, höre
Der du Joseph hütest wie die Schafe,
Erscheine, der du sitzest über Cherubim."
Einleitungschor zur Bach Cantata BWV 104 ‚Du Hirte Israel, höre!’
Dieser verführt den Hörer mit geradezu schmeichelnden, wiegenden Melodien der Sinfonia die sich in Triolen bewegt und mit Oboen ein Hirten-Szenario malt – man sieht vor dem geistigen Auge quasi die Schafe auf den Triften weiden.
Der Chors setzt ein in dieses Schaefer-Idyll und die Rufe ‚höre’ werden betont – ‚höre, höre’ – aber was und wer soll da eigentlich hören?
„Du Hirte Israel, höre
Der du Joseph hütest wie die Schafe,
Erscheine, der du sitzest über Cherubim.“
Der ‚Hirte Israel’ – wer ist denn das?
Bach bezieht sich auf die alt-testamentarische Umbenennung des israelitischen Hirtenkönigs Jacob:
„Er sprach: Wie heißt du?
Er antwortete: Jakob.
Er sprach: ‚Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel.
Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft’.
Evangelium Genesis Vers 32 ff
Und nun wird auch klar, wie dieser Jacob seinen Sohn ‚Joseph hüten kann wie die Schafe’ – es ist sein Lieblingssohn, der von den Brüdern aus Neid beraubt, fast totgeschlagen und nach Ägypten verkauft wird!
„Jakob aber wohnte im Lande, darin sein Vater ein Fremdling gewesen war, im Lande Kanaan.
Und dies sind die Geschlechter Jakobs: Joseph war siebzehn Jahre alt, da er ein Hirte des Viehs ward mit seinen Brüdern.
Israel aber hatte Joseph lieber als alle seine Kinder, darum daß er ihn im Alter gezeugt hatte und machte ihm einen bunten Rock.
Da nun seine Brüder sahen, daß ihn ihr Vater lieber hatte als alle seine Brüder, waren sie ihm feind und konnten ihm kein freundlich Wort zusprechen.
Dazu hatte Joseph einmal einen Traum und sagte zu seinen Brüdern davon;
Da wurden sie ihm noch feinder.“
Da ist die klare Parallele gezogen zu Gott der seinen einzigen Sohn, seinen Lieblingssohn, zum Opfer bringt – und erst als diese beiden Hirten Könige des alten Testamentes erwähnt werden, sozusagen die Wurzeln gelegt für das Neue, wendet sich der Chor an den der da ‚erscheinen’ soll.
„Erscheine, der du sitzest über Cherubim.“
Evangelium Genesis Vers 37 ff
In der Bibel sind Cherubim-Engel von hohem Rang, die für besondere Aufgaben herangezogen werden. Cherubim werden in der Bibel über 90 Mal erwähnt.
Zum ersten Mal tauchen sie in der Genesis (1. Buch Mose) auf, wo sie nach dem Sündenfall und der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden von Gott als Wächter vor dessen Zugang aufgestellt werden.
Christus, der ‚neue’ ‚gute Hirte’ sitzt über den Cherubim – den Wächterengeln – die nach der Genesis das Paradies bewachten und die Menschen ausschlossen nach dem Sündenfall. Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Cherubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten. Cherubim sind himmlische Wächterengel, die das Paradies bewachten. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang auch gerne an die Erlösung und Freude zu Weihnachten, die sich in dem bekannten Weihnachtslied ‚Lobt Gott ihr Christen allzugleich’ manifestiert, das in seiner letzten Strophe endlich den Cherub vom Himmelstor abzieht und es wieder für alle menschlichen Seelen öffnet.
„Heut schleust er wieder auf die Tür
Zum schönen Paradeis:
Der Cherub steht nicht mehr dafür,
Gott sei Lob, Ehr und Preis!
Gott sei Lob, Ehr und Preis!“
Nikolaus Herman 1560, Evangelisches Gesangbuch Nr. 27
Man kann sehr schön an diesem einen Beispiel von einem zweizeiligen Einleitungschor sehen, welcher Kosmos sich öffnet, wenn man Bachs Cantatas genauer kennenlernt.
Man muss sich dazu auch mal vorstellen von welcher theologischen und philosophischen Bildungsstufe seine Zuhörer im Leipziger Sonntags-Gottesdienst waren, die all diese verschlüsselten (guten) Botschaften verstanden haben, die uns heute nahezu vollständig verloren sind.
Diese Kulturstufe wurde von iPhone, Tablet, Facebook und Konsorten erledigt. Ich muss sagen, leider. Denn dieser Kosmos ist wunderschön, wenn er sich erst einmal eröffnet, und ein echtes Labsal für die Seele.
Der Tenor weist im Rezitativ auf den ‚höchsten Hirten’, der jetzt das Regiment führt:
„Der höchste Hirte sorgt vor mich,
Was nützen meine Sorgen?
Es wird ja alle Morgen
Des Hirten Güte neu.
Mein Herz, so fasse dich,
Gott ist getreu.“
Zwei Oboen d’amore im Duett – Hirteninstrumente – singen mit dem Tenor und sucht nach diesem Hirten der sich zu lange verbirgt und das Leben in der Wüste macht Angst und Bange – diese Furcht wird mit absteigenden Halbtonschritten charakterisiert. Der Ruf Christi am Kreuz in der tiefsten Not: ‚Aba’ – Hebräisch (אבא) für ‚Vater’– ist das Zauberwort, das der ‚gute Hirte’ wirken kann:
„Verbirgt mein Hirte sich zu lange,
Macht mir die Wüste allzu bange,
Mein schwacher Schritt eilt dennoch fort.
Mein Mund schreit nach dir,
Und du, mein Hirte, wirkst in mir
Ein gläubig Abba durch dein Wort.“
Das folgende Rezitativ des Bass mit basso continuo beschwört des Himmels Vorgeschmack auf diesem großen ‚Schafstall’:
„Ja, dieses Wort ist meiner Seelen Speise,
Ein Labsal meiner Brust,
Die Weide, die ich meine Lust,
Des Himmels Vorschmack, ja mein alles heiße.
Ach! sammle nur, o guter Hirte,
Uns Arme und Verirrte;
Ach lass den Weg nur bald geendet sein
Und führe uns in deinen Schafstall ein!“
Es folgt eine der wohl schönsten Bach-Arien, die mir bekannt ist – Dürr schreibt dazu in seinem Buch: Eine Pastorale von überwältigender Schönheit, ein wahres Seelen-Idyll mit sanften Streichern und einem wiegenden Schäfertanz‚ die Welt ist euch ein Himmelreich – wenn das jemals wohlklingend und herzerwärmend musikalisch beschrieben worden ist, dann hier:
„Beglückte Herde, Jesu Schafe,
Die Welt ist euch ein Himmelreich.
Hier schmeckt ihr Jesu Güte schon
Und hoffet noch des Glaubens Lohn
Nach einem sanften Todesschlafe.“
Besonders interessant und musikalisch erstaunlich ist der zweite Teil der die Glaubenshoffnung und den ‚sanften Todesschlaf’ beschwört. Die Hoffnung auf des ‚Glaubens Lohn’ wird zunächst in langen Bögen ausgezogen und der Todesschlaf wird danach harmonisch zur Tonalität der Arie völlig verändert. Bach nutzt einen sogenannten ‚neapolitanischen Sextakkord’ - bis schließlich leise und sanft der „Schlaaaaaaaaaaaaaaaf“ einsetzt und die Arie zum Stillstand kommt.
Die Kantate schließt mit dem Choral die im Zentrum der neuen Botschaft des Psalms 23 steht – Tröstung für alle die auf diesen Hirten in ihrem Leben warten:
„Der Herr ist mein getreuer Hirt,
dem ich mich ganz vertraue,
Zu Weid er mich, sein Schäflein, führt,
Auf schöner grünen Aue,
Zum frischen Wasser leit' er mich,
Mein Seel zu laben kräftliglich
Durchs selig Wort der Gnaden.“
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