Meinung

Zugegeben, das Spiel dieser Violinistin macht mich sprachlos. Weswegen ich in einem fünften Anlauf den Versuch unternehme, in Worte zu fassen, was in Worte zu fassen so unglaublich schwierig ist.

 

Ein wirkliches Genie, wer oder was das ist? Was folgt ist ein Versuch, per Exemplifizierung für so etwas wie Klarheit zu sorgen. Denn das folgende Beispiel kann lehr- und hilfreich sein zu begreifen. Der Gegenstand: das Violinkonzert in d-Moll op. 47 von Jean Sibelius; die Soloviolinistin: die japanische Geigerin Sayaka Shoji, die zu dem Zeitpunkt, als dieses Konzert (siehe Anhang) erklang, gerade erst ihr 21. Lebensjahr erreicht hatte.

 

Sibelius' Konzert braucht vielleicht keine zusätzliche Leidenschaft über das hinaus, was es von sich aus besitzt, aber es gibt keinen Zweifel an der Hingabe, Geradlinigkeit und Aufrichtigkeit, die Sayaka in ihrem Spiel zeigt. Sibelius wäre tief bewegt, wenn er diese junge Geigerin aus Japan bei der Aufführung seines Meisterwerks beobachten könnte. Es kann für einen Komponisten keine größere Anerkennung geben, als zu sehen, dass sein Werk ein Jahrhundert nach seiner Komposition von jungen Musikern auf der ganzen Welt gelobt wird. (@AndMakrid, 2013)

 

(Original: Sibelius' Concerto may not need added passion over what it possesses of its own, but there is no doubt about the devotion, straightforwardness and sincerity which Sayaka displays in her performance. Sibelius would be deeply moved watching this young violinist from Japan performing his masterpiece. There can be no bigger accolade for a composer than seeing his work praised by young musicians all over the globe one century after its composition.) @AndMakrid, 2013

 

Gleich zu Beginn des ersten Satzes der schwebend-zarte Einsatz der kaum wahrzunehmenden Geigen. Dann der zunächst fast schüchterne Eintritt der Solovioline, rein, klar, bei aller Zurückhaltung bestimmt. Anschließend, für einen unbedeutenden Moment, die Klarinette und, gleich darauf, das von der Sologeige ins Spiel gebrachte Thema des ersten Satzes: kraftvoll, leidenschaftlich, expressiv und hingebungsvoll, dem Gesamtcharakter dieser Komposition gemäß.

 

Worauf es aber ankommt, das ist die so ungemein feinfühlig akzentuierende, unscheinbarsten Differenzen hinhorchend nachspürende, hochgradig sensible Spielweise Sayaka Shojis. Das Ereignis: Der Beginn des dritten Satzes, dieses unerhört kraftvolle, stürmisch-bedrohliche 4/4-Takt-Zusammenspiel der Pauke, der Bässe und eben der Solovioline (was für ein ungeheurer, leidenschaftlich vorwärtsdrängender, atemberaubender Rhythmus!), katapultiert den wie besinnungslos Lauschenden in eine Verzweiflung fassungslosen Glücks. Und zwar den ganzen so ungemein kontrastreichen Satz hindurch, der so, wie er hier dargeboten wird, eine kaum auszuhaltende Konfusion der Stimmungen in ihrer überwältigenden Kraft erzeugt. Ein aberwitziger Zustand, in der Komposition omnipräsent, durch das Spiel dieser Violinistin und das des London Symphony Orchesters unter der Leitung von Colin Davis zum Leben erweckt. Und dieser auf ganz unterschiedliche Weise aufwühlende und mitreißende – denn auch die ängstlich sich wegduckenden und schüchtern tastenden Passagen sind von einer herzergreifenden Intensität – Satz, das sei auch noch erwähnt, zaubert immer wieder auch ein wissendes Lächeln der Verzückung in manches Gesicht der Mitmusizierenden, die vielleicht momentweise begriffen oder erahnt haben, außerordentliche Mitgestalter einer außerordentlichen Komposition an diesem besonderen Abend (gewesen) zu sein.

 

Der langsame Satz, der um 18.15 Uhr beginnt, ist besonders ätherisch. Die unvergleichliche Feinheit der Gestaltung der Vibrato-Passagen, die die entrückten Gesichtsausdrücke des Dirigenten und des Solisten hervorbringen, sind einfach exquisit; der Bratschist, der hinter ihm sitzt, scheint während eines Großteils dieses wunderbaren Satzes Tränen des Unglaubens wegzublinzeln. (@peterrust4436, 2017).

(Original: The slow movement, which starts at 18.15, is particularly ethereal. The incomparable delicacy of the sculpting of the vibrato sections bringing the rapt expressions of the conductor and the soloist are just exquisite; the viola player sitting behind seems to be blinking away tears of disbelief through much of this wonderful movement. (@peterrust4436, 2017).

Musik, zumal in dieser Darbietung, ist der höchste Ausdruck, den die Menschheit überhaupt gefunden hat.

 

Dieser Solo-Violinpart, der an die Technik allerhöchste Ansprüche stellt und gleichzeitig eine Präsenz und Hingabe, eine Feinfühligkeit des Sich-verlierens verlangt, die dem Bravourcharakter des Ganzen eigentlich zuwider ist. Nach wenigen Takten wird die eingängige Melodie abgeändert, da sie sich sonst im Banalen, Gassenhauerischen verlieren würde. Ganz eindeutige Walzeranklänge. Sanft-beschwingt trägt einen das schwebende Noten-Gewoge davon, ein beseligtes Lächeln auf den Lippen. Aber dann wird’s im Nu wieder dunkel, bedrohlich geradezu. Den wüst vorwärtsdrängenden, aufwühlenden Rhythmus freilich, der das Alles zusammenhält, hört man trotzdem, bei allen Variationen, die ganze Zeit heraus.

 

Zu Beginn des letzten Drittels des Final-Satzes, das ist so unerhört… Der Klang der Geige… Flageolett. Eine zart-abgründige Intensität und sphärenharmonisch anmutende Weltentrücktheit, die Sayaka Shoji in diesen wenigen Sekunden tief anrührende Traum-Wirklichkeit werden lässt. Wie es doch so schwebend-leicht-erdenfern, so elfenklangartig-betörend-geisterhaft-zerbrechlich und verloren zitternd um Hilfe flehend klingt wie von ganz weit weg. In dieser aufgelösten, sphärenmusikhaft entschwindenden, feinstfühligen, bei aller wispernden Zartheit durchdringenden, gleißend-hellen Eindringlichkeit allenfalls von Hilary Hahn in ihren diversen Einspielungen dieses Stücks Musik voller geheimnisvoller Wunder erreicht! Es klingt, ganz ohne Vibrato, klagend, auf eine schmerzliche Weise weh-verloren und wie entrückt. Um gleich anschließend in den Tumult ekstatischen, ich möchte fast sagen blindwütigen oder hypnotisch-berauschten Hingerissen-seins – eine ungeheure dramatische Spannung entlädt sich – zu eskalieren. So dass es den Anschein hat, als würde der Dirigent, kurz vor dieser Flageolett-Passage, auf Grund der sich urplötzlich entladenden Spannung, die für diesen Satz insgesamt und als solchen charakteristisch ist, in einen Schockzustand unvermittelten, fassungslos-überraschten, erschrockenen Innehaltens katapultiert.

 

Wer diesem Konzert seine wirkliche, vollste Aufmerksamkeit schenkt, den befällt eine Ahnung, worin die Genialität des reproduktiven Künstlers besteht, der die Genialität der Komposition mit dem ihr immanenten Leben, das auch schmissige, draufgängerisch-kecke, Konventionen leichten Herzens über Bord werfende Elemente enthält, erfüllt. Es kommt zur Zeugenschaft der Hingabe einer entrückten Schlafwandlerin, die in ihrem ganz und gar unbewussten Verloren- und Hingegeben-sein eine unfassbare Präsenz und Geistesgegenwart – nicht da und gerade und insbesondere deswegen doch auf eine fast schon beängstigende Weise da – ausstrahlt.

 

Übertragen auf die Literatur verhält es sich so damit, dass dann, wenn jemand etwas zu erzählen hat und so wenig Zeit hat, darüber nachzudenken, dann scheint es von selbst zu geraten, und der Dringlichkeit seien alle bloßen Kunstfragen untergeordnet. Nur unter dieser alles entscheidenden Voraussetzung entsteht womöglich Kunst, die diesen Ehrennamen auch wirklich verdient, und nicht die Schablone des Kunstabenteuers, der Exhibition, des Verrats und des Selbstbetrugs, der die Kritik immer mehr in die Enge treibt.

 

Heinrich von Kleist hat es bereits in seinem Kurztext „Über das Marionettentheater“ klipp und klar ausgesprochen, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet. Diszipliniert, konzentriert und in dieser hochbewussten Gegenwärtigkeit wie versunken und verloren, in sich selbst eingesponnen bei aller Entschlossenheit, draufgängerisch, energisch und kraftvoll, auftrumpfend geradezu, und dann wieder zart, verschwebend und wie fragil wirkend, das ist das Charakteristikum des Spiels dieser Virtuosin, die, da sie den disparatesten Gefühlslagen mit einer ungeheuren Leichtigkeit Ton zu geben vermag und so vermutlich die Komposition zu sich selbst, ihrer eigentlichen Intention, ihrem innersten Wesensgehalt geführt hat, so wirkt, und das ist wahrscheinlich dafür, dass sie so unvergleichlich spielen kann, in der Tat nicht ganz unerheblich, als ob ihr jede Art von Allüren fremd sind. Auf jeden Fall spielt sie so.

 

Es ist, um noch einmal auf Kleists Schrift zurückzukommen, so, als ob ein Automat spielt, eine Marionette, die, ihr selbst vollkommen unbewusst, an Fäden gezogen, von fremder Hand dirigiert wird und dabei, ein Widerspruch in sich, sich in seliger Selbstvergessenheit – ja, es ist eine Puppe, die, grotesk!, eine Seele hat und sich ihrer im Spiel entäußert, ihre Seele zu der des Zuhörers werden lässt, der sich in der Musik verliert und sich nur und ausschließlich so verlieren und dabei selbst finden kann – hingibt, ganz in der Musik verschwindet, eins mit ihr ist. Je dunkler und schwächer die Reflexion, also das Bewusste, wird, desto strahlender und herrschender tritt die Grazie hervor. Sie erscheint, wenn die Erkenntniß gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist. Vom Baum der Erkenntniß muss man gekostet haben, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen.

 

Das ist, und darin besteht Genialität, das Genie dieser Sologeigerin, die während ihres Spiels so wirkt, als komme sie, ein unverdientes Geschenk an den plumpen Erdenbürger, aus einer anderen Welt. So etwas Unerhörtes kann gar nicht genug bewundert und gepriesen werden! Ihr Spiel lässt nie vergessen, daß es Ich und Du gibt, daß es Schmerz gibt, Freude, ihr Spiel ist groß in der Liebe, in der Zartheit, in der Brutalität, sie ist groß in jedem Ausdruck, und wenn sie ihn verfehlt, was zweifellos nachprüfbar ist in manchen Fällen, könne sie das doch nur deswegen, weil sie weiß, was Ausdruck überhaupt ist. Die Tränen, die ich geweint habe – ich brauche mich ihrer nicht zu schämen. Es ist sehr schwer oder sehr leicht, Größe anzuerkennen. Eines freilich ist über allen Zweifel gewiss, dass diese Künstlerin ein Mensch ist, der unvertraut ist in einer Welt der Mediokrität und der Perfektion. Sie hat sich – eine Auszeichnung ohnegleichen – der Annäherung an Vollkommenheit verschrieben.

 

Im Grunde verhält es sich vermutlich sogar so, dass es diese Violinistin, ob bewusst oder nicht, darauf abgesehen hat, selbst die Geige zu sein, die sie spielt. Also nicht der Mensch zu sein, der auf dem Instrument spielt, sondern, im Idealfall, dieses Instrument selbst. Eventuell ist es eine Unterstellung, zu behaupten, diese junge Frau wolle für die Zeit des Spiels kein Mensch, sondern ihre Geige sein, wenn sie in ihrem Spiel vermittelst der Violine, die sie in diesen Momenten sei, zur Komposition selbst werden will, indem sie sie zu ihr selbst führt, indem sie sie spielt. Das Ideal wäre, der Interpret wäre die Geige, der Interpret selbst wäre oder machte sich überflüssig in seinem Spiel, hätte sich selbst nicht notwendig. Sayaka Shoji ist die, die sich in ihrem Spiel als Spielerin selbst annulliert. Was nichts anderes heißt, als, entweder als Ganzes in die Musik hinein- und in ihr unterzugehen oder es am besten gleich ganz sein zu lassen. Das ist zwar viel verlangt, aber ohne das ist die Musik und die Kunst als Ganzes verloren.

 

Denn was ist dieser Klang, der dir Heimweh macht? Und was ist diese Musik, die dich zittern macht und dir den Atem nimmt, als wüßtest du deine Geliebte vor der Tür stehen und hörtest den Schlüssel schon sich drehen? Was ist dieser Akkord, mit dem die wunderliche Musik Ernst macht und dich in die tragische Welt führt, und was ist seine Auflösung, mit der sie dich zurückholt in die Welt heiterer Genüsse? Was ist diese Kadenz, die ins Freie führt?! Wovon glänzt dein Wesen, wenn die Musik zu Ende geht, und warum rührst du dich nicht? Was hat dich so gebeugt und was hat dich so erhoben? Was hörst du noch, wenn die Musik zu Ende ist? Was ist es?! Gib Antwort! ‚Still!’ Das vergesse ich dir nie. (Die Kursivpassagen gehen – aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus problemlos zuschreibbar – auf Ingeborg Bachmann und Heinrich von Kleist zurück.)

 

Und auch ich werde es Sayaka Shoji nicht vergessen, dass sie mich in jeder ihrer Einspielungen in einen emotional kaum zu bewältigenden Zustand glückhaft-schmerzvollen Entzückt-seins versetzt, so dass ich immer wieder das Bedürfnis verspüre, meine zutiefst empfundene Dankbarkeit auszudrücken, indem ich um die richtigen, das Gemeinte nach Möglichkeit treffenden Worte ringe.


Shoji Sayaka spielt Jean Sibelius (Violin-Konzert, d-moll, op.47)

 

YouTube-Video:

Shoji Sayaka Plays Sibelius Violin Concerto in D minor, op.47 (37:34 Min.)

 

Datenschutzhinweis zu YouTube Videos. Um das verlinkte Video zu sehen, stimmen Sie zu, dass dieses vom YouTube-Server geladen wird. Hierbei werden personenbezogene Daten an YouTube übermittelt.

Weitere Informationen finden sie HIER

 

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.