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Richard Strauss’ „Electra“

Ein Schauermärchen fürs bürgerliche Publikum – in diese Ecke wurde Richard Strauss’ 100 Minuten dauernder Einakter „Elektra“ nach seiner Uraufführung 1909 in Dresden gestellt. Christian Thielemann zeigt in seiner aktuellen Aufnahme für die Deutsche Grammophon, dass das eine unzulässig verkürzte Wahrnehmung ist.

Verstörend die Handlung, die Librettist Hugo von Hoffmannsthal nach Sophokles zuerst zu einem hochexpressiven Psychodrama geformt hatte, aus der dann das Textbuch zur Oper entstand. Mykenes Königstochter Elektra, Schwester der Iphigenie, des Orest und der Chrysothemis, lebt nur noch, um Rache an den Mördern ihres Vaters Agamemnon zu nehmen. Den hatten bei seiner Rückkehr aus dem trojanischen Krieg seine Ehefrau Klytämnestra und ihr Liebhaber Ägisth gemeuchelt. Der ganze Hof in Mykene hat sich mit dem neuen Regime arrangiert. Nur eine besteht darauf, dass nicht Recht sein kann, was Unrecht war: Elektra. Deswegen ausgegrenzt und verachtet, wartet sie auf Orest, den sie in der Fremde in Sicherheit gebracht hatte, damit er später die Rache vollzöge. Sie nervt den Hof mit ihrem täglichen Klageritual zur Todesstunde von Agamemnon und mit ihren Hasstiraden. Und sie hütet das Beil, mit dem Agamemnon erschlagen wurde – es soll seine Mörder treffen. Als Orest tatsächlich zurückkehrt, tötet er Klytämnestra und Ägisth, und Elektra tanzt ekstatisch – doch neues Leben in der wieder hergestellten Ordnung ist ihr nicht beschieden – sie tanzt, bis sie im Freudentaumel ihr Leben aushaucht.

Verstörend auch die Musik, die Richard Strauss vier Jahre nach seinem Skandalstück „Salome“ dazu schrieb: „Ich bin (...) bis an die äußersten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie (Klytämnestras Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen.“ Die Oper „Elektra“ hätte Strauss’ entscheidender Schritt ins musikalische Universum jenseits der Tonalität werden können. Sie ist musikalischer Expressionismus pur, balanciert auf der Grenze zum Atonalen, probiert neue Stilmittel aus – und wird später seinen Wendepunkt markieren: Zwei Jahre nach „Elektra“ hat sich der Bürgerschreck von seinen Avantgarde-Versuchen entfernt und ist wieder sehr im Tonalen und im spätromantischen Gestus zu Hause, er schreibt seinen „Rosenkavalier“.

Electra DGDoch Christian Thielemann tut viel dafür, dass man genau diese Entwicklung spürt: Auch Strauss’ rhythmisch und melodisch komplexeste Oper besitzt andere Seiten als die gewaltigen, fast gewalttätigen Brocken von Elektras ungeheurer Rachefantasie zu Beginn, den giftig verhakten Dialog mit ihrer Mutter oder das Wiedererkennen ihres Bruders, das bei Thielemann und der Staatskapelle Dresden wahrlich durch Mark und Bein fährt. Er nimmt das Orchester häufig weit zurück, achtet auf Nebenlinien in der Partitur, macht so Zweifel, Sehnsüchte, Ängste, Enttäuschungen hörbar – es ist an manchen Stellen beinah kammermusikalisch transparent, was da musiziert wird.
Thielemann präsentiert diese „Elektra“ nicht mehr nur als Klangrausch-Experte, er geht analytischer heran, präpariert solche Zwischentöne heraus, lässt Gedanken- und Gefühlssphären entstehen, die ahnen lassen, warum Strauss viele Jahre später in seinen „Zehn goldenen Regeln, einem jungen Kapellmeister ins Stammbuch geschrieben“ dies fordert: „Dirigiere Salome und Elektra wie Mendelssohn: Elfenmusik!“ Was sich da fast absurd liest, ist ein guter Hinweis darauf, nach den tieferen, den verdeckteren Gefühlsschichten in der Musik zu graben und sie behutsam freizulegen.

Thielemann gemeinsam mit der feinnervig spielenden Staatskapelle Dresden und ihrer langen Strauss-Tradition (neun der 15 Strauss-Opern wurden in Dresden uraufgeführt) schafft das. Weil er die Vorahnungen der musikalischen „Rosenkavalier“-Sprache schon hier aufspürt, klingt seine „Elektra“ weniger eindimensional und entwickelt größere Kraft – denn auch die Hass-Eruptionen sind ja nicht nur Oberfläche, sondern gehen zurück auf zarte, verletzte Seelen. Man wird unweigerlich hineingezogen in diesen archaischen Konflikt, der so viele Facetten hat und in dem niemand nur böse ist.
Das macht es auch den Sänger etwas leichter, vielfarbig leuchtende Rollenporträts zu gestalten. Bei Klytämnestra schwingt mit, dass sie eine durch Alpträume gebrochene Frau ist, die ihrem Gatten nie verzeihen konnte, dass er Iphigenie zum Opfer freigab, um guten Wind für seinen Aufbruch in den trojanischen Krieg zu bekommen. Und unter Elektras unbeugsamem Hass scheint vieles auf, was sie eigentlich hätte sein können – nun ist sie eine verwundete Existenz, die mit ihrer weniger verhärteten Schwester Chrysothemis auch diese erschütternde Erfahrung teilt – der Satz wird gleich zweimal gesungen: „Wer hat uns je geliebt?“

Strauss’ Musik lässt uns direkt in die Seele Elektras schauen und ihre Gefühle hören. Sie ist nicht vor Rache blind, sie will nur nicht die Grundlüge mittragen, es sei rechtens gewesen, den König von Mykene umzubringen und sich an seine Stelle zu setzen. Sie leidet daran, sie opfert der Idee von Gerechtigkeit alles, am Ende auch ihr eigenes Leben.

Leider gar nicht selbstverständlich, hier aber nahe am Ideal: Dass man hier selbst bei furiosesten Gesangsexplosionen jedes Wort klar verstehen kann. Großartig die Solisten dieser Aufnahme: Evelyn Herlitzius singt eine vollendete Elektra, mit extremer Stimmgewalt bei höchster Intensität, sie geht in dieser Rolle auf, behauptet sich auch gegen die volle Orchestergewalt. Sie elektrisiert das Orchester und ist Motor dieses Dramas. Waltraud Meier zeichnet die Klytämnestra nicht nur als verzweifelte, von ihrem Gewissen geplagte Mörderin, bei ihr schwingt auch mit, was jene als Mutter durchmachte. Und Anne Schwanewilms singt die Chrysothemis, die der Palast- und Rachewelt endlich entfliehen will, fein und überzeugend. René Pape ist auch stimmlich ein zupackender Orest von rächender Direktheit – so bietet diese Aufnahme ein Spitzenquartett, das kaum einen Wunsch offenlässt. Ein brillant gelungenes Geschenk zum 150. Geburtstag des Komponisten.


Richard Strauss: Elektra. Staatskapelle Dresden,
Ltg. Christian Thielemann. Evelyn Herlitzius, Anne Schwanewilms, Waltraud Meier, René Pape u.a. 2 CDs,
Deutsche Grammophon # 479 3387

Die Aufnahme entstand einen Tag nach der Premiere in der Dresdner Semperoper bei einer konzertanten Aufführung in der Berliner Philharmonie.

Video aus der Dresdner Semperoper


Headerfoto: Szene mit René Pape (Orest), Evelyn Herlitzius (Elektra). Foto: Matthias Creutziger
CD-Cover

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