NDR-Chor: A Quattro Chori – Wenn der Klang den Raum erobert
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Was haben der Petersdom in Rom und das venezianische Kirchenprunkstück San Marco mit St. Nikolai am Klosterstern in Hamburg-Harvestehude gemein? Wenigstens akustisch dies: Dort können mehrchörige Chorwerke ebenso fein gehört und aufgenommen werden wie an den Kirchen, in denen sich die Mehrchörigkeit ursprünglich entwickelt hat und wo sie zu voller Blüte gekommen ist. Beweis? Die neue CD „A Quattro Chori“ des NDR-Chores unter Philipp Ahmann.
Mit drei Werken zeichnet sie die Reise des mehrchörigen Singens durch die Zeit und in den Norden so plastisch nach, dass man am Ende versteht, wo ein Johannes Brahms seine kompositorischen Mittel für bestimmte Chorpartien zum Beispiel in seinem „Deutschen Requiem“ gefunden hat. Aber der Reihe nach: Am Anfang stand eine Reise. Eine, die Folgen haben sollte.
Als Johann Friedrich Reichardt, Musiker und Schriftsteller, 1783 von Berlin nach Rom fuhr, hoffte er, dort großartigere Musik zu hören als im preußischen Berlin, wo man nicht einen Chor „rein und gut ausgeführt“ singen hörte. Chöre – das waren damals vor allem Knaben- und Männerchöre. Aus Rom, wo der älteste päpstliche Chor seit dem Jahr 600 bestand, brachte er eine 16-stimmige Messe von Orazio Benevoli 1605-1672), der den jüngeren Chor „Capella Giulia“ am Petersdom geleitet hatte, der zu Reichardts Zeiten „nur“ 270 Jahre alt war.
Reichardt begeistert sich am vielstimmigen Chorklang – eine Musik, deren Entwicklung von der Architektur der großen Kirchen begünstigt worden war, wo man mehrere (allerdings kleine) Chöre an auseinanderliegenden Standorten aufstellen konnte, um einen prächtigen Raumklang – mit bis zu zwölf (!) Chören und 48 (!) Stimmen – zu erzielen. Die Sängergruppen, meist zwei bis sechs, vereinten sich, unterstützt von dem langen Nachhall, in dem sich die Töne mischten, zu einem mächtigen Ensemble, dessen Musik beeindrucken konnte und es auch sollte.
Die Eroberung des Raums in der Musik fällt übrigens in etwa zusammen mit dem Siegeszug der Perspektive in der Malerei. Und mit den globalen Entdeckungsreisen – der Mensch macht sich die irdische Welt untertan und dokumentiert diese Eroberung, in dem er den Kosmos nacherschafft – eben auch in der Musik.
Benevolis „Missa ‚In diluvio aquarum multarum’“ muss für Reichardt eine Entdeckung der besonderen Art gewesen sein. Zwar war Johann Sebastian Bach mit der dramatischen Doppelchörigkeit seiner Passionen gerade erst 33 Jahre tot, aber die Kunst des mehrchörigen Singens, wie sie Schütz oder Orlando di Lasso kultiviert hatten, war weitgehend in Vergessenheit geraten.
Eine Komposition für sechzehn Stimmen, geschrieben einst für Männer-, zarte Knaben- und kräftig strahlende Kastratenstimmen (im Vatikan übrigens erst seit 1903 endgültig verboten!), beim NDR-Chor gesungen von 30 Männer und Frauenstimmen. Die vier Chöre singen und aus wechselnden Perspektiven, bleiben aber über weite Strecken relativ statisch in der Stimmführung, um den Raum zu füllen und zum Klingen zu bringen, sie erzeugen Spannung oft durch ausgekostete Vorhalte, auch chromatische Passagen und bedächtige harmonische Übergänge und erreichen dabei immer eine ruhige, fast meditative Grundstimmung.
Zurück in Berlin zeigt Reichardt diese Messe seinem Freund Carl Friedrich Fasch (1736-1800), der neben dem Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel als Musiker am Hof Friedrichs II. angestellt war. Fasch war begeistert, schrieb sie ab und wollte etwas Vergleichbares schaffen. Er komponiert also eine 16-stimmig, vierchörige Messe, orientiert sich aber an den stilistischen Errungenschaft der neueren Instrumentalmusik, er bricht die flächigen Arrangements auf, nutzt virtuose solistisch eingesetzte Solostimmen neben und im Kontrast zu den Chören, schafft Bewegung und wunderbare Abwechslung – ein neuer Trieb am Stamm einer alten Tradition.
Faschs „Missa a 16 voci in quattro chori“ aufzuführen schaffte keiner der Berliner Knabenchöre; so gründete er 1791 ein neues Ensemble, die bis heute bestehende Sing-Akademie, in dem Männern und Frauen miteinander singen. Der NDR-Chor führt vor, was Chormusik unter diesen neuen Vorzeichen sein kann: ein vielstimmiger, so virtuos wie opulent auftretender Klangkörper, der die alten Traditionen in Faschs Komposition ebenso wie die neuen Klangeffekte zum Blühen bringen kann.
In die Sing-Akademie tritt 1820 der elf Jahre junge Felix Mendelssohn ein, gemeinsam mit seiner drei Jahre älteren Schwester Fanny. Auch ihre Mutter singt dort. So Mendelssohn die großartige Vielstimmigkeit kennen; acht Jahre später adaptiert er deren Elemente aus deren Stil für sein 16-stimmiges „Hora est“, ebenfalls geschrieben für vier vierstimmige Chöre. Und genau so, wie man in Faschs Werk die Wurzeln der alten Tradition aufspüren kann, findet man auch die Verbindungen hin zum Neuen, das Mendelssohn besonders gereizt haben muss. Er weist den Chören unterschiedliche, aus dem kurzen Text abgeleitete Rollen zu: Wächter, Priester, das Volk, Jungfrauen. Und man spürt, wie eindringlich er sich damals schon mit Bachs Matthäuspassion auseinander gesetzt hat, die er wenige Monate nach der Komposition des „Hora est“ zum erstenmal seit Bachs Tod wieder als komplettes, wenn auch bearbeitetes und gekürztes Werk aufführen wird.
Der NDR-Chor zeichnet mit der klugen Auswahl dieser drei Werke nicht nur eine wichtige Entwicklungslinie der Chormusik nach, sondern beweist auch, aus was für großartigen Sängerinnen und Sängern er besteht – Vielstimmigkeit heißt ja auch: sehr wenige Sänger bis hin zur solistischen Besetzung tragen die einzelnen Stimmen. Das dichte Stimmengewebe transparent zu halten und es gleichzeitig mit großer Homogenität zu präsentieren, ist eine Herausforderung, die der NDR-Chor hier brillant meistert.
NDR Chor: A Quattro Chori – Benevoli, Fasch, Mendelssohn. Es-Dur ES 2049
Zum Reinhören
Abbildungsnachweis:
Header: NDR-Chor. Foto: NDR/Klaus Westermann
CD-Cover
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