CDs KlassikKompass
Kopf-Hörer 15

Neues vom Planeten Bach: Dass sein Wohltemperiertes Klavier dereinst auf einem Akkordeon gespielt würde, und dann noch so grandios, wie Mie Miki das tut – den alten Bach hätte es schwer beeindruckt. Marc Minkowski hat eine hochdramatische Johannespassion eingespielt, Sebastian Knauer legt mit „Bach & Sons 2“ innerfamiliäre Entwicklungslinien frei. Reinoud van Mechelen positioniert sich als bester Bach-Tenor, und das Dunedin Consort aus Schottland hat Bachs erste Leipziger Christvesper aus dem Jahr 1723 rekonstruiert – mit einem „Magnificat“ zum Niederknien.

Cover Mie Miki DWAMie Miki – Das wohltemperierte Akkordeon. Wie würde es sich anhören, wenn Bach, der große Johann Sebastian, seine Anregungen zur Abwechslung mal aus einer Pariser Nacht mitgenommen hätte, mit dem Blick vom Montmartre auf das Lichtermeer der Stadt, oder von einem Spaziergang über die Champs-Elysées? Vielleicht so, wie Mie Miki das b-Moll-Präludium aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers spielt: voller Sehnsucht. Die Bach-CD der in Tokio geborenen japanischen Akkordeon-Professorin an der Folkwang Universität der Künste in Essen ist weit mehr als ein Kuriosum: die 12 Präludien und Fugen aus beiden Bänden des Wohltemperierten Klaviers haben geradezu hypnotische Wirkung, sie machen süchtig, der organisch atmende Klang des Akkordeons zieht magisch in Bachs Musik hinein. Wer glaubt, dass ein Akkordeon nicht über die nötige Klangvarianz verfüge, wird von Mie Miki mitgenommen auf eine spannende Reise durch die Melancholie des b-Moll-Präludiums zur c-Moll-Fuge oder dem Fis-Dur-Präludium, die leichtfingrig aus der Notenlandschaft springen. Ihre Finger fliegen rasend schnell beim D-Dur-Präludium (alle aus Band 1). Elegant und schwungvoll tupft Mie Miki die F-Dur-Fuge aus Band 2, die in fis-Moll aus Band 2 spielt sie temperamentvoll wie Kinder am ersten Frühlingstag, immer auch ein bisschen träumerisch, aber durch und durch klar strukturiert. Mehr als 60 Original-Werke für Akkordeon sind auf Mikis Anregung entstanden, mehr als 25 CDs hat sie aufgenommen – ihr Spiel fasziniert. Und Bach, der schon Deutungen als A-cappella-Swing, im Blechbläserensemble, elektronisch oder auf der Glasharmonika überlebt hat, entwickelt auf dem Akkordeon einen sehr eigenen Charme, in dem man immer wieder Neues findet. Ein ernsthafter und gleichzeitig sehr gelöster, heiterer Bach, auf einem Instrument, für das Schumanns im Booklet zitierter schöner Satz gilt, den sich alle Pianisten hinter die Ohren schreiben sollten: „Liebe dein Instrument, halte es aber nicht in Eitelkeit für das höchste und einzige. Bedenke, dass es noch andere und eben so schöne gibt.“

J.S. Bach/Mie Miki: Das wohltemperierte Akkordeon
Mie Miki, Akkordeon
SACD BIS records
BIS-2216



Cover Minkowski - Johannes-PassionMarc Minkowski/Musiciens du Louvre: Johannes-Passion. Gleich zu Beginn seiner Johannespassion macht Marc Minkowski das Ungeheuerliche des Geschehens deutlich, wenn die schweren, tiefen Akkorde (verstärkt durch ein Kontrafagott) wie ein todgefährlicher Marschrhythmus unter dem „Herr, unser Herrscher“ erklingen. Das zielt nicht auf feine religiöse Betrachtung, sondern aufs Herz des Zuhörers, das er erreichen, anrühren und bewegen will. Diese Aufnahme stellt die Passion als das vor, was sie Bach laut Arbeitsvertrag in Leipzig ganz bestimmt nicht sein sollte: theatralisch. Dafür sorgen die acht opernerprobten Stimmen des kleinen Chorensembles – sie wollen nicht Masse im Einklang sein, sondern acht Individuen, die sich zum Geschehen positionieren und von denen jede ihre ganz eigene Klangcharakteristik einbringt. Gut anzuhören in den Arien, die aus dem Chor heraus gesungen werden; der Chorklang wirkt doch manchmal etwas arg uneinheitlich, zuweilen sticht ein Sopran-Vibrato unschön hervor. Dafür sind die quirligen Massenszenen der Gefangennahme, Verhandlung und Kreuzigung von eindrücklicher, packender, fast opernhafter Präsenz, Chor und Orchester agieren dabei als gleichwertige Partner. Lothar Odinius singt den Evangelisten schlank und klar, mit dramatischem Einschlag auch er. Kontemplation sucht Minkowski nicht in diesem Herzstück des christlichen Erlösungsprojekts – der unfassbaren Opferung des Sohns durch den Vater. Demgemäß sind die Tempi flott bis in die Choräle hinein. Man muss sich umstellen, hineinziehen lassen – und kann beim Zuhören nicht am Rand stehen bleiben.

J.S. Bach: Johannes-Passion
Les Musicien du Louvre, Leitung: Marc Minkowski
Erato/Warner Classics
2 CDs
0190 2958 54058



Knauer Bach a SonsSebastian Knauer: Bach & Sons 2. Sebastian Knauer hat mit dem Vornamen wohl auch die Leidenschaft für die Leidenschaft für die Musik der Familie Bach geerbt. Drei Konzerte des großen Johann Sebastian, je eines des Londoner Bachs Johann Christian und des Hamburger Bachs Carl Philipp Emanuel finden sich auf seiner zweiten CD „Bach & Sons“. Zusammen mit dem Zürcher Kammerorchester schafft es der Hamburger Pianist, dass Johann Christians f-Moll-Konzert im ersten Satz ganz dicht an die dramatische Tonsprache etwa von Mozarts „Don Giovanni“ heranrückt und Carl Philipp Emanuels g-Moll-Konzert klingt, als hätte es Haydn komponiert. Knauer geht Bach senior mit wenig Erdenschwere an, dafür mit viel Lust am Leichten, Verspielten – er lässt es perlen und tropfen wie beim A-Dur-Konzert, lässt das Adagio im f-Moll-Konzert ganz zauberhaft singen, träumt sich durch das Adagio im Triple-Konzert (mit Daniel Hope, Violine, und Philipp Jundt, Flöte) und versteht es, durch seinen tupfenden Anschlag fast vergessen zu machen, dass er auf einem modernen Steinway spielt und nicht auf einem Cembalo.

J.S., Johann Christian und Carl Philipp Emanuel Bach: Klavierkonzerte
Berlin Classics
CD
0300 764 BC



Cover Mechelen - BachVan Mechelen/A Nocte Temporis: Erbarme dich. Der junge Tenor Reinoud van Mechelen, Jahrgang 1987, hat erst 2012 sein Masterexamen am Brüsseler Konservatorium abgeschlossen und in kürzester Zeit zur Spitzengruppe europäischer Tenöre aufgeschlossen. Er singt weich und jugendlich rein, aber bestimmt und kristallklar, braucht keinerlei Forcierung, nicht einmal in den höchsten Lagen. Seine Stimme ist ultrabeweglich, seine Sprachartikulation unmittelbar verständlich – man denkt, wenn man ihn hört, sofort an den jungen Peter Schreier. Kein Wunder, dass sich die besten Ensembles und Dirigenten um ihn reißen und er inzwischen auf 25 CDs zu hören ist. Aufgenommen hat er vorzugsweise Werke von Purcell und Dowland, Charpentier und Lully, Bach und immer wieder Rameau. Mit seinem eigenen Ensemble „A nocte temporis“ (Flöte, Orgel, Cello) hat er jetzt Arien aus Bach-Kantaten zum Themenkreis Sünde und Erlösung eingespielt. Der etwas düstere Titel „Erbarme dich“ führt ein wenig in die Irre – es ist ein hohes Vergnügen zuzuhören, wenn van Mechelen und seine Mitstreiterin Anna Besson mit ihrem einschmeichelnden Flötenklang vom Sündenschmerz und der göttlichen Barmherzigkeit erzählen und dabei eine unerschütterliche Glaubensgewissheit zum Klingen bringen. Dazwischen gibt es Flötenstücke und Choralvorspiele, letztere von Benjamin Alard auf der André-Silbermann-Orgel der Kirche Sainte Aurélie in Strasbourg intoniert. Eine wunderbare Aufnahme, die direkt die Seele von Bach Musik berührt.

J.S. Bach: Erbarme dich – Arien
Reinoud van Mechelen, Tenor, Ensemble A Nocte Temporis
Alpha classics
CD
Alpha 252

YouTube-Videos:
BACH Erbarme Dich // REINOUD VAN MECHELEN Tenor // A NOCTE TEMPORIS

BACH // Was Gott tut, das ist wohlgetan, BWV 99: III. Aria Erschüttre dich nur nicht (Audio)



Cover Dunedin Consort - BachDunedin Consort/John Butt: Magnificat. Es muss ein besonderer Tag gewesen sein, dieser 25. Dezember 1723. Der erste Weihnachtstag in der Leipziger Thomaskirche für den vor gerade sieben Monaten engagierten neuen Kantor. Was musikalisch auf dem Programm stand, hat das schottische Dunedin Consort (erst kürzlich hier hoch gelobt für sein Weihnachtsoratorium) auf einer SACD zusammengefasst – in seiner Rekonstruktion von Bachs erster Christvesper. Neben Choralvorspielen auf der Orgel und Gemeindegesang finden sich dort eine achtstimmige Mini-Motette von Giovanni Gabrieli, die noch zu Bachs Weimarer Zeit, im Jahr 1714, entstandene Weihnachtskantate „Christen, ätzet diesen Tag“, das einzige Werk, in dem Bach vier Trompeten verwendet. Und das Magnificat, mit dem er zu diesem Weihnachtsfest besonderen Eindruck machen wollte. Diese erste Fassung entstand vier Wochen nach seinem Amtsantritt, in der Weihnachtsversion wird sie an vier Stellen unterbrochen durch Choräle mit weihnachtlichem Bezug. Und sie steht einen halben Ton höher als die heute gebräuchliche Notierung, was mit einem verwirrlichen Nebeneinander unterschiedlicher Kammertöne erklärbar ist. Das Dunedin Consort mit John Butt steht für musikantisches Musizieren, so zart wie lebensprall, seine Gesangssolisten (fünf, zu denen in den Chören noch fünf Ripienisten kommen) beherrschen die ganze Bandbreite der Gefühle, die in den Texten aufgeblätttert wird. Klar, durchsichtig, und nicht nur zur Weihnachtszeit eine Referenzaufnahme.

J.S. Bach: Magnificat (Fassung in Es-Dur) und Weihnachtskantate BWV 63
Dunedin Consort, Leitung: John Butt
SACD Linn Records
YouTube-Videos:
Bach's Magnificat - Dunedin Consort
J. S. Bach - Magnificat & Cantata 63 - Reconstruction Christmas Vesper Liturgy 1723 (Audio)



Abbildungsnachweis:

Header und CD-Cover

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