Musikalische Passionsgeschichten
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Das Leiden und Sterben Jesu ist seit Jahrhunderten einer der zentralen Anlässe für großangelegte Kirchenmusik. Die Art, wie sie aufgeführt wird, verändert sich immer wieder. Hier ist ein Überblick über vier aktuelle Passionen – einmal Schütz und dreimal Bach – für Chor und Orchester sowie eine, die in der Oper getanzt wird.
Schütz: Johannespassion. Heinrich Schütz (1585 bis 1672), Dresdner Hofkapellmeister und Schüler des großen Giovanni Gabrieli an San Marco in Venedig, schrieb seine Johannespassion im hohen Alter von 80 Jahren. Ein 38-Minuten-Werk an der Schwelle zum Barock, geprägt noch von einem psalmodierenden Tenor-Erzähler und kurzen Chorsätzen, die das turbulente Geschehen vor der Kreuzigung Jesu ausmalen. Während die Evangeliumserzählung zurückverweist auf alte klösterliche Musik, greifen die Chöre weit nach vorn und sind in gewisser Weise schon Skizzen für das, was Bach später nahezu opernhaft gestaltet. Fast 200 Jahre waren diese Schütz-Passion und andere vergessen, dann wurde die Johannespassion, um einen dezenten Continuo-Part ergänzt, wieder aufgeführt. Hans-Christoph Rademann hat sie jetzt in der originalen Fassung im Rahmen der Carus-Schütz-Gesamteinspielung (Vol. 13) solistisch besetzt und a-capella aufgenommen – mit einem hochkarätigen Solistenquintett, das die bildhaft-dramatische Tonsprache von Schütz ganz unprätentiös herausarbeitet.
Heinrich Schütz: Johannespassion
Dresdner Kammerchor, Leitung: Hans-Christoph Rademann.
CD Carus
83.270
Hörbeispiel
J.S. Bach: Markus-Passion. Wenn etwas als Fragment überliefert ist, reizt das immer zur Vervollständigung. Da geht es Mozarts Requiem nicht besser als Bachs kleiner (etwas über eine Stunde langer) und weniger bekannter Markus-Passion. Die Rezitative des Werkes von 1731 sind verloren, man könnte sie also nachempfinden. Oder – wie in der vorliegenden Aufnahme des Berliner Ensembles Wunderkammer – durch gesprochenen Evangeliums-Text ersetzen. Untergelegt mit Tönen, die das Drama der Worte unterstützen und gleichzeitig dem Chor zum nächsten Einsatz helfen. Kein neuer Weg, aber einer, der immer noch modern klingt. Die Texte werden gesprochen von Lars Eidinger, der damit auch die dramatischen Volksszenen auffangen muss, denn Bach hat hier keine Chöre vorgesehen. Es dirigiert Peter Uehling einen schlanken, 15-köpfigen Chor und die 13 Instrumentalisten. Ein gelungenes Experiment.
J.S. Bach: Markus-Passion
Ensemble Wunderkammer, Leitung Peter Uehling.
CD Coviello Classics
COV 91605
Hörbeispiel
J.S. Bach: Johannes-Passion. Lang erwartet, rechtzeitig zum Osterfest erschienen: René Jacobs neue Interpretation der Johannes-Passion des Thomaskantors, die er 1724, im Jahr nach seinem Amtsantritt in Leipzig, dort erstmals aufführte und danach – work in progress – mehrfach überarbeitete. René Jacobs folgt in dieser Aufnahme dem Trend, nicht mehr auf spartanisch-solistische Besetzung der großen Chorpartien zu vertrauen, die seiner Meinung nach Bach als „extreme Notlösung“ betrachtet hätte. Er nimmt vier Solisten (Sunhae Im, Benno Schachtner, Sebastian Kohlhepp und Johannes Weisser), die aber auch den Chor verstärken, 16 Ripienisten für die Chöre und nochmal an die 30 Sänger, Knabenstimmen inklusive, zur Verstärkung der Choräle. Aufgebaut hat er seinen Klangapparat aus der Akademie für Alte Musik, dem RIAS Kammerchor und dem Staats- und Domchor Berlin mit dem Evangelisten samt Continuo im Zentrum, Orchester links (Holzbläser vor den Streichern); Chor rechts und die Choral-Verstärkung hinten. In der 5.1-SACD-Fassung befindet sich der Hörer dann exakt an der Position des Dirigenten. Jacobs sucht einen sehr menschlichen, dabei so kraft- wie gefühlvollen Ton für das Passionsgeschehen – durchaus hochdramatisch in den Turba-Chören, wenn die Einflüsterer ihr Werk vollbracht haben. Seelenvoll und warm in den Chorälen, abhold neuer Sachlichkeit ebenso wie jeglicher Überromantisierung. Ein großartiges Musikerlebnis von hoher klanglicher Transparenz und absoluter Textverständlichkeit, eine Musterinterpretation, die keine Wünsche offen lässt und vier Arien und einen Choral aus der Fassung von 1925 als Bonustracks anfügt.
J.S. Bach: Johannes-Passion (Fassung von 1725)
RIAS Kammerchor, Akademie für Alte Musik Berlin, Leitung: René Jacobs.
2 SACD harmonia mundi
HMC 802156.58
Hörbeispiel
J.S. Bach: Matthäus-Passion. 1727 oder 1729 uraufgeführt, ist die Matthäuspassion Bachs umfangreichste (2 Stunden 45 Minuten) Passionsvertonung. Mit doppeltem Chor und Orchester generiert Bach da zeitweise sehr bild-, ja opernhafte Effekte, die doppelchörigen Massenszenen gehen direkt unter die Haut. Frieder Bernius hat das mit 2 mal 13 Sängern des Kammerchors Stuttgart und mehr als 30 Instrumentalisten vergleichsweise üppig besetzt, liegt aber weit unter Aufführungen, die – selbst erlebt – mit 120 Sängern bestückt waren. So kommt Bernius zu einem transparenten, gleichwohl kräftigen Klang, der nie breit und behäbig wirken kann und sich, in SACD angehört, auch räumlich Brillanz entwickelt. Aus dem Solisten-Quintett sticht Tilman Lichdi heraus, der die episch lange Evangeliumserzählung mit ebenso schlanker, charaktervoller Stimme singt wie die vertrackten Tenorarien.
J.S. Bach: Matthäus-Passion
Kammerchor Stuttgart, Barockorchester Stuttgart, Leitung: Frieder Bernius.
2 SACD + 1 DVD
Carus 83.286
Hörbeispiel
J.S. Bach: Matthäus-Passion. A Ballet by John Neumeier. Eine Wiederveröffentlichung, aber eine die es in sich hat. 1980 choreographierte der Hamburger Ballett-Intendant John Neumeier Skizzen zu Bachs Matthäus-Passion, die er im Hamburger Michel tanzen ließ. Diesem Experiment folgte 1981 das ganze Werk. Neumeier: Die Arbeit daran war „das tiefgründigste Erlebnis meines bisherigen Arbeitslebens.“ Zu einer leider sehr behäbigen Musikfassung, die Günter Jena mit Peter Schreier als Evangelist aufnahm, versammeln sich 41 Tänzer auf der Bühne, die beständig von ihrer Rolle als Zuschauer in die des Akteurs wechseln. Sie tanzen das Passionsgeschehen und seine Reflexion – „eine choreographische Meditation“ nach dem Willen Neumeiers, der in dieser Aufnahme aus dem Festspielhaus Baden-Baden von 2005 noch einmal selbst in die Rolle Jesu schlüpft. Man muss offen sein für religiöse Empfindungen, um diesem Mammutballett in voller Konzentration zu folgen und seine emotionalen Nuancen zu verstehen. Es ist ein Ritual, um dem Geheimnis des Übersinnlichen näherzukommen. Die Kritiker hat es polarisiert: „ergreifend modische Leere“, „in Stein gemeißeltes Weihespiel“, „ein neo-nazarenisches Ungefähr“ schrieben die einen, andere sehen es so: „Noch immer ist dies eine sehr ehrliche, einfache Auseinandersetzung mit Glauben und Religion. Ihr Ikea-Charme hat schon etwas Anrührendes, doch die weiche Eleganz des Hamburger Balletts adelt diese sehr eigenwillige, aber auch respektgebietende, im Neumeier-Werkkatalog zentrale Bach-Bearbeitung.“ Ergriffene Ballett-Besucher sorgen bis heute für ausverkaufte Vorstellungen. Gut, dass die Dokumentation dieses Ereignisses auf zwei BluRay Discs erhältlich ist.
J.S. Bach: Matthäus-Passion
A Ballet by John Neumeier.
2 BD Arthaus Musik
109 219
YouTube-Videos
Bach: Matthäus Passion (Festspielhaus Baden-Baden 2005)
Bach: Matthäus Passion - Blute nur, du liebes Herz
Bach: Matthäus Passion - Ich will bei meinem Jesu wachen
Abbildungsnachweis:
Header: John Neumeier, Passion. Foto: Holger Badekow
CD-Cover
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment