„Weine nicht, singe“ – ein starkes, brandaktuelles Stück
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Neustart in der Hamburgischen Staatsoper
„Weine nicht, singe“, uraufgeführt am Sonntag in der Opera stabile, ist eine Parabel von universeller Geltung, der sich niemand in dem kleinen Raum der Experimentierbühne entziehen kann. Der Text von Dea Loher, die Musik von Michael Wertmüller und das Spiel der Akteure gehen unter die Haut. Ein packendes Stück zeitgenössisches Musiktheater.
Dunkle Geheimnisse und verdrängte Wahrheiten haben eines gemeinsam: Sie drängen an die Oberfläche, sie bestimmen aus dem seelischen Untergrund das Handeln auch dann, wenn sie noch nicht ausgesprochen sind. Bei Dea Lohers aktuell für die Staatsoper geschriebenem Libretto mischen sich persönliche Konflikte und Tragödien mit einer Auseinandersetzung, die in der Gewalt ihrer Hoffnungslosigkeit die Dramen im Nahen Osten abbildet, nicht nur das zwischen zwischen Israel und den Palästinensern. Konkrete Parteien werden nicht laut benannt.
Das Publikum nimmt auf schwarzen Hockern auf schwarzem Sand Platz, bequem wird es nicht, weder im Rücken noch im Kopf während der nächsten anderthalb Stunden. Über den Köpfen schwebt eine Lichtinstallation: wie in einer Explosion auseinander fliegende LED-Leisten (Bühnenbild Florian Lösche), die hochexpressive Lichteffekte und Farbenspiele ermöglicht. Alle Mitwirkenden, auch die Musiker und der grandiose Dirigent Titus Engel, tragen farbig gepunktete Kleidung – ein Muster, das sich in ihren Gesichtern fortschreibt (Kostüme: Pauline Hüners). Schauspielerin Tina Keserovic bringt die Zuschauer und die sieben Musiker vom Ensemble Resonanz und von Steamboat Switzerland zum Schweigen: „Still, Zeno schläft.“
Es gibt gute Gründe, Zeno (Schauspieler Jens Ostendorf) nicht zu wecken. Doch zuvor entfaltet Regisseurin Jette Steckel umsichtig, zwingend am Text von Dea Loher entlang (der auf zwei Seiten des Raums unter die Partiturseiten projiziert wird) das Bild einer Familie im Kriegszustand: Raketen explodieren optisch und akustisch und bringen Raum und Zuhörer zum Beben. Die Eltern (Jürgen Sacher, Tenor, als Ron und Ruth Rosenfeld, Sopran, als Altai), ihre aufmüpfige Tochter Mira, der sich Tina Keserovic perfekt anverwandelt.
Unausgesprochenes gerät unter noch größere Spannung, als Aki (Bariton Holger Falk) vor der Tür steht. Ein Freund der Familie, vor 15 Jahren, der die Demarkationslinie zum feindlichen Süden endlich überwunden hat, um seine Schulden – wenigstens einen Teil davon – zurückzuzahlen. Oder geht es weniger um Schulden als um Schuld?
Verletzt, alt und verrückt muss man sein, um Wahrheiten auszusprechen
Ein dunkles Geheimnis umgibt die Beziehungen in der Familie, Miras Tante Oona hat sich vor 15 Jahren umgebracht, weil ihr Liebhaber sie verließ. Das fest gefügte Muster von Verdrängen und Verschweigen im Privaten, die gegenseitigen Verdächtigungen, all die emotionalen Verkrustungen, sie geraten in Bewegung, durch den bekannten Fremden werden alte Muster der Feindschaft aktiviert, die sehr willkommen das Private überdecken. Die Feindschaft und die privaten Lügen, gegen die nichts eine Chance hat, ziehen das ganze Konstrukt von Familie in einen Wirbel des Untergangs und der Zerstörung.
Einzig Zeno, der Großvater im Rollstuhl, drei Granatsplitter im Kopf, verrückt, spricht die unterdrückten Wahrheiten aus. Man muss sehr verletzt, alt und auch ein bisschen verrückt sein, um das zu tun. Zeno stellt die richtigen Fragen, hat Ideen zu den Antworten – die Chance, richtige Antworten zu geben, nimmt das Publikum am Ende der Aufführung mit nach draußen.
Es ist ein packendes Stück zeitgenössisches Musiktheater, wilde, schroffe, explosive, aber auch zarte Klänge, die unter die Haut gehen und ein großes Panorama der Gefühle der verstrickten Figuren spiegeln: hilflos wütend und kompromisslos auf Konfrontationskurs die Tochter, affirmativ-verdruckst Ron, überfordert hysterisch Altai, als Schmerzensmann, der sich eigener Schuld bewusst ist, Aki – alle agieren nicht nur einmal an den Grenzen des Singbaren, so wie sie die Grenzen des Erträglichen in der Dea Lohers Geschichte ausloten. Titus Engel tanzt durch Publikum und die Wertmüllers komplexe Partitur und hat mit seinem Leuchtstab jede Nuance traumhaft sicher im Griff. traumhaft sicher im Griff.
Wie funktioniert richtiges Leben im falschen?
Ein furioser Schluss im Dreiklang des Verschwindens und der Heimatlosigkeit, den das Team Nagano/Delnon als Auftakt seiner Amtszeit angeschlagen hat: Marthalers Abend über das Verschwinden aus der Realität und die Heimatlosigkeit der Gefühle, Thalheimers gewaltiges Drama über Flüchtlinge und das Leid, das immer neue Gewalt zeugt. Und nun Jette Steckel mit dem Klartext von Dea Loher über die unseligen Mechanismen, in denen sich Feindschaft und Gewalt fortpflanzen über Generationen hinweg. Wie funktioniert richtiges Leben im falschen? Kann man überhaupt singen, ohne zu weinen? Man hört Großvater Zenos beschwörende, weise Worte und ahnt Schreckliches.
Auch fürs Publikum ist das Stück eine Anstrengung – eine, die sich unbedingt lohnt. Der Riesenapplaus bei der Uraufführung ließ ahnen, dass die Botschaften des Stücks ankommen. Wenn Produktionen wie diese den Kurs der neuen Staatsopern-Intendanz für die Zukunft markieren, darf sich Hamburg auf spannende und Aufsehen erregende Zeiten freuen.
„Weine nicht, singe“ von Michael Wertmüller (Musik) und Dea Loher (Text).
Opera stabile, Kleine Theaterstraße.
Weitere Vorstellungen: 21., 23., 24., 26. und 30. September, jeweils 20 Uhr, und 27. September, 18 Uhr.
Tickets: 35 Euro
Abbildungsnachweis: Alle Fotos: Hans-Jörg Michel
Header: Ruth Rosenfeld, Tina Keserovic, Titus Engel
Galerie:
01. Jürgen Sacher, Ruth Rosenfed, Titus Engel, Holger Falk, Tina Keserovic, Steamboat Switzerland
02. Steamboat Switzerland, Ruth Rosenfeld, Josef Ostendorf, Jürgen Sacher, Holger Falk, Titus Engel
03. Josef Ostendorf, Titus Engel
04. Ruth Rosenfeld, Jürgen Sacher, Holger Falk
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