Theater - Tanz
Markanter Strukturwandel - Pegasus-Preis 2011 - Ernst Deutsch Theater

Das Ernst Deutsch Theater in Hamburg erhält 2011 die höchstdotierte Privattheaterauszeichnung, den „Pegasus-Preis“ des Unternehmens ExxonMobil.
Bereits 2003 konnte das EDT, wie es liebevoll abgekürzt wird, den Preis ins Haus holen. Eine Jury aus Theater- und Kulturjournalisten formulierte soeben als eines der ausschlaggebenden Kriterien für die Vergabe: „Die Intendantin Isabella Vertés-Schütter und ihr Team haben in den letzten Jahren einen markanten Strukturwandel des Hauses vollzogen. Dabei ist ihnen eine interdisziplinäre Vernetzung mit der Stadt gelungen.“

Claus Friede traf Isabella Vértes-Schütter im Ernst Deutsch Theater und sprach mit ihr über Vernetzung, strukturellen und programmatischen Wandel und über Jugendarbeit.

Claus Friede (CF): Gratulation zum „Pegasus-Preis 2011“, Frau Vértes-Schütter, der passend zum 60. Jubiläum des Ernst Deutsch Theaters an Ihr Haus vergeben wurde.
Ein entscheidender Punkt der Vergabe, so lautet es im Begründungstext der Jury, ist neben der Qualität des Programms, des künstlerischen Spielplans auch etwas, was ich als eine sehr behutsame und intelligente Art definieren möchte, das Publikum aus dem reinen Traditionstheater heraus zu führen. Welche Entwicklung hat das EDT eingeleitet?

Isabella Vértes-Schütter (IVS): Ich glaube das ist eine Entwicklung, die aus unterschiedlichen Impulsen entstanden ist. Wir haben uns ganz intensiv mit der Fragestellung zusammengesetzt, wie können wir die Qualität dessen, was wir hier zeigen stärken, ohne vermehrt finanzielle Möglichkeiten zu haben. Konkret heißt das, sehr bewusst zu schauen, welche Stoffe wir auswählen und wie setzen wir diese ästhetisch um; sind das die Stoffe, die wir hier wirklich erzählen wollen und müssen, oder sind die vielleicht an einem anderen Ort besser aufgehoben? Wir haben außerdem sehr sorgfältig mit den Regieteams die Besetzungen vorgenommen. Das hat zu einer Profilschärfung beigetragen. Dadurch war ein sehr homogenes Ensemble auf der Bühne zu erleben. Selbst kleinere Stücke haben wir hochkarätig besetzt. Der Etat steigt ja nicht, aber trotzdem wollen wir hier bestimmte Dinge anbieten können und das macht nur Sinn, wenn man damit dann auch die größtmögliche Qualität generiert oder zumindest die Chance hat, die zu erreichen. Wir haben versucht eine thematische Klammer für eine Spielzeit zu finden, um dieser einen zusätzlichen Halt zu geben.
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Der zweite Impuls hat mit der Entwicklung unserer Jugendsparte zu tun. Für uns ist das eine große Investition, die dieses Theater für die Jugendlichen leistet. Wir haben inzwischen fünf Jugendclubs, die kontinuierlich hier am Haus arbeiten und auf einem hohen Niveau. Ein Beispiel: Unsere Medien-Jugendgruppe „Inperspekt“, ist sehr erfolgreich im Schauspielhaus beim Backstage-Festival aufgefallen und sie sind zum Dockville Festival eingeladen. Auch daran sehen wir die enorme künstlerische Entwicklung. Oder das theatrale Philosophieren, die sind auf ein Festival nach Halle eingeladen worden. Mittlerweile hat diese Arbeit regelrecht Forschungscharakter und wir selbst lernen viel dabei. Die Jugendsparte ist darüber hinaus unsere Investition an die Jugendlichen unserer Stadt. Wir laden Jugendliche aus sozialen Brennpunkten hierher ein, Schulen, die noch kein großes kulturelles Angebot haben und die Schwelle sehr niedrig halten müssen.

CF: Was hat diese Sparte hier im Theater verändert?

IVS: Viel! Die Jugendsparte hat viel zu einer Flexibilisierung beigetragen. Einige Mitarbeiter hatten anfangs Schwierigkeiten und waren sich unsicher. Sie konnten sich nicht sofort darauf einstellen, dass hier eine Schar Jugendlicher plötzlich von ihren professionellen Räumen Besitz ergreifen. Aber es hat dazu geführt, dass dieses sich Einstellen auf Jugendliche, die Mitarbeiter sehr flexibilisiert und plötzlich uns auch dazu gebracht hat, noch mal anders auf das zu gucken, was wir machen, weil die Jugendlichen uns einen Spiegel vorgehalten haben und alles hinterfragten. Daraus entwickelte sich der Effekt und das Bedürfnis den Spielplan flexibel zu halten. 60 Jahre kontinuierliches Arbeiten in einem großen Privattheater bedeutet auch, das Haus ist ein großer Tanker mit vielen Abonnenten, mit einem Stammpublikum, welches bestimmte Stücke und Themen einfordert. Aber ich denke, die Jugendsparte war für uns ein nicht zu unterschätzender Impulsgeber nämlich darüber nachzudenken, wo wir hier noch was öffnen können.

CF: Steht Jugendarbeit und „klassisches“ Programm nebeneinander? Oder gibt es für das Publikum spürbare und sichtbare Verbindungen, Verknüpfungen oder Berührungspunkte?

IVS: Zu Beginn war das noch voneinander getrennt, und inzwischen sind beide Bereiche sehr verflochten. Das konnte sich entwickeln weil viele Jugendliche, die in unserer Jugendsparte das Theatermachen kennen lernen, auch gucken, was wir denn sonst noch so machen und daran teilnehmen und auch anders reflektieren und uns zurückgeben. Wenn man hier beispielsweise im regulären Abendspielplan eine Antigone-Inszenierung zeigt und gleichzeitig ein freies Jugendgroßprojekt zur Antigone mit 100 Jugendlichen auf die Bühne bringt, führt dies zwangsläufig dazu, dass wir das, was wir im Spielbetrieb tun, noch mal anders hinterfragt wird. Mir ist allerdings wichtig zu betonen, das dies oftmals keine ganz bewusst gelenkten Prozesse sind, sondern das geschieht einfach. Das Bedürfnis mehr Räume im Spielplan auch für andere Formate zu haben oder etwas Neues auszuprobieren, hat immense Auswirkung. John Neumeier vom Hamburg Ballett hat uns auch anders wahrgenommen, denn er hält in der beschriebenen Konstellation das EDT für einen tollen Ort für die „Werkstatt der Kreativität“. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer haben dieses Haus bereits als einen Ort für Jugendliche vorgefunden und haben sich hier gleich aufgehoben gefühlt.
Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben ganz viel Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen und keine Berührungsängste mehr. Sie meinen auch nicht, sich vor ihnen schützen zu müssen, sondern sich selbst auch zu öffnen, zu schenken und beschenkt werden. Ob das nun die Kollegen vom Ton, vom Licht, von der Maske oder von der Kostümabteilung oder in den Werkstätten sind, sie erhalten dadurch auch ganz viel zurück und auch neue Impulse. Das hat Auswirkungen auf die Struktur des Spielplans. Mit der nächsten Spielzeit werden wir bei den Stücken im Abendspielplan eine Reduktion von ursprünglich 41 auf jetzt 32 Vorstellungen vornehmen. Das heißt wir haben in dem „En-Suite-Block“ tatsächlich Lücken geschaffen, wodurch wir auch andere Stücke, Projekte und Veranstaltungenstypen hineinlassen können. Dadurch haben wir dann fünf Abende für eine Reihe „Best of Poetry Slam“ oder wir können nun die Werkstatt der Kreativität“ um eine Woche verlängern.

CF: Wenn ich das richtig verstehe, so setzen Sie parallel den Blick auf die Tradition: „Wo kommen wir eigentlich her“ und wie und was können wir sinnvoll verändern...

IVS: Ja, und das in dem Sinn wie Sie es anfangs beschrieben haben: Wir möchten die Tradition aus der wir kommen bewahren – aber nicht um des Bewahrens Willen – sondern weil daraus etwas erwächst und erwachsen muss, für alle Menschen die daran teilnehmen. Das ist ein schwieriger Prozess und manchmal haben wir auf dem Weg vielleicht zu sehr bewahrt und auch mal einen zu großen Sprung gewagt, bei dem dann nicht alle folgen konnten…

CF: Wo war der aus Ihrer Sicht?

IVS: Wir haben bei der Aufführung von „Der Krüppel von Inishmaan“, einer Tragikomödie von Martin McDonagh gedacht, das ist spannend für unser Stammpublikum. Leider war das Gegenteil der Fall. Also solche Erfahrungen hat es eben gegeben und die muss man ja auch machen.
Unser gewagtestes Projekt im Abendspielplan in den letzten zwei Jahren war Wajdi Mouawads „Verbrennungen“, weil das dem Publikum viel abforderte. Ich habe selbst eine Hauptrolle gespielt und musste mich dem aussetzen. Wir haben versucht etwas aufzufangen und an vielen Abenden nach der Vorstellung ein Publikumsgespräch angeboten. Das war auch ein guter Weg. Ein Abonnent, der Fragen hat, der kommt nicht ein zweites Mal in die Vorstellung um sie zu stellen. Es bringt nichts, das nur einmal die Woche zu machen, das machen wir jetzt jeden Abend.
Diese Erfahrung war wirklich auch für uns sehr interessant. Zum Teil haben wir falsche Vorurteile gehabt, wo man die Menschen abholen muss und haben gemerkt, dass viel mehr möglich ist, als wir uns vielleicht vorgestellt haben.

CF: Da stellt sich die Frage wie viele dieser Experimente sind überhaupt heute für ein Theater wie das Ernst Deutsch Theater möglich? Wie geht es Ihnen damit?

IVS: Das ist ein großer Kampf und das wird es auch bleiben. Ich bin aber zunehmend überzeugt davon, dass wenn Theater sich diesen Raum nicht nimmt, sondern praktisch immer nur ergebnisorientiert arbeitet, dann hat das keine Zukunft.
Eigentlich können wir uns Experimente überhaupt nicht leisten, denn uns fehlen die finanziellen Ressourcen. Aber ohne Experimente würde alles gar keinen Sinn mehr machen. Wir wollen natürlich dieses Haus erhalten - aber zukunftsfähig. Und wir wollen es für das Publikum und die vielen Menschen erhalten, die hier arbeiten. Aber das geht nur, wenn es einen Weiterentwicklungsprozess gibt. Jedem der wirklich Theatermacher ist, liegt im Blut, die Dinge weiter zu entwickeln und ständig in Frage zu stellen.
Ich glaube, dass wir mehr Räume schaffen müssen in denen, ohne das gleich ein Ergebnis klar ist und die Auslastung stimmt, gearbeitet und ausprobiert werden kann.
Und auch hier muss ich sagen: Das hat die Jugendsparte uns noch einmal so richtig deutlich gemacht nach fast 10 Jahren und wir nun ein neues Feld entstehen lassen müssen. Und ich hoffe, dass wir hierfür das Pegasus-Preisgeld nutzen können.

CF: Und gibt es eine konkrete Vorstellung, was dieses neue Feld sein kann?

IVS: Ja, es gibt eine Vorstellung, dass wir hier am Haus – das haben wir mit Albert Lang – der „Verbrennung“ projekthaft inszeniert hat – entwickelt. Wir wollen eine junge Kompanie hier am Haus etablieren, quasi „in Residence“, mit jungen Nachwuchsschauspielern, die erst einmal über einen angemessenen Zeitraum arbeiten können. Und dann natürlich auch Projekte angehen und vor allem zunächst eine eigene Sprache entwickeln. Aus einer Forschungsarbeit heraus uns einen Raum suchen, wo wir das Stück vor 100 Leuten zeigen, oder zunächst Entwicklungsschritte einmal zeigen. Und dann geht man vielleicht auf die Probebühne. Und irgendwann wird etwas da sein, was dann auf die große Bühne drängt und auf die große Bühne muss. Aber das, so glaube ich, muss getan werden ohne dass man gleich sagt so und so heißt das Stück, dann und dann ist der Premierentermin. Aber wenn wir nicht 70% Auslastung haben, dann haben wir ein Problem.

CF: Das Sichtbarmachen des Arbeitsprozesses?

IVS: Ja. Genau. Ein freier Prozess, den man ermöglicht und sichtbar macht. Das wäre meine Idee.

CF: Das Pegasus-Fördergeld geht in die Experiment-Förderung Ihres Hauses...

IVS: Ja. Man muss diesen Prozess sehr sorgfältig begleiten, aber man muss immer auch selbst in diesem Prozess sein. Und ich glaube, dass das worüber wir nun sprachen, Strukturwandel, Flexibilisierung, Arbeitsprozesse sichtbarer machen, Auswirkungen auf den Spielplan, ganz wesentlich auch zu dem geführt hat, was die Pegasus-Preis-Jury in ihrer Begründung formuliert hat.


Die Begründung der Jury zur Vergabe des Pegasus Preis 2011:
Die Jury würdigt mit der Auszeichnung nicht nur die ästhetische und künstlerische Profilierung in der Inszenierungspraxis und im Spielplan des Privattheaters, sondern auch dessen entschiedene Erweiterung für alle Publikumsgenerationen, sowie die interdisziplinäre Öffnung des Programms und seine Vernetzung in die Stadt. EDT-Intendantin Isabella Vertés-Schütter und ihr Team haben in den letzten Jahren einen markanten äußeren und inneren Strukturwandel vollzogen, der für die Jury in der Saison 2010/11 mit nachhaltiger Wirkung zum Tragen kam. Im Spielplan reicht das Spektrum von der Klassiker-Pflege über Komödie und Gegenwartsdrama bis zum Jugend- und Kinderstück. Neuerungen in der ästhetischen und inszenatorischen Konzeption mancher Aufführungen – wie bei Keists „Amphitryon“ oder Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“ – sind mit intelligenter Umsicht eingesetzt, führen das Stammpublikum auf ihm (noch) unbekannte Wege, lassen es aber die ihm bekannten in anderen Vorstellungen nicht vermissen. Die Auftritte der profilierten Schauspieler Claudia Amm, Nicole Heesters, Angelika Thomas, Judy Winter, Joachim Bliese, Charles Brauer, Uwe Friedrichsen und Volker Lechtenbrink garantierten das Erleben erstklassiger Komödiantenkunst, schafften zusätzlich Attraktion und Reiz.

Das von der Intendantin aufgebaute plattform-Programm mit eigener Bühne und etabliertem Festival führt Jugendliche und Schüler ans Theater heran mit der Strategie, sie für das Leben zu bilden und als künftige Besucher heranzuzuziehen. In den Jugendclubs werden musikalische, filmische und performative Formate ausprobiert. Die jungen Choreografen aus den Theaterklassen der Ballettschule John Neumeier präsentieren zudem bei der „Werkstatt der Kreativität“ eine Woche lang auf der großen Bühne erste Arbeiten, die Tanzpublikum anziehen. In weiteren Programmlinien wird Traditionsbewusstsein gepflegt, wie in Matthias Wegners Reihe „Theater Theater!", oder die niveauvolle Unterhaltung in Kooperation mit dem Berliner Renaissancetheater.
Andere Zielgruppen soll Hubertus Meyer-Burckhardts Prominenten-Talk „Soundtrack – Die Musik meines Lebens“ oder „Best of Poetry Slam“ ansprechen und der Mundsburg-Bühne gewinnen, deren Erscheinungsbild nach außen Designer Peter Schmidt mit neuer Corporate Identity, Umgestaltung von Foyer und Vorplatz auffrischte. Die Profilierung durch neues Image und innovative Formate, durch die engagierte Jugendarbeit im engen Kontakt mit Hamburgs Schulen und das erweiterte künstlerische Angebot im Blick auf die Zukunftsperspektive des Ernst Deutsch Theaters hält die Jury für auszeichnenswert.

Fotonachweis:
Header: Bildcollage Ernst Deutsch Theater
Galerie:
1. Pegasus-Preis
2. und 3. Szenen aus dem Plattform-Programm, Fotos: Fabian Hammerl
4. Volker Lechtenbrink in "Der Hauptmann von Köpenik", Foto: Oliver Fantisch
alt 5. Isabella Vértes-Schütter und Angela Meyer in "Verbrennungen", Foto: Oliver Fantisch

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