Das war’s nun also: Ende der Ära John Neumeier. Wer kann sich das Hamburg Ballett ohne den gebürtigen Amerikaner vorstellen? Wohl kaum jemand unter 60.
Wird es sein Renommée als eine der weltbesten Compagnien halten können? Das wird sich zeigen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert hat John Neumeier Hamburgs Ballett geprägt, nun verabschiedet er sich mit „Epilog“, einer von Wehmut geprägten persönlichen Choreografie mit einem starken sinfonischen Teil. Sicher nicht das letzte Werk des 85jährigen Ausnahmechoreografen, denn dieser Schlussakkord seiner Hamburger Intendanz scheint trotz des dramatischen letzten Satzes noch nicht ganz vollendet. „Epilog“ ist vielmehr eine Collage aus vielen einzelnen Versatzstücken, aus Erinnerungen, purer Poesie und Freude an einer abstrakten „Bewegungsmalerei im Raum“, wie der scheidende Ballettchef schreibt.
Was hat uns John Neumeier seit seinem Antritt als Hamburger Ballettdirektor 1973 nicht alles geschenkt! Sage und schreibe 173 Ballette! Darunter hinreißende Märchen, wie den „Nussknacker“ (1971 noch in seiner Frankfurter Zeit kreiert, in Hamburg ein alljährlicher Weihnachtsdauerbrenner), „Sommernachtstraum“ (1977) „Dornröschen“ (1978), „Illusionen – wie Schwanensee“ (1976), „A Cinderella Story“ (1992) und „Die kleine Meerjungfrau“ (2005). Packende Stoffe der Weltliteratur, wie „Romeo und Julia“ (Frankfurt/M. 1971), „Die Kameliendame“ (1978), „Endstation Sehnsucht“ (1983), „Othello“ (1985), „Die Möwe“ (2002), „Tod in Venedig“ (2003), „Anna Karenina“ (2017) oder „Die Glasmenagerie“ (2019). Allesamt grandiose Handlungsballette, deren Neudeutungen und überbordenden Ausstattungen Aufsehen erregten. Nicht zu vergessen der Mahler-Zyklus, die großen symphonischen Ballette, die schwermütigen religiösen Werke, wie die „Matthäuspassion“, das „Requiem“ und zuletzt der Ruf nach Frieden in „Dona Nobis Pacem“ zu Bachs Messe in h-Moll.
Doch egal, ob Märchen, Drama oder Passion, alle Werke sind durchzogen von mehr oder minder spürbarer Melancholie, die Neumeier den Ruf eines feinnervigen Grüblers und Denkers eingebracht haben. Der vielfach geehrte Wahl-Hamburger gilt als der Philosoph und der Schmerzensmann unter den zeitgenössischen Choreografen. In jedem seiner Werke zeigt sich, wie schwer der dienstälteste Ballett-Schöpfer an der Welt und ihrer Unzulänglichkeit trägt.
Umso erstaunlicher sein „Epilog“ zum Auftakt der 49. und letzten Hamburger Ballett-Tage unter seiner Ägide. Im Reigen der vielen Choreografien eher ein kleines Stück, ein „Kammerballett“ gleichsam, mit einem Flügel am linken Bühnenrand für den großartigen Schubert-Interpreten David Fray (bei Schuberts Fantasie in f-Moll für vier Hände wird Fray von Emmanuel Christien unterstützt) und einem Kulissenversatzstück, einer Art Turm oder Kirchenruine von hinten, in der Mitte des ansonsten leeren Bühnenraumes. (John Neumeier selbst hat die Bühne eingerichtet, für die Kostüme zeichnet der Schweizer Designer Albert Kriemler verantwortlich).
Wir, die Zuschauer, sitzen also in der Kulisse und sehen, wie ein junger Mann langsam von der Bühne abgeht und auf uns zukommt, erst auf der Leinwand (Filme Kiran West), dann leibhaftig.
Sicher, schon in diesem sehr langsamen, schweigenden „Abgang“ ist eine gewisse Wehmut zu spüren, aber keine Schwermut und auch kein Trübsinn. Denn, obgleich diese Szene in eine Rückblende überleitet, steht der junge Mann für Aufbruch und Zukunft. Der 20jährige Caspar Sasse ist ein echtes Hamburger Gewächs und in der Ballettschule des Hamburg Balletts ausgebildet. In der Hierarchie der Ballettcompagnie rangiert er zwar als „Aspirant“ ganz unten, doch als Verkörperung des jungen John Neumeier leitet er - gemeinsam mit dem fabelhaften Louis Musin (ein weiteres Alter ego) durch die zweieinhalbstündige Lebensreise des scheidenden Ballettchefs.
Dass diese erste Szene und viele weitere in dem collagenhaften Stück autobiographische Züge tragen, ist unverkennbar. Nicht nur durch eine zarte erotische Geste, die die Leinwand in Großaufnahme zeigt und die vielleicht einen Erweckungsmoment des Künstlers darstellt. Auch der Küchentisch hinter dem transparenten Vorhang, die Familie, zu der sich der Junge zurücksehnt, das zerschlagene Porzellan, der familiäre Scherbenhaufen und die hilflos-flehentlichen Gesten der Mutter (Anna Laudere) bezeugen die Lebensreise Neumeiers. Ebenso die „grauen Männer“, eine Schar uniform gekleideter Gestalten, die scheinbar suchend kreuz und quer durcheinanderlaufen, bis sie sich unversehens zu einer Reihe formieren und von dem Protagonisten (diesmal ist es Louis Musin) Abschied nehmen. Diese Szene ist unter psychologischen Gesichtspunkten aufschlussreich: Nicht John Neumeier verabschiedet sich von seinen Weggefährten (vielleicht auch jene, die er in den 80er Jahren durch AIDS verloren hat). Nein, er steht stumm und lässt die Menschenreihe an sich vorbeiziehen, gleich einem Trauernden, dem man kondoliert.
„Epilog“. Caspar Sasse und Anna Laudere, Foto © Kiran West
Was will man in zweieinhalb Stunden an Erinnerungsfetzen in ein so volles, reiches und unerhört kreatives Leben packen? Neumeier entscheidet sich, es gar nicht zu versuchen. Er lässt nur anklingen, zum Beispiel in der unkonventionellen Zusammenstellung von Franz Schuberts Klavierstücken und Simon & Garfunkel-Songs (u.a. „The Sound of Silence“). Diese Songs, so Neumeier, in dem empfehlenswerten Jahrbuch zu den Balletttagen, hätten ihn seit 1969 begleitet und bis heute nichts von ihrer Poesie verloren. Für „Epilog“ sei es ihm wichtig gewesen, Musik zu wählen, die ihn berühren, „der Freude Raum zu geben“ und diese Freude möglichst mit dem gesamten Ensemble zu teilen.
Gelungen ist ihm das am besten in Schuberts „Fantasie f-Moll“, dem temporeichen Schluss des ersten Teiles. Da wirbelt das ganze Ensemble über die Bühne, technisch brillant und ausgelassen.
Edvin Revazov und Lloyd Riggins suchte man allerdings vergebens unter den vielen Ensemble-Mitgliedern. Überhaupt treten die „Stars“, die Ersten Solisten der Compagnie, an diesem Abend weitgehend in den Hintergrund. Bis auf Aleix Martinez hat keiner von ihnen einen großen Auftritt. Neumeier macht mit „Epilog“ auch klar, wer in Zukunft den Ton angibt: Der Nachwuchs.
Und so lassen sich auch die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauß verkraften, die Asmik Grigorian mit ihrem kräftigen, mitunter etwas hart klingendem Sopran interpretiert und dabei mit den Tänzern interagiert. Vor allem die letzte Textzeile „Ist dies etwa der Tod?“ ist starker Tobak und durchaus als beklemmender Abschied, nicht nur vom Hamburg Ballett, sondern auch vom Leben insgesamt auslegbar.
Aber so will es John Neumeier nicht verstanden wissen. Ganz und gar nicht! Neumeier hört als Ballett-Intendant auf, doch die ganz besondere Liebesbeziehung, die er in 51 Jahren zu Hamburg aufgebaut hat, die bleibt lebendig. Nicht nur in der Ballettschule des Hamburg Balletts und im 2011 gegründeten Bundesjugendballett, auch in der „John Neumeier Stiftung“ und dem neuen „John-Neumeier-Institut“ am Mittelweg 55, das er als internationales Ballett-Forschungszentrum etablieren will. John Neumeier hat noch viel vor und sein Nachfolger Demis Volpi wird sich an ihm messen lassen müssen. Keine beneidenswerte Situation. Die Schuhe, in die er tritt, sind verdammt groß.
Epilog
Ballett von John Neumeier
zu sehen bis 01.02.2025 in der Staatsoper Hamburg; Großes Haus, Dammtorstraße 28, in 20354 Hamburg
Musik: Franz Schubert, Richard Strauss, Simon & Garfunkel
Choreografie, Bühnenbild und Licht: John Neumeier | Kostüme: Albert Kriemler – A-K-R-I-S- | Filme: Kiran West
Uraufführung: Hamburg Ballett, Staatsoper, Hamburg, 30. Juni 2024
2 Stunden 30 Minuten | 1 Pause
1. Teil: 80 Minuten, 2. Teil: 45 Minuten
Originalbesetzung: Silvia Azzoni | Alina Cojocaru | Anna Laudere | Ida Praetorius | Madoka Sugai
sowie Jacopo Bellussi| Christopher Evans | Alessandro Frola | Aleix Martínez | Louis Musin | Matias Oberlin | Caspar Sasse | Alexandr Trusch
Unterstützt durch die Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper
Weitere Informationen und Termine (Hamburgische Staatsoper)
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