Ich hatte mich lange im Voraus um Karten bemüht und häufig davon erzählt, und immer wieder war mir geantwortet worden: „Oh, super! Fantastisch! Beneidenswert!“
Ben Becker – der ist bereits eindrucksvoll, ziemlich egal, was er macht. Als Judas – grandios! Die richtige Rolle für den richtigen Mann. Und dann noch ausgerechnet im Michel: gigantisch …
Ben Becker auf Abschiedstour in der Hauptkirche St. Michaelis in Hamburg
Seit 2015 begeistert Becker mit dieser Performance, das erste Mal im Berliner Dom. Ganz eigentlich war sie als einmalige Aufführung geplant. Seitdem, wegen des großen Publikumsinteresses, ist Judas immer wieder auf Tournee. Jetzt, im Herbst 2023, soll wirklich Schluss sein. Die Abschiedsvorstellungen finden außer in Hamburg in Berlin, Magdeburg, Bremen und zuallerletzt, Ende November, in Bochum statt.
Die großen Kirchen waren die ganze Zeit ausverkauft, die Kritik sang Hymnen. Ja, gut, es gab einige Kritikerinnen – nicht Kritiker*innen, sondern tatsächlich Kritikerinnen – die Skepsis äußerten. Die hatten meist prinzipiell ihre Probleme mit Ben Becker in seiner Verkörperung des Vollblutmannes oder des „alten weißen Mannes“: häufig böse oder zumindest grenzböse. Und nun ausgerechnet Judas! Nachdem er schon den Hells Angels etwas abgewinnen konnte!
Ich las mal in einem Interview, dass Becker von seiner damals etwa fünfzehnjährigen Tochter gefragt wurde, weshalb er eigentlich dauernd die Bösen verkörpern müsse. Er meinte damals, von denen gehe eine größere Faszination aus.
An diesem sehr stürmischen, regnerischen Abend scheinen alle Restaurants und Cafés rund um den Michel bis auf den letzten Platz von kaffeetrinkenden potenziellen Zuschauern besetzt zu sein, die in Vorfreude schwelgen. Einige, höre ich, waren bereits einmal oder sogar mehrmals dabei und finden, es lohne ein weiteres Mal.
Vor dem Kirchenportal steht das Publikum geduldig in der Schlange, vom Wind zerzaust, das alte Gotteshaus ist schließlich gestopft voll. So würden es sich vermutlich die Pastoren in jeder Kirche jeden Sonntagvormittag wünschen.
Eine der machtvollen Orgeln spielt zunächst, dann folgt ein Moment der erwartungsvollen Stille und ich muss unwillkürlich denken, ob es nicht sehr viel Mut erfordert, jetzt vor den Altar zu treten und hundert Minuten lang allein diese gesamte Aufmerksamkeit zu tragen, in dieser Rolle.
Ben Becker erscheint in einem langen weißen Gewand. Er hält sich gerade und bewegt sich zurückhaltend, setzt eine Brille auf und liest an einem Pult die bekannten biblischen Tatsachen vor, der Evangelien-Report: Wer war Judas Ischariot und warum? Der kommt da nicht sehr gut weg. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Bibel ziemlich voreingenommen ist. Sie lädt weder zum Relativieren noch zum Denken ein. Denken ist ja beim Glauben sowieso häufig hinderlich. Die Dinge sind genau so und so, und wenn sie nicht einleuchten, dann hängt der Glauben schief.
Becker gibt das ruhig und ohne Pathos weiter, er zügelt sogar seinen berühmten Bass, der klingt nüchtern, sachlich. Hier haben wir die sogenannten Fakten.
Dann steckt er seine Brille ein und wird persönlich. Der Darsteller füllt sich, Atemzug für Atemzug, mit dem seit Jahrtausenden beleidigten, empörten Mann, der schildert, wie es wirklich war. Oder wie es vielleicht war. Oder wie es hätte sein können.
Ben Becker liest nicht mehr, er spricht auswendig, aus ‚Judas‘ von Amos Oz und aus dem Monodrama ‚Ich, ein Jud‘ von Walter Jens. Beides klingt, als wäre es sein eigener Text, als käme es direkt aus seiner verbitterten Seele. Er ist der verhasste Außenseiter, fern von den ‚Guten‘, jenseits von ‚Wir-Alle‘, getrennt von der Gemeinschaft.
Eine Verteidigungsrede, ein Plädoyer dafür, es doch wenigstens mal zu überdenken!
Dieser Mann, der Jünger Judas, soll also schlicht geldgierig gewesen sein, ein mieser Charakter, verschlagen, unzuverlässig? Warum dann hat Gottes Sohn, so allwissend, ihn zu einem seiner zwölf engsten Begleiter erkoren?
Jesus redet mehr als einmal davon, dass ‚einer von euch‘ ihn verraten werde, bereits traurig und vorwurfsvoll, aber immer so, als könne er es nun mal nicht verhindern. Außerdem kann er sogar explizit sagen, wer das ist, kein großes Geheimnis.
Er wusste also, was geschehen würde und hat es geschehen lassen. Warum? Weil alles seit jeher vorbestimmt ist und wir es nur erfüllen müssen? Dann kann Judas sowieso nichts dafür, er spielte seine Rolle im großen Stück als Marionette wie jeder andere auch.
Oder ist er sogar von Jesus für diese heikle Aufgabe, den angeblichen Verrat, herangezogen worden? Wurde er damit beauftragt, weil alles seinen Gang gehen und daraus die mächtigste Religion der Erde entstehen sollte? Aus dieser Perspektive ist es nicht erstaunlich, wenn er sich für einen auserwählten, besonders vertrauten Jünger hielt.
Der Judas, der verzweifelt in der Michaeliskirche herumtigert, weiß es selbst nicht so ganz genau. Man möge das jedenfalls in Betracht ziehen. Man möge vor allem, das sei doch nicht zu viel verlangt, alles einmal in Frage stellen…
Er hat, schreit er sehr glaubwürdig, Jesus doch geliebt!
Aus dem Matthäus-Text geht hervor, dass bei dessen Festnahme ein Jünger – übrigens Petrus – einem der Hohenpriester-Leute ein Ohr abhaut, worauf Jesus ihn zurechtweist: „Meinst du, dass ich nicht könnte meinen Vater bitten, dass er mir zuschickte, mehr denn zwölf Legionen Engel? Wie würde aber die Schrift erfüllet?“ Demnach ist es nicht am wichtigsten, Jesu Leben zu retten, sondern sich nach einer alten Prophezeiung zu richten.
Im 26. Matthäus-Kapitel ist Jesus sich völlig im Klaren darüber: ‚Der Menschensohn wird überantwortet werden, dass er gekreuzigt werde‘. Da konnte man offenbar nichts machen und das Ergebnis hängt heute in jeder Kirche als Symbol des Triumphes über den Tod.
Was jedoch, wäre er nicht gekreuzigt worden? Wäre er nicht, wie es immer heißt: ‚Für uns gestorben‘?
Das beste Opfer taugt nichts ohne Täter. Das Gute braucht das Böse wie das Licht die Dunkelheit, ohne den Kontrast ist es zwecklos. Das bedeutet, damit es einen Märtyrer geben kann, (und Märtyrer sind in der Urkirche von großer Wichtigkeit) muss sich immer jemand opfern und den Bösen mimen. Einer musste den Anti-Christ spielen, damit Jesus Messias werden konnte.
Becker grollt: „Judas ist nichts ohne Jesus… Aber Jesus ist auch nichts ohne Judas!“
Nun ist er zum Sündenbock geworden, mit weitreichenden Folgen. Der böse Judas hat schon Martin Luther geärgert, er trug nicht wenig bei zum weltweiten Vorurteil über die geldgierigen, verräterischen Juden. Sogar die Nationalsozialisten, die doch mit der Kirche wenig am Hut hatten, benutzten gleichwohl gern diese verachtenswerte Figur für ihre Propaganda.
Jesus hat dazu aufgefordert, man möge seine Feinde lieben. Erbarmen, Mitleid und Verzeihen, das ist zutiefst christlich. Für diesen einen, Judas Ischariot, gilt das nicht. Solange Christus gut ist, muss Judas böse sein. Ihm wird nie vergeben!
Ben Becker hält seinen Monolog über mehr als anderthalb Stunden mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit, nachdenklich, flehend, wütend, weinend, emotional, intelligent. Er reißt mit, er überzeugt und er bekommt schließlich, sehr zu Recht, Standing Ovation – der Michel wackelt geradezu vor Anerkennung des Publikums. Ein genialer Ausnahmekünstler in einem großartigen Stück.
Judas strafft das breite Kreuz, entspannt sein Gesicht und lächelt ein wenig. An diesem Abend jedenfalls wird er geliebt…
Ben Becker: Ich, Judas
YouTube-Video:
Ben Becker - "Ich, Judas" - Trailer (0:55 Min.)
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