„Freitag, der 13“, murmelt Karin Neuhäuser als Priesterin im Prolog zum „Ödipus“, dem wohl berühmtesten und ältesten Drama der westlichen Welt. Dieser Kommentar kommt so unwillkürlich daher, als ob er so im Text von Roland Schimmelpfennig stünde. Tut er aber nicht.
Es ist der kalte Hauch der Gegenwart da draußen vor der Tür, der hineinweht in die Premiere am Freitag, dem 13. Die Reihen bewaffneter Polizisten und Blaulichter, die eine verbotene antisemitische Demo am Hauptbahnhof verhindern und an die Gräuel des Krieges in Israel und der Ukraine gemahnen.
Minuten vor Beginn getoppt mit der Evakuierung des Hauses, ausgelöst vom Alarm der Sprinkleranlage, wie Intendantin Karin Beier eine Stunde später berichtet. Etwa tausend Besucher hatten über eine Stunde draußen auf dem Hansaplatz gewartet, bevor es losgehen konnte an diesem Abend.
Etwas Besseres hätte kaum passieren können, um die Erschütterung des zivilisierten Miteinanders, die bedrohliche Erkenntnis, dass Sicherheit ein Trugbild ist und sich von jetzt auf gleich in Gewalt und Chaos auflösen kann, spürbar zu machen, von der das Stück erzählt. „Ödipus“ nach Sophokles steht im Zentrum und dritten Teil der fünfteiligen Antikenserie „Anthropolis“, angelehnt an den Begriff des Anthropozäns, des Zeitalters der Menschen auf der Erde, als sie anfingen Städte zu bauen. Zwei Jahre hat Karin Beier daran gearbeitet, um sie im zweiwöchigen Abstand, und auch gebündelt in einem Marathon, auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses zu bringen. Zwei Coronajahre hat Schimmelpfennig die Texte der ersten (bekannten) Dichter des Abendlandes, Sophokles, Euripides und Aischylos bzw. ihrer Übersetzer auseinandergepflückt und neu formuliert in fünf Stücken über die Gründung der Stadt Theben, Ödipus, seinen Vaters Laios, seine Mutter und Ehefrau Iokaste sowie über seine Tochter Antigone. Was für ein waghalsiges Projekt der beiden! Ein Paradigma unserer Zivilisationsgeschichte umzuschreiben und in die Dialoge und Floskeln der Gegenwart zu verlängern, in Dönerbuden, Parlamentsdebatten, Wellblechhütten und die Clubberszene.
Es ist gelungen, mehr als das, kann man schon mal für die Teile 1 bis 3 sagen. Und die Gegenwart kommt dabei zu Hilfe, keine Frage. Der Bühnenraum von Johannes Schütz ist (bisher) bis auf die Brandmauer geöffnet und zeigt schwarz und grau verwischte Spuren und Muster an den Wänden. Wie die Höhlenmalereien Reste einer untergegangenen Welt. Eine drehbare Schwelle geht über die ganze Breite. Schon im ersten Teil der Antiken-Staffel, „Prolog/Dionysos“, liegt haufenweise Mulch herum, der hin und her geschaufelt und langsam durchnässt wird mit Blut und Wasser von oben. In diesem Boden ist der Tod immer schon da, als ungeformtes Material, das bei seiner Gestaltung in Vergessenheit gerät. Ein gehörnter Tierkadaver liegt an allen drei Abenden herum. Er erinnert an den Stier, auf dem Zeus Europa entführt und damit das Motiv für die Gründung der Stadt Theben liefert, und an die verendete Kuh, die Kadmos, der Stadtgründer, bis an diesen Ort trieb, und, klar, grundsätzlich an die Vernichtung von Leben, von Umwelt, aus Gier, aus Hunger, im Namen der Zivilisation und ihrer Städte. Mit solch starken und mehrdeutigen Bildern arbeitet die Inszenierung von Beier.
Dazu kommt ein meisterhaftes Ensemble, das mit hoher Konzentration zwischen Tragödie und Slapstick pendelt, manchmal sogar im selben Moment saukomisch, brutal und trostlos verzweifelt spielt. Der Mensch, und nicht nur Ödipus, erscheint als ein durch seine Geburt Verdammter, der sich unbewusst schuldig macht und dadurch seinen Untergang herbeiführt.
Über die handlungsbestimmenden Fragen an das Orakel von Delphi entspinnen sich die drei großen Fragen des Bewusstseins im Menschen: Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? Im „Ödipus“, Teil 3, antwortet darauf Karin Neuhäuser als Priesterin im glitzernden Eso-Kostüm von Wicke Naujoks: „Jeder, jeder, der hierherkommt, ist bereit sich in jeglicher Hinsicht zu ruinieren. Er will es nicht anders, das ist so eine Lust am Untergang“. Genau wie den Bildern haben auch die Worte einen mindestens doppelten Boden, darunter die bittere und verdrängte Wahrheit.
Anthropolis III: Ödipus. Foto: Monika Rittershaus
Ödipus, der ohne es zu wissen seinen Vater erschlägt und seine Mutter, eine starke Julia Wieninger als Iokaste, heiratet und mit ihr vier Kinder zeugt, wird gespielt von Devid Striesow. Und zugegeben, manche BesucherInnen mögen sich an Ulrich Wildgruber als geniale Besetzung für den an sich selbst zerbrechenden Menschen, vielleicht mit falscher Wehmut erinnern. Striesow gibt den Herrscher von Theben und den Bezwinger der die Stadt belagernden Sphinx, souverän und etwas wuschig, Sein Ödipus zeigt vor allem diese verletzliche, kindliche Seite, gepaart mit kriminalistischer Neugier, die sein junges, im Freudschen Sinne ödipales Ich verrät. Auch er muss anfangs lange schaufeln, um seinen Tisch und Stuhl auf einem keineswegs tragenden Mulch-Hügel aufzubauen. Und natürlich, auch seinen Weg pflastern die Toten, die später von Tänzern als Kinderleichen auf die Bühne gelegt werden. Ganz so wie in den Bildern der täglichen Nachrichten. Wie hilflos sind da die Beobachter, die alles wissen und als Wegbegleiter eines unabänderlichen Schicksals verstummt sind. Oder als Clowns belächelt werden, wie Ernst Stötzner als Hirte und Michael Wittenborn als blinder Teiresias und buckliger Bote aus Korinth, dem er eine großartige Spur Heinz Erhardt mitgibt.
Als Striesows Ödipus die von ihm selbst erzwungene Wahrheit über sich als Schuldigen erkennt, verliert er schlagartig alle Kraft und kann nur noch mühsam an Krücken laufen. Muss das sein? Ein Ödipus, der fast im Rollstuhl endet, bevor er sich die Augen aussticht und umbringt? Womöglich liegt es an diesem plakativen Regie-Einfall, das von Ödipus gelöste Rätsel der Sphinx an ihm darzustellen („Was geht morgens auf vier, mittags auf zwei, und abends auf drei Beinen? Lösung: der Mensch“) dass seine Verzweiflung ein wenig äußerlich bleibt. Zusammengehalten wird Beiers, im besten Sinne well made play durch die manchmal fast unhörbare, die Atmosphäre stets spiegelnde Musik von Jörg Gollasch und den Chor, der vom Rang herab unter der kraftvollen Führung von Christoph Jöde unerbittlich den Takt mit Stöcken und Stimmen schlägt und so das Drama vorantreibt.
Bist du das?
Ganz anders, befreit von der Vorgabe einer geschlossenen antiken Tragödie hat Schimmelpfennig „Laios“, den vorangehenden zweiten Teil der Anthropolis-Serie über den Vater des Ödipus konzipiert. Da über Laios nur wenige Bruchstücke in anderen Mythen überliefert wurden, die sich durchaus widersprechen, lässt Schimmelpfennig alle Möglichkeiten dieser unbekannten Biographie ganz schlicht bestehen und verweist damit auf die vielgestaltige Entstehung von Mythen. Es könnte so oder so gewesen sein. Sein Text springt in der Erzählzeit vor und zurück, hüpft in die Gegenwart, immer wieder nimmt er das Ende vorweg, die tödliche Begegnung zwischen Vater und Sohn. Er folgt der surrealen, jegliche Logik und Kausalität verweigernden Dramaturgie des Traums. Wobei er mehr an den Brüchen als an den Zusammenhängen interessiert ist und das Assoziieren dem Publikum überlässt. Karin Beier hat daraus ein erstaunliches und tolles Theaterereignis gemacht.
In „Laios“ spielt Lina Beckmann gleich alle Rollen, von denen sie erzählt. Als Erzähler in genderneutrales Schwarzweiß gekleidet, fragt sie erstmal genüsslich das versammelte Bildungsbürgertum im Saal den Stammbaum von Laios ab, und schon gleitet sie in die Körper, Haltungen und Stimmen von Laios oder seinem Begleiter Chrysippos, Iokaste, Pythia. Streift das Hemd ab und wird zum Ringer um die vielen Wahrheiten, zum Werkzeug und Opfer der unvorstellbaren und wahren Gewalt, und landet im – vielleicht - nächtlichen Berlin. Die Bühne bleibt leer, alles geschieht in den Köpfen der Zuschauenden.
Schon im ersten Teil der Serie entfaltet Beckmann ihr so ganz eigenes und urkomisches Körpertheater im tiefen Abgrund der Tragödie. Doch hier läuft sie zur Hochform auf. Die Sphinx, die täglich ihr Opfer aus Theben holt, „die singende Katze, die auch ein Vogel und eine Frau ist“ quält ihn so, dass Beckmann als Laios immer wieder mit den Händen an den Ohren zusammenbricht. Lina Beckmann schafft es, einen ganzen Chor, die Bürger von Theben, mit verschiedenen im Hintergrund aufgestellten Masken als Persiflage auf die Schwächen der Demokratie zu spielen. Und zitiert als buckliger Sprecher der Versammlung auch noch sich selbst: in ihrer Starrolle als Richard der III.
Anthropolis II: Laios. Foto: Monika Rittershaus
Ist Laios etwa ein Kinderschänder oder einfach kein Cis-Mann, der mit seinem Geliebten Chrysippos vor der Rache dessen Vaters flieht? Sitzt da ein bitterlich weinender Junge, vielleicht 14, 11 oder auch 9 oder auch 8 Jahre alt auf dem Pferderennwagen, mit dem Laios, sein Reitlehrer, jetzt mit ihm flieht? Oder ein junger Mann, mit dem er nachts durch die Clubs zieht, durch die Stadt rast und nochmal aufs Gaspedal drückt, vogelfrei, und so verliebt, so bekifft, dass er dem jungen Mann mit ungläubigen Lachen erzählt, dass er der Enkel eines Königs ist und dessen Reich erbt. Beide Geschichten erfühlt, erzählt und spielt Lina Beckmann so eindringlich und in einem Tempo, dass einem schwindelig werden könnte. Den kleinen Laios zeigt sie uns als wimmerndes Baby, das im Wald ausgesetzt wird, genau wie später dessen neugeborener Sohn Ödipus. Wie der kleine Laios im Wald seine Zähne in wilde Tiere rammt, sie verstehen und töten lernt, das sehen wir an der der toten Kuh, die noch daliegt und die Beckmann, schweiß- und blutüberströmt hervorzieht. Und wie er gefunden wird von Chrysippos Vater Pelops, der ihn großzieht, da sieht sie ihn an, den sie eben noch spielte, wieder in Sekundenbruchteilen ein Perspektivwechsel. Dann die Begegnung mit Iokaste, der reichen Erbin, er ohne Führerschein und hintendrauf auf dem Roller, während sie nach hinten fragt: Kebap oder Döner.
Karin Beier gönnt Beckmann eine kurze Verschnaufpause mit einem Video, das die Königsfamilie als Menage a trois mit Laios, Chrysippos und Iokaste, deren amtsmüden Bruder Kreon, eine gewisse Eurydike (Nicht die, sagt Beckmann) und Teiresias mit Sonnenbrillen an einem Bahndamm chillen lässt, Joints und Flaschen werden weitergereicht und jedes Mal, wenn Teiresias etwas sagt, fährt donnernd ein Zug vorbei. So augenzwinkernd betrachtet Beier auch Beckmanns Priesterin Pythia, die anders als im nachfolgenden Teil „Ödipus“ bei Neuhäuser keine das Spiel begleitende Gouvernante, sondern eine heruntergekommene Spinnerin ist, durch schweren Raucherhusten im Hinterzimmer einer dreckigen, verqualmten Bar am Sprechen gehindert. So dringt sie mit ihrer Warnung kaum zum Königspaar durch.
Anthropolis II: Laios. Foto: Monika Rittershaus
Die verrückte Alte, die ihnen so einen Scheiß erzählt. Gerade deswegen wollen sie unbedingt ein Kind. Doch mit dem Kind im Bauch wächst die Angst vor der Verdammnis. So sehr, dass Laios oder Iokaste oder beide die Füße des Neugeborenen durchbohren, bevor sie es in die Wildnis bringen lassen. Vielleicht hat Laios Iokaste danach auch nie wieder angerührt. Wer weiß das schon? Lina Beckmann geht vollkommen schonungslos mit sich selbst durch alle Emotionen, die sie heraufbeschwört.
Am Ende steht sie mit schreckensgeweiteten Augen ganz hinten an der Wand und stellt die Frage, die Laios seinen Sohn vielleicht gefragt hat: Bist du das?
Das ganze Schauspielhaus tobt, schreit, minutenlang, keiner bleibt sitzen. Wer diesen Abend gesehen hat, fühlt sich reich beschenkt.
Antikenserie „Anthropolis“
Teile 1-3
Teil 4: „Iokaste“, Premiere am 27. 10. 2023
Teil 5: „Antigone“, Premiere am 10. 11. 2023
Im Deutsches SchauSpielHaus, Kirchenallee 39, in 20099 Hamburg
Serienmarathon mit allen fünf Teilen, auch einzeln buchbar, am 17., 18., 19. 11. 2023 und am 8.,9.,10. 12. 2023 sowie im April und Mai 2024
Weitere Informationen (Spielplan)
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