Die Vergewaltigungsszene raubt einem auch nach 40 Jahren noch den Atem – und Alina Nanu, Erste Solistin des Tschechischen Nationalballetts, verkörpert die Blanche DuBois mit einer Hingabe, als habe Hamburgs Ballettdirektor ihr und nicht Marcia Haydée diese Rolle auf den Leib geschrieben.
Begeisterter Beifall für die Gastcompagnie aus Prag, die mit John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ ihr Debüt bei den 48. Hamburger Ballett-Tagen in der Staatsoper gab.
Man mag kaum glauben, dass Neumeiers Meisterwerk bereits 1983 uraufgeführt wurde. Hamburgs Ballettchef hatte seine Version des Tennessee-Williams-Klassikers „Endstation Sehnsucht“ zur Musik von Sergej Prokofjew und Alfred Schnittke eigens für das Stuttgarter Ballett und seine damalige Direktorin und Primaballerina Marcia Hydée geschaffen. Die Hamburger Erstaufführung folgte vier Jahre später und man kann sich heute noch gut vorstellen, was für Schnappatmungen die hanseatischen Damen der Gesellschaft 1987 bei dieser so realistischen und drastischen Darstellung der Vergewaltigung von Blanche durch ihren Schwager Stanley Kowalski bekommen haben müssen.
In einem Handlungsballett, zumal auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper, war diese Art der Brutalität und animalischen Grausamkeit (über gefühlte 20 Minuten hinweg) ein absolutes Novum. Und, ganz ehrlich, sie ist auch heute noch schwer auszuhalten. Für die Tänzer*innen in jedem Fall ein Kraftakt, der alles fordert.
Alina Nanu als feinnervig-überspannte, hochkultivierte Südstaaten-Prinzessin und Paul Irmatov als testosterongesteuerter polnischer Prolet und Muskelprotz sind ein Dreamteam in ihrer Gegensätzlichkeit. Beides Ausnahmetänzer, kein Zweifel, technisch absolut virtuos. Aber sie sind ja noch so viel mehr! Um diesem Stück Wahrhaftigkeit zu geben, müssen die Tänzer*innen beachtliche schauspielerische Qualitäten mitbringen und die besitzen sie beiden. Paul Irmatov gibt Standley Kowalski als einen Mann mit Arbeiterstolz, mit animalischer Kraft, Triebhaftigkeit und absolut glaubhafter Vulgarität. Und Alina Nanu erscheint geradezu als Inkarnation der Blanche. Mit jeder Geste, jedem Blick, mit jeder Faser ihres Körpers füllt diese hinreißende Primaballerina ihre Rolle. Macht mit ihrer Fragilität die Geschichte der Lebensuntüchtigen glaubhaft, die so behütet in ihrer Upper-class-Blase aufwuchs, dass sie an der traurigen Realität psychisch zerbricht. Die Tragödie am Hochzeitstag, als sie zusehen muss, wie ihr Bräutigam Allan (großartig und traumverloren Ludovico Tambara), auch später in der Rolle des Zeitungsjungen und des Arztes) einen wunderschönen Mann (hocherotisch und verführerisch: Danilo Lo Monaco) küsst und sich vor lauter Schuldgefühlen anschließend erschießt. Dann weitere Todesfäll und schließlich der Zerfall des Familiensitzes Belle Rêve, Sinnbild für eine vom Winde verwehte Südstaaten-Welt.
Endstation Serhnsucht. Foto: Kiran West
Blanche war eine Prinzessin in dieser Welt und sie kann ihren Verlust nicht verkraften. Doch auf Schutz und Zuflucht in New Orleans, bei ihrer Schwester Stella (die Irina Burduja wunderbar lebensfroh und leidenschaftlich verkörpert) und deren Mann Stanley hofft sie vergeblich. Für Stanley ist die überzüchtete Südstaatenpflanze mit ihrem blasierten Getue ein rotes Tuch. Sein Drang, sie zu demütigen und zu erniedrigen ist aufgeladen mit sexuellem Verlangen. Der boxende Prolet aus polnischer Einwandererfamilie ist in allem was er tut hemmungslos. Und Sex (auch bei seiner Frau) ist für ihn vor allem ein Macht- und Unterdrückungsinstrument. Sein Kumpel Mitch (sanft und einfühlsam Patrik Holecek) wird zum kurzen Lichtblick in Stellas neuer Umgebung, doch Stanleys obszöne Andeutungen über das unsittliche Vorleben seiner Schwägerin machen jede Hoffnung auf ein Happy End zunichte.
Am Ende landet Stella in der Irrenanstalt. In einem kargen Raum auf einem Gitterbett sitzend, einsam, verwirrt und schockstarr in ihrem weißen Sommerkleid. So sieht man sie im ersten Bild des Balletts. John Neumeier setzt in seiner Fassung am Endpunkt des Dramas an und erzählt die tragische Geschichte im Rückblick. Allein dieser Auftakt, ohne Musik, ohne die leiseste Bewegung, ist von bewegender Intensität. Alles in allem eine Aufführung, die in Erinnerung bleiben wird. Obwohl hier nicht alle Rollen genannt werden - das Ensemble des Tschechischen Nationalballetts ist durch die Bank hervorragend. Hoffentlich sieht man diese wunderbare Companie bald wieder in Hamburg.
Endstation Sehnsucht
Aufführung vom 20.6.2023 im Großen Haus der Staatsoper Hamburg
Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams
Gastcompagnie: Tschechisches Nationalballett
Musik: Sergej Prokofjew, Alfred Schnittke
Choreografie, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept: John Neumeier
Musik vom Tonträger
2 Stunden | 1 Pause
1. Teil: 40 Minuten, 2. Teil: 55 Minuten
Uraufführung:
Das Stuttgarter Ballett, Stuttgart, 3. Dezember 1983
Premiere in Hamburg:
Hamburg Ballett, 30. April 1987
YouTube-Video:
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment