Theater - Tanz

Im Januar 2021 ist im Ballettzentrum Hamburg ein neues Probenvideosystem an den Start gegangen. Frédéric Couson, Leiter der Tonabteilung des Hamburg Ballett, hat die „Dancing Cloud“ mit Projektpartnern wie der Kulturbehörde Hamburg entwickelt. Er erläutert, warum das System nicht nur technologisch innovativ ist, sondern auch künstlerisch neue Perspektiven eröffnet.

 

Ein Gespräch von Jörn Rieckhoff (Kommunikation und Dramaturgie beim Hamburg Ballet) mit Projektleiter Frédéric Couson.

 

Jörn Rieckhoff (JR): Was kann man sich unter der Dancing Cloud vorstellen?

 

Frédéric Couson (FC): Die Dancing Cloud ist ein Werkzeug für die Einstudierung von Tanz: ein maßgeschneidertes Videoportal, das die aktuellen technologischen Möglichkeiten zusammenführt, um den Probenprozess des Hamburg Ballett zu optimieren. Es erlaubt den Tänzern auch über die Mauern des Ballettzentrums Hamburg hinaus den Zugriff auf Produktionen, die sie einstudieren, und eröffnet somit die Möglichkeit zum Selbststudium. Die Dancing Cloud ist als ein lebendiges Archiv gedacht, das sich parallel zum Vorstellungsbetrieb selbst erweitert. Hier kommt ein Key Feature des Systems zum Tragen: Tagesaktuelle Videoaufnahmen können ohne Verzögerung im Probenalltag zugänglich gemacht werden.

 

JR: Wie kam es zur Projektidee: Gab es beim Hamburg Ballett einen besonderen Bedarf?

 

FC: 2012 haben wir in Eigenregie ein Audiosystem entwickelt, in dem Probenmusiken im Ballettzentrum und in der Hamburgischen Staatsoper über ein Netzwerk verteilt werden. Damals gab es kein vergleichbares System, wie wir es brauchen. Bei einer Ballettkreation werden fast täglich kleinteilige Änderungen an der Musik vorgenommen. Unser System ermöglicht es, dass jede Anpassung an den aktuellen Probenstand sofort verfügbar ist.

Das Gleiche, schwebte mir vor, müsste doch auch im Bereich der Probenvideos möglich sein. Schon damals wirkte die Arbeitsroutine sehr umständlich, alles auf DVDs zu brennen, zu verteilen und bei jeder Änderung wieder von vorne zu beginnen. Die Recherche und die Kontakte im Rahmen des weltweiten Tourneebetriebs des Hamburg Ballett haben gezeigt, dass keine Compagnie in diesem Bereich eine umfassende Lösung gefunden hatte. Wir standen in Kontakt mit vielen Firmen und Institutionen wie dem Stuttgarter Ballett, dem Finish National Ballet und dem Dutch National Ballet in Amsterdam. Bei diesen Compagnien hatte ich einen besonders genauen Einblick, weil dort Produktionen von John Neumeier einstudiert wurden und wir über die Ballettmeister und die technischen Abteilungen der Häuser den Daten- und Wissenstransfer organisieren mussten.

 

Ich habe daraufhin ein Konzept entworfen, das umrissen hat, was ein Probenvideoportal beim Hamburg Ballett leisten müsste. Schon in dieser Phase hat sich der Begriff „Dancing Cloud“ etabliert, auch im Zuge der Suche nach Projektpartnern wie der Behörde für Kultur und Medien Hamburg. Es sollte eine Cloud für den Tanz werden: eine IT-Infrastruktur, die ortsunabhängig zur Verfügung steht.

 

JR: Das Ballettzentrum Hamburg ist ein zu Hause für Profitänzer aller Karrierestufen. Inwiefern hat John Neumeiers knapp fünf Jahrzehnte andauernde Tätigkeit als kreierender Intendant das Konzept der Dancing Cloud beeinflusst?

 

FC: Tatsächlich haben wir im Ballettzentrum Hamburg eine besondere Situation durch die Institutionen, die John Neumeier ins Leben gerufen hat: neben dem Hamburg Ballett probt und arbeitet hier das Bundesjugendballett und die renommierten Ballettschule des Hamburg Ballett. Zusätzlich steht John Neumeier für ein Œuvre abendfüllender Werke, das seit rund einem halben Jahrhundert entstanden und kontinuierlich weiterentwickelt wurde. Wir mussten daher bei der Konzeptentwicklung einen unglaublich großen Datenumfang mitbedenken.

Ich habe damals ein besonderes Augenmerk auf die persönliche Arbeitsweise und das Ballettverständnis von John Neumeier gerichtet. Er sieht seine Ballette nie als fertig an. Es sind lebendige Werke, die sich potenziell mit jeder Aufführung ändern und weiterentwickeln. Als Leiter der Tonabteilung sorge ich dafür, dass dies nicht nur dokumentiert wird, sondern jede Änderung auch für die weiteren Wiederaufnahmen und Einstudierungen mit neuen Tänzern unkompliziert zur Verfügung steht.

 

Vor diesem Hintergrund mussten wir ein System entwickeln für Material aus den unterschiedlichsten Situationen: Vorstellungen auf der Bühne, Kreationen im Ballettsaal, Adaptionen auf Tournee und Wiederaufnahmen lange liegengebliebener Werke, bei denen ggf. auch auf Videomaterial aus dem Archiv der Stiftung John Neumeier zurückgegriffen werden muss. Alles das sollte zusammengeführt und in einer Distributionslogik verbreitet werden. Ein derartiges System kann man so auf der Welt nirgends finden. Weil sich das Hamburg Ballett künstlerisch ständig erneuert, müssen auch ständig neue Videoaufzeichnungen verfügbar gemacht werden.

 

Selbstverständlich haben wir zunächst eine Markterhebung gemacht. Die bestehenden Systeme waren und sind so weit weg von unseren Anforderungen an die intuitive Nutzbarkeit und die notwendigen Workflows, dass sie als Grundlage gar nicht erst in Frage kamen. Wir haben uns daher für ein maßgeschneidertes System entschieden, das die verfügbaren Technologien so nutzt, dass sie für uns den maximalen Mehrwert ergeben.

 

JR: Gibt es in der technischen Ausstattung der Dancing Cloud besondere Features, die man hervorheben sollte?

 

FC: Wir alle kennen Portale wie Netflix und Youtube und wissen, wie man sie bedient. Es war von Beginn an vorgesehen, dieses Niveau ebenfalls zu verwirklichen: dass jeder das Tool nutzen kann, ohne von der Komplexität der Nutzeroberfläche abgeschreckt zu werden.

Die Besonderheit bei der Einstudierung von Tanz besteht darin, dass schnelle und komplizierte Bewegungen nachvollziehbar sein müssen. Gerade in diesem Bereich haben wir viel Energie investiert: dass wir auch bei externem Zugriff dem Nutzer ermöglichen, durch einfache Gestensteuerung oder Bedienung am Computer eine fließende Bewegung sehr, sehr langsam nachzuvollziehen. Das hat man auf Youtube oder anderen Portalen so nicht. Auch unsere Zoom-Funktion innerhalb der Videowiedergabe ist sonst keineswegs üblich.

Ein weiteres besonderes Feature besteht darin, neue Aufnahmen über ein vorab festgelegtes Berechtigungsschema automatisiert zugänglich zu machen. Bei einer großen Premiere mit einer Serie von Folgevorstellungen sorgt das System beispielsweise dafür, dass die beteiligten Ballettmeister unmittelbar nach der Premiere Zugriff auf dieses Video haben.

 

Frederic Couson F Kiran West

 

JR: Das Hamburg Ballett ist bekannt für seine weltweiten Tourneen mit repräsentativen Ballettproduktionen von John Neumeier. Welchen Nutzen bringt die Dancing Cloud für diesen Bereich des Compagnielebens?

 

FC: Die Dancing Cloud ermöglicht es auch externen Partnern, mit einem zeitlich befristeten Gastzugang Videos zu sichten. Wenn man auf Tournee gehen möchte, muss zunächst geklärt werden, ob die Produktion in dem Theater realisierbar ist. Wir würden dann einen Zugang für den Intendanten oder den Technischen Direktor an dem Haus freischalten. Im nächsten Schritt wären das dann die Technischen Abteilungen wie die Beleuchtung und die Bühne – bis hin zur Ausstattung der Gastdirigenten mit Archivmaterialien, um die Einstudierung etwa eines lokalen Orchesters zu erleichtern. Auch die Abstimmung von Presse- und Marketingaktivitäten wird durch den unkomplizierten Zugang zu Archivaufnahmen erheblich vereinfacht. Der große Vorteil: Wir müssen keine DVDs oder Download-Links verschicken und behalten jederzeit die Kontrolle über die Videodaten, worauf John Neumeier und unser Betriebsrat besonders viel Wert legt.

 

JR: Von außen betrachtet, scheint Ballett eine Kunstform zu sein, die mit viel physischem Einsatz der Tänzer, aber auch der Techniker auf die Bühne gebracht wird. Daher wäre es interessant zu wissen, wie aufgeschlossen die Tänzer des Hamburg Ballett gegenüber technischen Neuerungen sind.

 

FC: Wir sind mit unserem System auf große Resonanz gestoßen. Das Feedback war überwältigend! Man muss bedenken: Tänzer sind überwiegend junge Leute, und keiner von ihnen probt freiwillig zu Hause mit einer Archiv-DVD. Gerade für sie ist der Wechsel eine echte Erleichterung im Probenalltag. Auch im Probensaal macht sich die Neuerung positiv bemerkbar: Tänzer und Ballettmeister können eine Stelle der Choreografie aus verschiedenen Winkeln vergleichen, ohne das Medium wechseln zu müssen. Man kann sogar an die entsprechende Stelle einer Aufnahme mit einer anderen Tänzer-Besetzung springen.

Darüber hinaus denke ich, dass die Ballettmeister am meisten von der Dancing Cloud profitieren. Sie sind im Ballettsaal präsent, um die Tänzer künstlerisch und technisch bei der Einstudierung zu coachen. Es ist zu erwarten, dass die einzelnen Tänzer in Zukunft mit mehr Vorwissen in die Proben kommen und dadurch mehr Raum für künstlerische Fragestellungen bleibt. Bei Wiederaufnahmen älterer Werke müssen sich die Ballettmeister zudem Ballette im Selbststudium erarbeiten oder in Erinnerung rufen. Der vereinfachte Zugang zu Archivmaterial und die neuen Vergleichsmöglichkeiten lassen eine Vorbereitung auf viel höherem Niveau zu.

 

JR: Mit welchen Partnern wurde die Entwicklung der Dancing Cloud realisiert?

 

FC: Die Hamburger Kulturbehörde war gleich zu Beginn des Projekts und als Förderer an unserer Seite, und zwar im Zuge der zukunftsweisenden eCulture-Initiative. In die vorgelagerte Projektprüfung wurde sogar das Fraunhofer-Fokus-Institut einbezogen. Dort attestierte man uns, mit der Dancing Cloud ein weltweit einmaliges Projekt mit hohem Innovationsanteil in Angriff zu nehmen.

Für gewisse Teile des Systems – jenseits des Konzepts und der Definition der benötigten Technologien – brauchten wir Unterstützung von Programmierern, die im jeweiligen Fachbereich hochqualifiziert sind. Dazu haben wir mit dem Ingenieurbüro für Medientechnik Intermediate Engineering einen tollen Partner gefunden.

 

Auch der Betriebsrat der Hamburgischen Staatsoper hat das Projekt über Jahre aktiv begleitet. Wir haben eigens eine Betriebsvereinbarung auf den Weg gebracht, die die Nutzungsszenarien genau beschreibt. Dabei mussten wir gemeinsam Neuland betreten, denn es geht letztlich darum, ein Gleichgewicht herzustellen: dass einerseits das Hamburg Ballett künstlerisch und technologisch auf dem neuesten Stand agieren kann und dass andererseits die Persönlichkeitsrechte der einzelnen Tänzer angemessen berücksichtigt werden.

 

JR: Wie sieht die Zukunft der Dancing Cloud aus?

 

FC: Internationale Ballettcompagnien haben bereits Interesse an unserem System signalisiert. Wir gehen davon aus, dass wir in Zukunft – ähnlich wie bei unserem selbst entwickelten Audiosystem – die Dancing Cloud an andere Ensembles lizenzieren können.

Auch wenn das Projekt noch ganz frisch ist, kann man die Dancing Cloud schon jetzt als Erfolg bezeichnen. Die hohe Serverauslastung zeigt, dass das System von den Tänzern viel genutzt wird. Und ganz wichtig: Es funktioniert – bei den zahlreichen technischen Innovationen keine Selbstverständlichkeit.

 

Sogar John Neumeier ist begeistert – und er ist nun wirklich auf der ganzen Welt herumgekommen. Er hat mir gesagt, dass er noch nie ein System gesehen hat, das sich so sehr von selbst erklärt. Gerade im Hinblick auf zukünftige Kreationen würde ihn die Technik noch besser unterstützen und mehr Raum lassen für das, worauf es bei uns wirklich ankommt: die kreative Entfaltung in der Kunstform Tanz.


Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Staatsoper Hamburg/Hamburg Ballett und wurde erstmalig veröffentlicht im Magazin der Hamburgischen Staatsoper: Journal Nr. 3, 2020/21. Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage der Staatsoper. KulturPort.De dankt Dr. Jörn Rieckhoff.

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