Musik

Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ wird selten aufgeführt. Das ist schade. Umso verdienstvoller ist die Initiative des Lübecker Theaters, dieses Werk des jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg (1919–1996) nach einem Roman von Zofia Posmysz (1923–2022) zum ersten Mal im gesamten norddeutschen Raum auf die Bühne des Großen Hauses zu bringen.

Hinzu kommt ein sensibles, vielfältiges Begleitprogramm mit Filmen, Lesungen, Vorträgen und Konzerten, das in den kommenden Monaten in Lübeck zu erleben ist.

 

„Wenn das Echo eurer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde.“ Dieses Motto steht über dem Gesamtprojekt. Ein Zitat des Résistance-Kämpfers Paul Éluard, das Komponist Mieczysław Weinberg und Librettist Alexander Medwedjew ihrer Oper „Die Passagierin“ vorangestellt haben.

Die neugierig gespannten Opernbesuchern werden im Großen Haus des Lübecker Theaters gleich zu Beginn des Abends mit einem schwarzen Vorhang konfrontiert. Er stellt die schwarze Todeswand von Ausschwitz dar. Und genauso werden die Opernbesuchern am Ende des Abends auch entlassen - die dunkle Todeswand vor Augen. Wie unter zwei schwarzen Buchdeckeln verborgen wird uns an diesem Abend die Geschichte der Schuldumkehr und des Gefühls der Nichtverantwortlichkeit von der SS-Aufseherin Lisa erzählt. Im gleißenden Licht taucht gleich zu Beginn Marta auf dem Oberdeck des Luxusdampfers auf, eine Figur aus der dunklen Vergangenheit Lisas. Lisa hatte einst als SS-Aufseherin in Auschwitz versucht, Marta für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Doch Marta, die Gefangene, verweigerte sich. Selbst die Verlockung, ihren Verlobten Tadeusz im Lager wiederzusehen, fruchtete nicht. Fünfzehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und fünfzehn Jahre nach Beginn ihrer Ehe reisen nun der deutsche Diplomat Walter und seine Frau Lisa mit dem Schiff von Deutschland nach Brasilien. Hier soll Walter eine neue Stelle antreten. Plötzlich nimmt seine Frau Lisa an Bord eine Passagierin wahr, die sie an eine Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz erinnert. Ihrem Mann hat Lisa nie etwas von ihrer Vergangenheit als SS-Aufseherin im Konzentrationslager Auschwitz erzählt. Sie hat all das so gut wie möglich verdrängt. Unerwartet rutscht Lisa nun Walter gegenüber das Geständnis heraus, sie war bei der SS, sie war in Auschwitz, sie war Täterin. Doch nach wie vor fühlt sie sich unschuldig: „Das war unsre Pflicht, es war ein Befehl. Ich glaubte an den Führer.“

 

Auf der Bühne sehen wir im grellen Scheinwerferlicht ein sonnenüberflutetes Schiff. Wie jedes Schiff ist dies ein hermetischer Raum. Ein Raum, in dem Begegnungen, Auseinandersetzungen und Erinnerungen unausweichlich sind. Auf dem Oberdeck dieses Luxusliners ist die Gegenwart zu Hause; hier vergnügen sich die Reichen, genießen die herrliche Aussicht. Ein Lichtstrahl – so sieht es das Libretto vor – fällt in die Dunkelheit der Unterbühne und wir Zuschauer sehen Auschwitz. Im Bauch des Schiffes hat sich die Vergangenheit niedergelassen. Hier sind die Leidenden auf engstem Raum zusammengepfercht. Hier ist Auschwitz. Hier sehen wir grau gekleidete Gefangene, Gefolterte, Folterer. Hier, an diesem unsäglichen Nichtort, finden besonders tief berührende Szenen statt wie die folgende: Häftling Tadeusz soll dem Lagerkommandanten dessen Lieblingswalzer auf der Geige vorspielen. Doch Tadeusz verweigert sich diesem Befehl und spielt stattdessen die Bach-Chaconne d-Moll. Das ist nonverbaler Widerstand und als der Kommandeur erkennt, dies ist nicht sein Lieblingswalzer, folgt unausgesprochen das Todesurteil für Tadeusz. Die Geige - Symbol des jüdischen Glaubens und der Kultur, während des Holocaust auch Symbol des Widerstands und des Überlebens - wird zertreten. „Es ist die Gesamtheit des Menschseins, die hier angegriffen wird“, so Regisseur Bernd Reiner Krieger beim Einführungsabend wenige Tage vor der Premiere.

 

Die Passagierin 02 F Jochen Quast

Foto: © Jochen Quast

 

Das Libretto von Alexander Medwedew basiert auf dem gleichnamigen autobiographischen Roman Pasażerka von Zofia Posmysz, in dem die Auschwitz-Überlebende eigene Erfahrungen und Erinnerungen verarbeitete. Zofia Posmysz war selbst im polnisch-katholischen Widerstand aktiv. Sie wurde 1942 verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Zofia überlebte das Konzentrationslager und arbeitete nach dem Krieg als Journalistin und Autorin.1969 hörte sie auf einer Auslandsreise in Paris eine deutsche Stimme, in der sie ihre ehemalige Lageraufseherin erkannt zu haben meinte. Das war die Initialzündung für den Fluss der traumatischen Erinnerungen, die Zofia Posmysz dann in ihrem Roman „Die Passagierin“ verarbeitete. Ein Werk, das Weinberg zutiefst bewegte, ebenso wie der gleichnamige Film von Andrzej Munks, der 1963 in die Kinos kam, bei der Biennale in Venedig Aufsehen erregte und nun im Begleitprogramm zur Oper in Lübeck zu sehen sein wird (11. Dezember, 20.30 Uhr, Kommunales Kino Lübeck).

 

Weinberg selbst war nach dem Überfall der Deutschen auf Polen 1939 in die Sowjetunion geflohen. Das rettete ihm das Leben; seine Familie wurde im Holocaust von den Deutschen vernichtet. Von diesen Schreckenserfahrungen ist das gesamte Oeuvre des Komponisten geprägt. 1968 komponierte Weinberg seine Oper „Die Passagierin“ nach dem Roman von Zofia Posmysz. Diese 1967/68 komponierte Oper wurde zu Weinbergs Lebzeiten nie aufgeführt und erstmals 2006 konzertant in Moskau realisiert. Die szenische Uraufführung erfolgte dann bei den Bregenzer Festspielen 2010. Seitdem gab es nur einige wenige Aufführungen an deutschen Theatern, so 2015 an der Frankfurter Oper, 2019 in Gera und derzeit – neben Lübeck – auch an der Bayerischen Staatsoper in München.

 

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Diese erste von insgesamt sieben Opern Weinbergs stellt sich mit geballter Kraft gegen das Vergessen des Zivilisationsbruchs. In Rückblenden wird die Vergangenheit lebendig. Verdrängungsprozess hier, Verantwortung da: Während im Libretto Lisas Verdrängungsprozess fortschreitet, nehmen die Akteure im Graben, auf und hinter der Bühne jeder für sich Verantwortung wahr – und zwar in jeder der gut 180 Minuten dauernden Aufführung. Allen voran Regisseur Bernd Reiner Krieger. Er gibt seine Verantwortung nicht an einen Video-Assistenten ab, sondern sieht sich als ernsthafter Vermittler, der mit Hilfe des Bühnenbildners (Hans Kudlich) und der Ausstatterin (Ingrid Leibezeder) jede Nuance des Textes und der Musik auf der Bühne jederzeit darstellend unterstützt. Das irgendwo zwischen Feininger und Titanic angesiedelte Bühnenbild spiegelt die in der Musik angelegten Gegensätze von brutaler Schroffheit und zärtlicher Intimität. Die wechselnden Ebenen (Oberdeck eines Luxusdampfers und Lagerdarstellung im Unterdeck) verdichten Raum und Zeit, so dass die lange Seelenreise zu einem kurzzeitigen Wellenaufschlag verdichtet wird.

 

Thematisiert wird in dieser Oper in zwei Akten, acht Bildern und einem Epilog von Mieczyslaw Weinberg die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen Auschwitz. Es gibt keine Arien, dafür aber Lieder und Volkslieder, die zum Teil a capella gesungen werden. Alles ist uneitel, auch auf der Bühne: Die Sänger-SchauspielerInnen – allen voran Marta (Adrienn Miksch) – singen und spielen grandios, mit beeindruckender Glaubwürdigkeit, mit höchst differenziertem musikalischem Ausdruck zwischen dramatischer Zuspitzung und zartestem lyrischen Kammerton. Lisa (Marlene Lichtenberg) singt und spielt mit großer Wandlungsfähigkeit von liebender Gattin zu fieser Aufseherin, Walter (Konstantinos Klironomos) vom strahlenden Helden zum reflektierenden Zweifler, und Tadeusz (Jacob Scharfman) ist sowohl widerständig als auch liebevoll. Dirigent Takahiro Nagasaki gelingt zudem in bewundernswerter Weise diese vielschichtige Partitur zusammenzuhalten: blechbläsergestählte Klänge werden flankiert von 3er-Schlägen-Zitaten aus Beethovens Schicksals-Sinfonie, da gibt es ein „Oh du schöner Augustin“-Zitat (…alles ist hin…), ein von instrumentalen Tumulten „unterwandertes“ Bach-Chaconne-Zitat, zerbrechlichen, unbegleiteten Sologesang. Ein klangschöner Chor, ein hochbewegliches Gefangenen-Ensemble und Klänge einer Live-Band komplettieren die gelungene Aufführung. Dies gelingt trotz ständig wechselnder Tempi. Aber wie schon Weinbergs Freund Schostakowitsch bemerkte, „in dieser Komposition gibt es keine leere, keine unbeteiligte Note“. Nicht zuletzt dem großartig agierenden Orchester ist es zu verdanken, dass dieser tief bewegenden Aufführung die Anwartschaft auf „Beste Oper des Jahres“ gebührt. Außerdem verdient diese Komposition die Aufnahme in den Repertoire-Kanon der Opernhäuser. Das Lübecker Publikum jedenfalls dankte stürmisch-begeistert, stehend und lang anhaltend.

 

Die Passagierin 01 F Jochen Quast

Foto: © Jochen Quast

 

In Bernd Reiner Kriegers Inszenierung unter der Musikalischen Leitung von Takahiro Nagasaki stimmt einfach alles. Kein Wunder also, dass die Premiere mit Standing Ovation gefeiert wurde. Der schwarze Vorhang hatte sich eigentlich schon letztmalig gesenkt, doch die verdeckten Akteure hinter der Bühne lifteten den Vorhang in einer Art friedlichen Aufruhrs nochmalig – selbst offensichtlich tief beglückt, den jubelnden Applaus zu genießen, als wollten sie sagen, wir alle, vom Statisten bis zum Dirigenten, wir sind die gemeinsamen Gestalter… In der pyramidisch geprägten Theater-Macht-Struktur ein Ausdruck pluralistischer Demokratie, aber auch ein Ausdruck menschlicher Schönheit. Gesamturteil: Fünf von fünf zu vergebenden Operngläsern! Weinbergs Freund Dmitri Schostakowitsch schrieb einst: „…abgesehen von seinen musikalischen Verdiensten ist dies ein Werk, das wir heute dringend benötigen.“ Das gilt auch heute noch.


Die Passagierin

Oper in zwei Akten von Mieczyław Weinberg

Zu erleben an drei weiteren Aufführungstagen bis 27. Dezember 2024 im Theater Lübeck, Großes Haus, Beckergrube 16, in 23552 Lübeck

Libretto von Alexander Medwedjew nach Zofia Posmysz

Mehrsprachig mit deutschen Übertiteln

Dauer: ca. 3 Stunden, 15 Minuten (eine Pause)

Weitere Termine: 19/10, 02/11, 20/12, 27/12, jeweils 19.30 Uhr

Weitere Informationen (Theater Lübeck)

 

Musikalische Leitung: Takahiro Nagasaki | Inszenierung: Bernd Reiner Krieger| Bühne: Hans Kudlich | Kostüme: Ingrid Leibezeder | Choreografie: Anna Wrobel | Kampfchoreografie: Heiner Kock | Chor: Jan-Michael Krüger | Licht: Falk Hampel | Dramaturgie: Jens Ponath, Sören Sarbeck

Mit Marlene Lichtenberg, Konstantinos Klironomos, Adrienn Miksch, Jacob Scharfman, Natalia Willot, Frederike Schulten, Aditi Smeets, Delia Bacher, Elizaveta Rumiantseva, Julia Grote, Ina Heise, Viktor Aksentijević, Changjun Lee, Wonjun Kim, Chul-Soo Kim, Mark McConnell, Hilli Eichenberg, Ulrike Hiller, Chor und Damen des Extrachores des Theater Lübeck, Statisterie des Theater Lübeck, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

Kartenvorverkauf: Theaterkasse 0451 3996 00, online unter theaterluebeck.de. Tickets gibt es auch bei allen bekannten Vorverkaufsstellen.

 

Begleitprogramm – Vorträge, Konzerte, Filme, Lesungen:

Mittwoch, 16. Oktober, 20.30 Uhr, Kino KOKI: Film & Theater: „The Zone of Interest“, Film von Jonathan Glazer. Im Anschluss Film- und Theatergespräch. Kinokarten über das Kommunale Kino Lübeck (KOKI).

Montag, 21. Oktober, 19.30 Uhr: Monday Shorts: „Wäre es doch immer so“. Jüdische Chansons, Lieder, Anekdoten und Witze. Theaterrestaurant. Eintritt frei.

Samstag, 2. November, 18.30 Uhr: Einführungsvortrag: Eine unerhörte Gedenk-Komposition: Weinbergs Oper „Die Passagierin“. Theaterrestaurant. Eintritt frei.

Samstag, 16. November, 19.00 Uhr: Gedenken an die Lübecker Märtyrer: Terror, Widerstand und Verantwortung: Leben und Sterben der Lübecker Märtyrer und Weinbergs „Passagierin“. Konzert: Johann Sebastian Bach: Partita Nr. 2 d-Moll für Solo-Violine BWV 1004. Europäisches Hansemuseum, Burgkloster. Eintritt frei. Karten: hansemuseum.eu

Mittwoch, 20. November, 20.30 Uhr: „Der Schatten des Kommandanten“, Dokumentarfilm von Daniela Völker. Im Anschluss Nachgespräch. KOKI Lübeck. Dienstag, 26. November 2024, 19.30 Uhr: Im Fokus: Mieczysław Weinberg: Kammerkonzert mit Musik von Mieczysław Weinberg, Haus Eden

Mittwoch, 11. Dezember 2024, 20.30 Uhr: Die Passagierin [Pasażerka]: Film von Andrzej Munk. Im Anschluss Nachgespräch. KOKI Lübeck.

Sonntag, 15. Dezember 2024,18.00 Uhr: „Der Rabbi sang ein Gebet für die Toten“: Die Autorin und Auschwitz-Überlebende Zofia Posmysz. Lesung mit Susanne Höhne und Norbert Abels. Willy-Brand-Haus. Eintritt frei.

Mittwoch, 22. Januar 2025, 20.30 Uhr: Treasure: Film von Julia von Heinz. Im Anschluss Nachgespräch. KOKI Lübeck.

Montag, 27. Januar 2025, 19.00 Uhr: Mieczysław Weinbergs musikalisches Erinnern an den Holocaust. Vortrag von Dr. Antonina Klokova. Willy-Brand-Haus. Eintritt frei.

Donnerstag, 30. Januar 2025, 19.30 Uhr: 2. Klangbilderkonzert: Olivier Messiaen: Quartett für das Ende der Zeit. Synygoge der Jüdischen Gemeinde Lübeck.

Mittwoch, 19. Februar, 20.30 Uhr: Der Passagier – Welcome to Germany, Film von Thomas Brasch (Im Anschluss Nachgespräch). KOKI Lübeck.

Sonntag, 23. März 2025, 11.00 Uhr und Montag, 24 März 2025,19.30 Uhr: 6. Sinfoniekonzert: Mieczysław Weinberg: Konzert für Violine und Orchester g-Moll op. 67. Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95, „Aus der Neuen Welt“. Musik- und Kongresshalle, Konzertsaal.

 

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