Wir kennen es alle, das Gefühl der Vorfreude auf ein großes Ereignis. Wenn die Erwartung vom tatsächlichen Ereignis sogar noch übertroffen wird, führt das zu einem Gefühl der beglückenden Bewegtheit und Dankbarkeit. So geschehen im 8. Sinfoniekonzert in Lübeck.
Deswegen steht hier an erster Stelle: Dank an Stefan Vladar für die Programmauswahl, die Reihenfolge und das Engagement von Klaus Maria Brandauer.
Lübecks Opern- und Generalmusikdirektor Vladar ist es gelungen, den legendären Schauspieler nach Lübeck zu holen für den Sprecherpart zweier tief beeindruckender Kompositionen aus der dunkelsten Zeit des 20. Jahrhunderts: Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ und „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ von Viktor Ullmann.
Unter dem Dirigat von GMD Vladar musizierte das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck. Herren des Chores und Extrachores des Theater Lübeck (Leitung: Jan-Michael Krüger) sangen den Chor-Part. Um es vorwegzunehmen: Die Konzertbesucher erlebten ein großartiges Konzert. Das muss die Lübecker Theater Stiftung (LTS) geahnt oder gar gewusst haben: Die LTS unterstützte das 8. Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck mit 15.000 Euro. Es hat sich gelohnt! Kurz gesagt: es war ein unvergessliches Konzerterlebnis!
Arnold Schönberg hatte 1946 den Bericht eines polnischen Juden über die Massaker im Warschauer Ghetto als Reaktion auf die Gräueltaten der Nazis in ganz Europa kompositorisch gestaltet. Zwei Jahre zuvor hatte der tschechische Jude Viktor Ullmann im Konzentrationslager Theresienstadt einen Rilke-Text musikalisch verarbeitet. Beide Kompositionen waren im ersten Teil des 8. Sinfoniekonzertes des Theater Lübecks in der Lübecker Musik- und Kongresshalle (MuK) zu erleben. Mit Schönbergs zwölftönigem Werk „Ein Überlebender aus Warschau“ begann das Konzert. „Die Hässlichkeit der Zeit, die Unfassbarkeit der Weltlage und der Gräueltaten deckt sich mit der Musik, die nahezu an die Schmerzgrenze geht. Diese Art der Nichtgefälligkeit passt bei keinem Stück so gut wie bei diesem“, hatte Lübecks GMD Stefan Vladar bei der Konzerteinführung erklärt.
Ambivalente Atmosphäre
Wie wir wissen, gab es bereits zu Bachs Musik zeitgenössische Aussagen wie „wenn er doch gefälliger komponieren würde“... Für Schönberg, der Bach bewunderte und einige seiner Werke für andere Instrumente bearbeitete, gilt das sicher in noch stärkerer Weise. Gewiss, einfach und leicht erfahrbar ist dieses Klangerlebnis nicht: Hörer und Hörerinnen müssen aufgrund fehlender traditioneller Kompositionsgeländer, an denen wir uns hätten orientieren können, zunächst einige Metaebenen überwinden. Andererseits: Wie, wenn nicht in dieser wenig gefälligen Schreibweise sollte man sonst diese Grausamkeiten der Menschen-Vernichtung darstellen? Dem Überlebenswillen, dargestellt durch die klanglich-rhythmisch-motivisch-polyphone Vielfalt, steht die autoritäre Willkür gegenüber, dargestellt durch z.B. den martialischen Trompetenweckruf. Eindringlicher als in dieser Komposition lässt sich eine derart ambivalente Atmosphäre wahrlich nicht herstellen!
In „Ein Überlebender aus Warschau“ thematisierte Arnold Schönberg (1874–1951) den Aufstand im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann und eine Woche später niedergeschlagen wurde. Erzählt wird das Stück von einem Augenzeugen, der sich totstellte und in den Untergrund retten konnte. Er hatte gesehen, wie entrechtete Juden niedergeknüppelt und ermordet wurden. Er hatte gesehen, wie sie nach gewaltvollem Apell abgezählt und in Vernichtungslager deportiert wurden. Er sah und hörte, wie sich die Juden inmitten aller Brutalität auf ihre religiösen Wurzeln besannen und begannen, das jüdische Glaubensbekenntnis „Schma Jisrael“ zu singen. - Hiermit endet das gewaltige, eindrucksvolle Stück, das Schönberg in nur drei Wochen komponierte, und Stille setzt ein nach diesem explosiven, nur siebenminütigen Werk. So geschehen in Lübeck, so geschehen nach einem eindringlichen, unvergesslichen Hörerlebnis.
Trotz der brutalen Thematik gelang es allen Beteiligten, die Schönheit der Schönberg‘schen Musik herauszuarbeiten, beispielsweise durch genaue rhythmische Differenzierung, durch lange, klangliche Ausbalancierung und natürlich durch die sinnstiftende Interpretation Brandauers. Die Modulationsfähigkeit seiner Stimme ist zutiefst beeindruckend, vor allem aber überzeugte die spannungsdichte Gestaltung, die sich auch auf das Orchester überträgt. Es ist geradezu atemberaubend, wie es Brandauer gelingt, den Spannungsbogen vom Ende einer Textpassage über die von Musik erfüllte Sprecherpause bis zu seinem Wiedereinsatz zu halten - und darüber hinaus. Durch diese hohe Kunst und durch den leidenschaftlichen Einsatz seiner Persönlichkeit erzeugte er auch im Zuhörer eine unerwartet starke emotionale Beteiligung: Klaus Maria Brandauer spielte/sprach nicht den Überlebenden aus Warschau, er war der Überlebende. Dies zeigte sich schon in seiner schmerzvoll gebeugten Haltung, die er unverrückt beibehielt. Kein Blick des Künstlers ging ins Publikum, er war in sich gekehrt, die Stimme kam von innen. Und was die Musik betrifft, so werden beim unvoreingenommenen Zuhörer die fehlenden tonalen Zusammenhänge durch klanglich-dynamische Spannungsbögen wieder hergestellt. Fehlende Gefälligkeit wird durch den Gewinn an Wahrhaftigkeit ersetzt. Und dieser Zugewinn kann als Gewinn an Schönheit wahrgenommen werden.
Bereichernde Klangsprache
Wer geglaubt hatte, nach diesen Emotionen aufreißendem Stück würde das nächste, für die meisten Konzertbesucher sicher unbekannte Stück von Viktor Ullmann (1898–1944) eher blass klingen, irrte sich gewaltig. Zum Glück werden immer wieder zuvor nicht gespielte (oder selten gespielte) Kompositionen in Konzerten aufgeführt, die meist einen erfrischenden, selten aber den Eindruck einer eigenen Handschrift hinterlassen. Ganz anders bei Viktor Ullmanns Stück „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“: So kraftvoll, so phantasievoll, so zart, aber auch entschieden, so selbstbewusst sich von seinem Lehrmeister Schönberg emanzipierend und sicher durch die freie Tonalität bewegend – kurzum, eine so bereichernde Klangsprache führt zu dem öffentlichen Auftrag: mehr davon!
Noch kurz vor seiner Deportation von Theresienstadt nach Auschwitz hatte der jüdische Komponist, Dirigent und Pianist Viktor Ullmann zwölf Stücke aus Rilkes gleichnamiger Dichtung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christopher Rilke“ skizziert. Trotz der unerträglichen Lebensbedingungen im Konzentrationslager Theresienstadt und der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Lager-SS vollendete Ullmann seine Komposition im Klavier-Particell. Das Stück wurde 1944 In Theresienstadt uraufgeführt und dort mehrfach gespielt. Am 16. Oktober 1944 wurde Ullmann nach Auschwitz-Birkenau deportiert und wenige Tage später von den Nazis vergast.
Nur etwa zehn Seiten der Partitur sind erhalten. Rekonstruiert und orchestriert (Vladar: „und ziemlich genau ergänzt“) hat der 1940 in Hannover geborene Komponist Henning Brauel das ursprünglich als Orchester-Melodram gedachte Stück für Sprecher und Orchester. In dieser Form war das Werk des tschechischen Komponisten beim 8. Sinfoniekonzert des Theater Lübecks in der Musik- und Kongresshalle (MuK) mit dem großartigen Klaus Maria Brandauer als Sprecher zu erleben. Hinzu kam, dass dank einer glücklichen Entscheidung auch die nicht vertonten Rilke-Texte von Klaus Maria Brandauer in die musikalische Stille hineingesprochen wurden. Das diente dem besseren, eindringlicheren Verständnis des Stücks, in dem es um Grenzerfahrungen, um Liebe und Tod geht.
Rilke hatte die Geschichte eines jungen Adligen, der 1664 in den Krieg gegen die Türken zog, bereits 1899 geschrieben. Dieser junge Mann erfährt das raue Leben der Soldaten, erlebt seine erste Liebesnacht mit einer Gräfin und zieht waffenlos, aber mit einer fliegenden Fahne „bewaffnet“ als Cornet (Fahnenträger) in die Schlacht. Er stirbt mit 16 Säbelhieben, die verbrannte Fahne in der erhobenen Hand. Das spätromantische todesselige Poem war ein Riesenerfolg für Rilke, zumal der Insel-Verlag dieses Werk 1912 in seinem ersten Band der neuen Reihe „Insel-Bücherei“ veröffentlichte und es rasch zum Kultbuch geriet. Im Ersten Weltkrieg trugen es die deutschen Soldaten im Tornister. „Das Stück ist doppelbödiger konzipiert und komponiert, als die Nazis es verstanden haben“, so Stefan Vladar. Der militärische Teil sei nur der Rahmen für all das Schmerzliche, was dort verhandelt, behandelt werde.
Erfrischend und initialzündend
Nach der Pause erklang Brahms Erste Sinfonie, an der der Komponist 13 Jahre „gefeilt“ hatte, laut Stefan Vladar. Auch dies unter seinem Dirigat, hervorragend musiziert vom Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck. Eine Programmfolge im musikhistorischen Krebsgang: UA (Uraufführung) Schönberg 1948, UA Ullmann 1944, UA Brahms 1876. Und das Wunderbare: Der schon so oft gehörte Brahms klang nicht altbacken, auch nicht überholt, sondern erfrischend und initialzündend in seiner kontrapunktivisch verankerten, unerwartet unsymmetrischen Taktgruppeneinteilung, in seiner sich entwickelnden variierenden Kompositionsweise, die auch Schönberg interessiert hat.
Überhaupt schien Stefan Vladar nicht den klassizistischen Brahms, sondern den zukunftsweisenden Brahms aufzeigen zu wollen. Dies, indem er scharfe, rhythmische Akzente neben liebevoll ausgearbeitete Holzbläserkantilenen stellte, warme Streicherklänge gegen satte Blechbläser-Blöcke, sehr ambitionierte Tempo-Ausbrüche neben feingearbeitete kammermusikalische Kabinettstücke. Unbedingt erwähnt werden müssen in diesem Zusammenhang die klangschönen Solo-Darbietungen von Flöte, Oboe, Horn und Streichern.
Nach brausendem Applaus für Brandauer im ersten Teil des Konzerts folgte zu Recht nach dem zweiten Teil ein ebenbürtiger langanhaltender Applaus für Orchester und Dirigent. Zu guter Letzt keimt eine große Hoffnung auf: Nach Brigitte Fassbender, die kürzlich in Lübeck „Elektra“ inszenierte (wir berichteten) und Klaus Maria Brandauer in diesem außergewöhnlichen, ja unvergesslichen Konzert, sind wir gespannt, wen Stefan Vladar als nächstes aus seinem musikalischen Ärmel zaubert!
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck: 8. Sinfoniekonzert
Stefan Vladar, Dirigent; Klaus Maria Brandauer, Rezitation; Jan-Michael Krüger, Choreinstudierung; mit Herren des Chores und Extrachores des Theater Lübeck
Arnold Schönberg (1874–1951) - Ein Überlebender aus Warschau. Für Sprecher, Männerchor und Orchester op. 46
Viktor Ullmann (1898– 944) - Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke 12 Stücke aus der Dichtung Rainer Maria Rilkes für Sprecher und Orchester, rekonstruiert und orchestriert von Bernhard Wulff
Johannes Brahms (1833– 897) - Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68
Lübecker Musik- und Kongreßhallen, Willy-Brandt-Allee 10, in 23554 Lübeck
Weitere Informationen (Musik- und Kongresszentrum Lübeck)
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