Musik
Verdis Freiheitsoper Nabucco in der Neuinszenierung von Kirill Serebrennikov

Am 22. August 2017 lässt das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation den Theater-, Kino-, Opern- und Ballettregisseur Kirill Serebrennikov wegen des „Verdachts auf die Organisation von Unterschlagung“ in Petersburg am Set seines neuesten Films festnehmen und nach Moskau transportieren. Seither steht er unter Hausarrest.
Die fragliche Summe wird zunächst auf „nicht weniger als 68 Millionen Rubel“ (nach heutigem Wechselkurs etwa eine Million Euro) beziffert, sie sei für das Projekt Platforma zur Popularisierung zeitgenössischer Kunst bestimmt gewesen.

Merkwürdig nur, dass Serebrennikov die auf drei Jahre angelegte Platforma-Veranstaltungsreihe vollumfänglich – bei stärkster Resonanz und Breitenwirkung – realisiert hat. Und obwohl selbst bei strengster Prüfung der von den Ermittlern vorgelegten Dokumente kein gewichtigeres Vergehen als eine bürokratische Ordnungswidrigkeit angenommen werden kann, durch die niemand – weder der Staat noch Mitarbeiter des Platforma-Projekts – zu Schaden kam, wird im Oktober 2018 offiziell Anklage gegen ihn und fünf seiner Mitarbeiter erhoben.
Trotz schwerer Auflagen (keine Tele- und Internet-Kommunikation) gelingt es dem Regisseur, seinen Film Лето (Sommer) an einem Computer ohne Internetverbindung fertigzustellen. Und der Regisseur bemüht sich, alle bestehenden Absprachen mit anderen Theatern einzuhalten: Der Oper Stuttgart genehmigt er die Verwendung eines von ihm in Afrika gedrehten Spielfilms zu Hänsel und Gretel, der im Rahmen eines halbszenischen Arrangements, das das Schicksal des Regisseurs thematisiert, gezeigt wird. Die Inszenierungen von Così fan tutte für die Oper Zürich und von Nabucco für die Hamburgische Staatsoper bereitet Serebrennikov antizipierend so detailliert vor, dass sie im worst case, der im Falle von Così eingetroffen ist, auch ohne seine physische Anwesenheit realisiert werden können.

Ich verfolge die Arbeit Serebrennikovs seit einigen Jahren, nicht nur als Zuschauer seines Moskauer Gogol Zentrums; an der Oper Stuttgart haben wir anlässlich von Salome – jener Inszenierung, die den internationalen Durchbruch Serebrennikovs auch als Musiktheaterregisseur markiert – und von Hänsel und Gretel Retrospektiven seines für den Westen noch kaum erschlossenen Film- und Theaterschaffens erarbeitet. Zu den Endproben für Così in Zürich reise ich mit gemischten Gefühlen an. Was wird mich erwarten? Was kann unter solch unzumutbaren Bedingungen entstehen? Jede audiovisuelle Aufzeichnung einer Theatersituation, auf die Kirill derzeit angewiesen ist, abstrahiert nicht nur von der Raumerfahrung. Sein Werk entwickelt er wie jeder gute Künstler in physischer Tuchfühlung mit dem Material. In den Proben zur Salome habe ich erlebt, wie er seine Setzungen in der Probenarbeit permanent hinterfragt und präzisiert. Aus meiner eigenen Regiearbeit weiß ich, dass jede noch so detaillierte und durchdachte Vorarbeit auf dasjenige zielt, was nicht antizipierbar ist, was nur im hier und jetzt der Probe – gern als Fehler oder im scherzhaften Überschwang – aufblitzt. Nichts ist unkünstlerischer als ein Nachstellen dessen, was sich ein Regisseur „am grünen Tisch“ ausgedacht hat.

Intendant Andreas Homoki versucht das Zürcher Himmelfahrtskommando so gut es geht zu legitimieren, indem er kommuniziert, „dass man ein existierendes Regiekonzept zur Not auch mit guten Assistenten umsetzen kann. Das erleben wir ja auch bei Wiederaufnahmen, die in der Regel ohne Anwesenheit des Regisseurs einstudiert werden.“ Aber als integrer Theatermann muss er diese Aussage gleich wieder relativieren: „Wobei in solchen Fällen die szenischen Vorgänge schon einmal in einem ausführlichen Probenprozess erarbeitet worden sind.“ Eben.
Es ist absolut beispiellos, was sich zwischen Zürich und Moskau im September und Oktober letzten Jahres zugetragen hat: Serebrennikov entwirft anhand von Fotos aller Mitwirkenden die Solisten- und Chorkostüme sowie das Bühnenbild, richtet in Moskau einen Klavierauszug als detailliertes Regiebuch ein und filmt sich selbst dabei wie er viele Sequenzen in seiner 32m2-Wohnung durchspielt. In einlässlichen Videobotschaften richtet er sich regelmäßig an das Ensemble. Sobald sein Mitarbeiter, der Schauspieler, Regisseur und Choreograf Evgeny Kulagin eine Szene im Umriss angelegt hat, wird diese aufgezeichnet. Digitaler Datentransfer – selbst wenn er den Umweg über Serebrennikovs Anwalt nehmen muss – macht es möglich, dass die Mitwirkenden innerhalb kürzester Zeit ein Feedback erhalten.

In einer Mail kann ich am 24. Oktober berichten: „Ich habe heute Abend eine Bühnenprobe von K’s Così in Zürich miterlebt, nun wird noch geleuchtet. Hauptsächlich ging es um logistische Abläufe, ich habe dennoch bereits einen starken Eindruck von Kirills Zugriff erhalten. Die Sicherheit seiner ästhetischen Setzungen als Bühnenbildner beeindruckt, sie sind untrennbar von seiner gedanklichen Durchdringung des Stücks. Die Bühne besteht aus zwei übereinander gelagerten Apartments in cool-minimalistischem Betondesign, mit raffiniert integrierter Beleuchtung. Kirills Idee, dass die beiden Männer ihren Frauen ihre Avatare auf den Hals schicken, funktioniert verblüffend. Durch die Doppelbesetzung von Ferrando und Guglielmo durch je einen Sänger und einen Schauspieler sieht man gleichsam zwei Filme gleichzeitig, einmal den Thriller oder momentweise auch: den Horrorfilm, durch den die Frauen durch die überfallartigen Attacken der „Albaner“ geschickt werden, und parallel dazu den Genuss, den die beiden Sängermachos aus ihrer Beobachtung ziehen. Die gesungenen schadenfrohen À parts und Kommentare müssen nicht mehr in das simulierte Spiel integriert werden, und je asynchroner die Aktionsebene und die Beobachterebene werden, desto spannender wird es.“
Die Premiere wird zu einer Sternstunde in der Rezeptionsgeschichte dieser unendlich schwer zu inszenierenden Oper, deren Regie meist wahlweise in wohlfeile Veralberung oder prätentiösen Tiefsinn ausweicht. Serebrennikovs filmisch präzise und zugleich surreal entrückte Inszenierung beglaubigt die Grenzerfahrungen, durch die Mozarts Musik die Figuren führt (Ferrando und Guglielmo fallen an der Front und werden sogar kremiert!), gleichwohl ist sie geprägt von „Witz“, wie das 18. Jahrhundert dieses Wort verstand: nicht als „Wille zur Komik“ sondern als geistreiche Skepsis und Beweglichkeit. Die Aufführung triumphiert über alle Widrigkeiten und belegt, dass in der Kunst ein geglückter Wurf alle ästhetischen Vorannahmen, und seien sie noch so fundiert, auszuhebeln vermag.

Seit Dezember letzten Jahres ist Serebrennikov mit der Ausarbeitung seines Nabucco-Konzeptes befasst. Der Pianist Daniil Orlov unterstützt ihn in Moskau bei der musikalischen Analyse, in Hamburg sollen neben Kulagin der Video-Künstler Ilya Shagalov sowie die beiden Assistentinnen für Bühne und Kostüme, Olga Pavljuk und
Tatyana Dolmatovskaya vor Ort sein – in der Hoffnung, dass Serebrennikovs Prozess bis zum Probenbeginn Ende Januar Geschichte sein wird, und alle Mitwirkenden den aufmerksamen Respekt, den der Regisseur jedem Beteiligten vom Kleindarsteller bis zum Opernstar entgegenbringt, persönlich erfahren und genießen können.
Angstfrei und ohne Scheuklappen stellt sich Serebrennikov auch in dieser Arbeit den unlösbar erscheinenden Nöten und Widersprüchen unserer Gegenwart. Seine Auseinandersetzung mit Nabucco könnte man unter das Motto „O mia patria, sì bella e perduta!“ („Oh mein Vaterland, so schön und verloren!“) stellen. In Verdis Oper wird dieser Satz an herausgehobener Stelle im berühmten Gefangenenchor gesungen. Dieser Gesang findet heute einen gewaltigen kollektiven Echoraum: Dem Schicksal der gewaltsamen Vertreibung aus der Heimat sind weltweit fast 60 Millionen Menschen ausgesetzt. Sie befinden sich auf der Flucht vor Krieg, Unterdrückung, Terror und Verfolgung. Kein Komponist vor Verdi hat das Schicksal eines ganzen Volkes in den Mittelpunkt einer Oper gestellt, ein Kollektiv zum Protagonisten gemacht und ihm eine vergleichbar markante, ebenso sanfte wie unüberhörbare Stimme gegeben. Der Gefangenenchor der aus ihrer Heimat nach Babylon vertriebenen Juden hat es Menschen in unterschiedlichsten Notlagen immer wieder ermöglicht, ihrer Trauer über das Verlorene, aber auch ihrer Hoffnung und Zuversicht auf eine bessere Zukunft eine Form und einen Ausdruck zu geben.

Serebrennikov, der auch bei diesem Projekt wieder sein eigener Bühnen- und Kostümbildner ist, überblendet in seinem Nabucco-Raum die internationalen Institutionen, in denen die Mächtigen dieser Welt weniger um Lösungen ringen, als Karriere-, Sex- und Powergames austragen, mit Fotografien von Sergey Ponomarev, jenes russischen Fotojournalisten, der mit seinen Arbeiten aus Kriegs- und Krisengebieten, vor allem aber auch zu der Massenflucht aus Syrien weltweit Aufsehen erregt hat. Im Herzen seines Nabucco-Projektes möchte Serebrennikov gemeinsam mit den Sängerinnen und Sängern des Hamburgischen Staatsopernchores eine Grenze überschreiten: Nämlich die Bühne auch für jene Menschen zu öffnen und freizugeben, deren Leid wir allzu oft nur aus medial vermittelter Distanz wahrnehmen, und unser kulturelles Erbe mit ihnen zu teilen. Menschen jeden Alters und Geschlechts, die die Erfahrung von Vertreibung und Flucht mit dem alttestamentarischen Protagonisten von Verdis Oper teilen, soll es ermöglicht werden, ihre Geschichte mit der Melodie des Gefangenenchores zu verknüpfen.

Giuseppe Verdi: Nabucco

an der Staatsoper Hamburg Großes Haus, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
Preise: 8,00 EUR bis 195,00 EUR
Einführungsmatinee mit Mitwirkenden der Produktion: 3. März 2019 um 11 Uhr, Probebühne. Moderation: Janina Zell
Premiere A: 10. März 2019, 18 Uhr (Einführung: 17:20 Uhr)
Premiere B: 13. März, 19:30 Uhr
Aufführungen: 17.3. 19 Uhr / 20., 23.3. / 2. / 5.4. jeweils 19:30 Uhr
Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme: Kirill Serebrennikov
Licht: Bernd Gallasch
Dramaturgie: Sergio Morabito
Chor: Eberhard Friedrich
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Handlung:
Jerusalem ist besetzt, der jüdische Tempel zerstört, das hebräische Volk ins verfeindete Babylon verschleppt. Im babylonischen Exil geht der Kampf weiter, um Land, Glauben und die Freiheit des jüdischen Volkes. Machtgier lässt den Babylonierkönig Nabucco nach gottgleicher Herrschaft streben. Mit Wahnsinn gestraft, lässt ihn die Liebe zur eigenen Tochter Erlösung finden: Ein demütiger Ruf nach dem Gott der Hebräer bricht aus Nabucco heraus. Die Gedanken, auf goldenen Flügeln, erreichen den Himmel. Auf Erden geht die Suche nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und religiöser Identität weiter. Eine immerwährende Suche, die auch Jahrtausende nach dem gescheiterten Turmbau zu Babel, in Zeiten von internationaler Weltsprache und Menschenrechtsabkommen zu Gewalt und Unterdrückung führt.


Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Staatsoper Hamburg und wurde erstmalig veröffentlicht im Journal Nr. 4, 2018/19. Weitere Informationen zur Operpremiere finden Sie auf der Homepage der Staatsoper.


Der deutsch-italienische Dramaturg und Regisseur Sergio Morabito bildet seit 1994 gemeinsam mit Jossie Wieler ein vielfach ausgezeichnetes Regieduo, dessen Operninszenierungen an Theatern und Festivals in Europa und den USA und Kanada zu erleben waren. Von 2011-2017 war Morabito Dramaturg an der Oper stuttgart. Er wird designierter Chefdramaturg der Wiener Staatsoper ab 2010/21.


Abbildungsnachweis:
Header: Portrait Kirill Serebrennikov Foto: © Ira Polyarnaya. PR/Staatsoper Hamburg

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