Musik
Gute Stücke, gute Arbeit.

Ob Bach, Mozart, Verdi, Wagner, Schumann oder Ruzicka, das Spektrum der Aufgaben erscheint unermesslich und verlangt höchste Flexibilität: Der Chor der Hamburgischen Staatsoper umfasst über siebzig Profisänger und wurde zum wiederholten Mal von Kritikern der Zeitschrift „Opernwelt“ als bester Opernchor des Jahres nominiert. Ein Gespräch mit dem Chordirektor Eberhard Friedrich.

Annedore Cordes (AC): Herr Friedrich, Sie sind seit 2013 Chordirektor an der Hamburgischen Staatsoper. Können Sie singen?

Eberhard Friedrich (EF): Klar, aber nicht wie ein Profi. Während meiner Studentenzeit habe ich in verschiedenen Chören gesungen, die zum Teil recht gut waren. Singen und singen ist ja ein recht dehnbarer Begriff: Jeder kann singen, aber nicht jeder ist ein professioneller Sänger.

AC: Bekommen Sie häufiger mal die Anfrage: Können wir bei Ihnen mitsingen?

EF: Ja, natürlich bekommen wir zum Chor der Staatsoper Anfragen. Schließlich haben wir ja neben dem festen Chor noch einen Extrachor. Aber es besteht schon ein riesiger Unterschied, ob jemand professionell singt oder in manchem Fall als Amateur einzustufen ist. Denn die Mitglieder des Staatsopernchores haben die gleiche Gesangsausbildung an einer Musikhochschule wie Opernsolisten auch.

AC: Bei der Umfrage der Zeitschrift Opernwelt erhielt der Chor der Hamburgischen Staatsoper in diesem Jahr erneut eine Nominierung als bester Chor im deutschsprachigen Raum. Und nach Aufführungen erfreut er sich oft ebenso vieler „Bravi“ wie die Solis­ten des Abends. Was ist das Geheimnis eines solchen Erfolges?

EF: Zunächst einmal ist es viel Arbeit. Für einen Erfolg sind aber auch wirkungsvolle Chor-Stücke notwendig. Es gibt Werke, da kann man im und mit dem Chor so gut sein wie man will, man wird einfach kaum wahrgenommen. Das Geheimnis liegt eigentlich in der zu leistenden Arbeit, die Leute für eine Sache zu motivieren und klar zu wissen, wohin man will. Dafür braucht man zweifellos eine gewisse Erfahrung. In meiner Position und Verantwortung ist es zudem wichtig zu wissen, wie man die Dinge zusammenführt. Man wünscht sich einen Regisseur, der professionell mit Chören arbeiten kann und unter anderem auch ein Bühnenbild, das eine optimale Präsentation der Stimmen ermöglicht. All das zu erreichen benötigt eine gewisse Diplomatie. Unentwegt braucht es für die hohe Qualität einer Opernaufführung die Bereitschaft aller Beteiligten, aufeinander zuzugehen. Und das ist natürlich auch dann die Verantwortung, mit der ich umzugehen habe: Es gilt, die Kräfte – auf der einen Seite die Chorgruppe und auf der anderen ein Regiekonzept – optimal miteinander zu verbinden.

AC: Ein Opernhaus mit einem vielfältigen Repertoire stellt einen Chor vor anspruchsvolle Aufgaben und erfordert hohe Flexibilität. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

EF: Das ist völlig unterschiedlich. Es gibt Zeiten, in denen wir überwiegend musikalische Proben haben und Zeiten hauptsächlich mit szenischen Proben. Zumeist ist es eine Mischung von beidem. Betreut man gerade eine Neuinszenierung, kann es unter Umständen schon sehr eng werden, wenn der Chor innerhalb einer Woche abends unterschiedliche Repertoirevorstellungen zu absolvieren hat, vormittags dann bereits Proben für die nächste szenische Neuproduktion angesetzt sind und gleichzeitig etwas noch weit in der Zukunft Liegendes neu zu lernen und einzustudieren ist. Da kann man sich dann schon lebhaft vorstellen, was sich im Kopf eines Chorsängers so alles abspielt. Auf diese Weise sind es für jede und jeden im Chor schon leicht vier oder fünf Stücke, die man ständig mit sich herumschleppt. Das ist viel. Und das betrifft natürlich auch meine Arbeit. Ständig den Fokus auf das gerade Notwendige auszurichten, ist unter solchen Umständen gar nicht so einfach.

AC: In diesem Winter gibt es zwei in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit sehr ambitionierte Produktionen aus der jüngeren Vergangenheit, nämlich die Zauberflöte und Messa da Requiem. Was sind die besonderen Herausforderungen für den Chor beispielsweise in diesen beiden Werken?

Zauberflöte Staatsoper HamburgEF: Die Zauberflöte ist ein Stück, das aus dem sogenannten deutschen Repertoire vermutlich in jedem deutschen Opernhaus irgendwann mal gespielt wird. Das heißt, wenn man den Beruf des Chorsängers bereits ein bisschen länger ausübt, hat man mit der Zauberflöte mindestens einmal zu tun gehabt. Das hat einerseits Vorzüge, denn man muss das dann nicht jedes Mal neu memorieren. Es hat aber auch den Nachteil, dass sich „Staub“ absetzen kann. Macht man ein Stück zu oft und kennt es zu gut, können natürlich kleinere Fehler hängenbleiben, zum einen im Dynamischen, zuweilen im Rhythmischen und auch beim Notentext, da es in verschiedenen Produktionen der gleichen Oper unterschiedliche Fassungen gibt. Es kann dazu führen, dass solche Unterschiede möglicherweise nicht ganz detailgetreu in den Köpfen haften geblieben sind. Aber derartige Feinheiten zu wiederholen, gehört eben zu den Hauptarbeiten eines Chores bei einer Wiederaufnahme, stärker etwa als das neu Lernen. Man muss sich dabei zum Beispiel vergegenwärtigen, warum und wie in der aktuellen Inszenierung der Chor „O Isis und Osiris“ anders gestaltet sein muss als in der vorangegangen. Hat jemand in der früheren Zauberflöten-Inszenierung in, sagen wir, fünfzig Repertoirevorstellungen mitgewirkt, dann sind bestimmte Details im Gedächtnis möglicherweise stärker „abgespeichert“ als etwa die Anforderungen in der neueren Produktion, die vielleicht erst zehn Mal in einer ersten Aufführungsserie gespielt wurde. Daher muss man ständig darauf hinarbeiten, gewisse Feinheiten immer wieder von neuem zu erzeugen. Häufig gespielte Opern haben dabei zweifellos den Vorteil, dass jedem klar ist, worum es in dem Stück geht. Guillaume Tell von Gioachino Rossini, erst kürzlich aufgeführt, steht eben viel seltener auf dem Spielplan. Daher galt es erstens, das Stück im Chor neu zu lernen, und zweitens ging es darum, die gewünschten Inhalte zu vermitteln, um keinem das Gefühl zu geben: Wer bin ich in diesem Stück? Was singe und spiele ich da eigentlich?

AC: Während die meisten Opern ja von vornherein für die Szene gedacht sind, gilt das nicht für das Requiem von Giuseppe Verdi. Ist es dann nicht schwieriger für einen Chor, neben dem musikalischen auch den szenischen Part zu meistern?

Friedrich Eberhard Foto E. NawrathEF: Beim Verdi-Requiem ist es tatsächlich ein anderes Thema, weil weder die Musik noch der Text szenisch gedacht sind. Allein durch die Musik löst dieses Werk schon starke Empfindungen aus. Hört man den lateinischen Text, den nicht jeder versteht, bekommt man gerade durch die szenische Deutung einen sehr intensiven Eindruck über die Tiefgründigkeit von Verdis Intentionen. Aus diesem Grund finde ich die Produktion von Calixto Bieito äußerst geglückt. Was die Arbeit mit dem Chor betrifft, musste man zwangsläufig eine größere Anzahl an Proben investieren, denn erstens hat das Requiem eine bestimmte Länge, und zum zweiten ist es ein Werk, das einem nicht so ohne weiteres in den Kopf geht. Messa da Requiem zeichnet sich unter anderem durch die Komposition zahlreicher Fugen und durch ganz spezielle musikalische Besonderheiten aus, die man zwar weiß, wenn man die Partitur in den Händen hält, doch ein Problem besteht dann darin, auch die Noten in den Kopf zu bekommen und sie selbstverständlich auswendig zu wissen. All das braucht Zeit und auch die „Erinnerung“, wo wollen wir damit bewusst hin? Andererseits ist dann eine solche Erinnerung an die gewissen Feinheiten bei der Wiederaufnahme mit Sicherheit relativ schnell vorhanden, weil wir ja – denkt man an das zuvor bereits Gesagte – tatsächlich nur diese eine Verdi-Requiem-Produktion szenisch zu erarbeiten haben. Es sind also erneut ganz unterschiedliche Grundsituationen, die bei einer solchen Wiederaufnahme in den Fokus zu stellen sind.

AC: Erstmals übernimmt Paolo Arrivabeni die musikalische Leitung bei Messa da Requiem, während bei der Zauberflöte Kent Nagano bereits im Mai einige Vorstellungen dirigiert hat. Muss sich der Chor auf einen neuen Dirigenten besonders einstellen?

EF: Natürlich, dafür probt man ja auch. Und jeder Dirigent hat andere interpretatorische Vorstellungen. Eine Zauberflöte bleibt zwar stets eine Zauberflöte, aber häufig entsteht eben eine „andere“, eine in bestimmten Details neuartige Interpretation, sei es durch andere Tempovorstellungen, gelegentlich auch durch andere Phrasierungsideen. Bekommen wir einen neuen Dirigenten, sollte ein Chor in der Lage sein, dessen Ideen und Wünsche möglichst unmittelbar umzusetzen. Es ist dann ein wichtiger Teil meiner Arbeit mit dem Chor, diese Sensibilität herzustellen. Es kommt auch vor, dass ein Dirigent mich fragt, wie habt ihr diese oder jene Absprachen getroffen, da es zwangsläufig unterschiedliche Ideen und eben auch Traditionen gibt.

AC: Verständlich, der Bühnenalltag erfordert doch ein hohes Maß an pragmatischem Denken...

EF: Nicht nur. Das ist vor allem auch eine Frage des gegenseitigen Respekts. Man erlebt schon, dass ein Dirigent kommt und sagt, das gefällt mir gut, das machen wir jetzt so. Es geht ja nicht um die Frage: Wessen Wahrheit ist die richtige? Selbstverständlich gehören da gleichzeitig die Erfordernisse und Herausforderungen eines Repertoirealltags dazu. Die ganze Angelegenheit – nennen wir es ruhig ein „Gesamtkunstwerk“ – soll und muss ja eine Symbiose sein. Findet eine Szene etwa zwanzig Meter weit weg vom Dirigenten statt, zum Beispiel auf der Bühne mit einem Wassergraben dazwischen, kann der Dirigent nicht einfach sagen, jetzt kommen Sie mal nach vorne und achten auf mich. Mit solchen Situationen muss man dann differenziert umgehen. Andererseits gibt es eindeutige Absprachen. Zum Beispiel findet sich in La Traviata eine Stelle, die kann man forte oder auch piano singen. In solch einem Fall muss man den Dirigenten fragen, was er beabsichtigt. Oder er fragt umgekehrt uns: Wie machen Sie das? Wie ist es inszeniert? Man sieht: Auf alle Fälle ist es ein gegenseitiges Geben und Nehmen.

AC: Was schätzen Sie persönlich an den beiden Werken, von denen wir detaillierter sprechen?

EF: Die Zauberflöte hat zweifellos hinreißende Musik. Ehrlich gesagt, finde ich, es gibt dramaturgisch, vor allem textlich bessere Mozart-Opern als die Zauberflöte. Aber die Musik ist einfach nicht zu toppen! Die meisten Opern von Mozart haben diesbezüglich bei mir einen sehr hohen Stellenwert und die Zauberflöte gehört unbedingt dazu. Das Verdi-Requiem ist auf anderer Ebene ebenso qualitativ hochwertig, aber es handelt sich um eine andere Entstehungszeit und zweifellos um eine andere Art der Komposition. Wenn ich mit solchen Werken zu tun habe, wie etwa mit der Zauberflöte oder mit der Messa da Requiem, erfüllt mich das immer mit großer Freude, weil dies einfach gute Stücke sind, die einen nicht allein in der täglichen Arbeit bewegen. Und das macht meiner Ansicht nach sehr viel aus. Jetzt arbeiten wir mit dem Chor gerade an Schumanns Faust-Szenen, die ebenfalls herausragend sind: eine phantastische Symbiose eines genialen Textes mit einer unglaublich beseelt komponierten Musik. Auch die Chormitglieder sagten gleich bei der ersten Probe: „Oh, ist das schön!“ Und damit hat man sofort einen Output. Da geht es unmittelbar los, da kann man puzzeln ... Das ist wie schönes Wetter!

AC: Sie sind ein sehr erfahrener Chorleiter. Ihre Station vor Hamburg war die Berliner Staatsoper Unter den Linden, und bis heute leiten Sie den Chor bei den Bayreuther Festspielen. Bleiben da noch Wünsche offen?

EF: Ich arbeite gerne mit guten Chören, so wie mit unserem hier und zugleich mit guter Musik. Das heißt, es ist schon vieles vorhanden von dem, was ich mir wünsche. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch anders gehen könnte. Klar, es gibt noch andere gute Chöre und noch viel mehr gute Musik, als wir hier bereits spielen. Aber es gibt nichts, wo ich sagen würde: Das muss ich unbedingt noch machen. Um auf die Inhalte und die Bedeutung der jeweiligen Interpretation zurückzukommen: Bei vielen Opern erfasst man rasch die Situation, weil sie mit anderen Werken vergleichbar sind. Und der Chor hat seine festgelegte Funktion in der Handlung. Das ist – wir haben bereits davon gesprochen – beim Verdi-Requiem und bei Schumanns Faust-Szenen in gewisser Weise anders, denn beides sind ja in einem ursprünglichen Sinn keine Opern. Ich freue mich, um auf die Frage nach meinen Wünschen zurückzukommen, daher stets über Stücke, die Neuland für mich sind. Schumanns Faust-Szenen habe ich tatsächlich das erste Mal überhaupt einstudiert. Also daher mein Wunsch als abschließendes Fazit: gute Stücke, gute Arbeit.

Der Chor der Hamburgischen Staatsoper

Weitere Informationen


Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Staatsoper Hamburg und wurde erstmalig veröffentlicht im Journal Nr. 3, 2018/19.


Abbildungsnachweis:
Header: Szene aus Messa da Requiem. Foto: Staatsoper Hamburg
Portraitfoto Eberhard Friedrich: Enrico Nawrath
Szene aus Mozarts Zauberföte. Foto Staatsoper Hamburg

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