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Kent Nagano und die Suche nach inhaltlicher Wahrheit in der Musik

Der zweite Teil des Gesprächs mit Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano im Park Hyatt Hotel Hamburg geht den Fragen nach: warum ihm die Londoner Symphoniker ein Schild schenkten mit der Aufschrift „Danger – Live Conductor; was es bedeutet, in der Musik inhaltliche Wahrheit zu suchen, warum für ihn Partituren mehr sind als bloße Empfehlungen und was die Elbphilharmonie für Hamburg bewirken kann und schließlich warum Balance und Ausgeglichen-Sein so wichtig ist.

Hans-Juergen Fink (HJF): Konnte Zappa denn still daneben sitzen, während Sie dirigierten?

Kent Nagano (KN): Ja, wir waren da sehr nahe. Frank Zappa hat, wie wir jetzt rückblickend sehen, immer ganz neue unbekannte Namen geholt. Er hatte ein sehr scharfes Ohr für Technik und Perfektion, für künstlerischen Ausdruck. Aber er hasste das Musiksystem, wo man erstmal so viel investieren musste. Er sagte: „Talent ist Talent“, und hat viele junge Leute gefördert. Er hätte damals jeden Dirigenten haben können, aber er hat einen jungen geholt, nämlich mich, und hat mir eine professionelle Chance gegeben.

HJF: Sie haben damals bei den Aufnahmen vom Orchester ein Schild bekommen: „Danger – Live Conductor“ (wörtlich: Vorsicht – Leitung unter Spannung. Wobei Conductor eben auch Dirigent heißt, Anm. d. Red.). Was war damit gemeint?

KN: Ich habe diese schrecklichen Ohren, mit denen ich soviel höre und deshalb auch sehr viel schneller korrigieren kann. Aber aus dieser Zeit ist bis heute eine Freundschaft mit dem LSO geblieben, wir haben gerade wieder ein paar Konzerte zusammen gemacht. Sie hatten gedacht, der Zappa hat irgendwelchen Popkram geschrieben. Aber nein, das war sehr komplizierte Musik. So dachten sie auch: Kent Nagano – wer ist das denn? Bis sie spürten, dass ich merkwürdig gute Ohren habe. Das war eine sehr intensive Zeit, künstlerischer Austausch auf hohem Niveau. Zappa und ich waren gemeinsam auf dem Podest, er hat jeden Fehler korrigiert. Und die Musiker haben realisiert: Der Zappa hat etwas zu sagen.

HJF: Wenn heute über Kent Nagano und Klang geschrieben wird, fallen so Begriffe wie Balance, Transparenz, Noblesse, Purity – kühl und analytisch. Und jetzt, anlässlich von „La Passione“ in den Deichtorhallen auch „zuviel Wohlklang“. Was suchen Sie in der Musik?

KN: Inhaltliche Wahrheit. Ich nehme, was gegeben ist – die Partitur. In der „Matthäus-Passion“ gibt es Text, und man versucht so nah wie möglich an die Musik und die Texte zu kommen. Das klingt so einfach, so banal, aber es ist lebenslange Arbeit. Wie bringt man jeden Choral anders zum Klingen? Wie soll das Stück atmen? Ich kenne die „Matthäus-Passion“ seit meiner Kindheit, und so eine lange Reise mit einem Stück ist ein Vorteil, weil man so oft zurück geht zu den gleichen Tönen. Das ist bei Bach so faszinierend: Bei jeder Aufführung hört man etwas anderes. Diesmal in den Deichtorhallen war das sehr interessant. Die Akustik war eine große Herausforderung, wir konnten einander kaum hören. So musste ich viel mehr physisch dirigieren als sonst. Und der Kontext „alles Weiß“ auf der Bühne war auch sehr interessant für uns.

HJF: Fühlen Sie sich mit Kategorien wie Balance, Klarheit und Reinheit richtig beschrieben?

KN: Man muss natürlich interpretieren. wenn wir heute Meisterwerke spielen, müssen wir sie immer neu schaffen. Wir erleben Musik ja praktisch nur als Vergangenheit. Wenn wir neu kreiieren, zum Beispiel „Hamlet“ von Shakespeare, dann können wir nicht viel verstehen, wenn nicht prononciert gesprochen wird, sondern geschrien, oder es ist Lärm auf der Bühne – dann bekommen wir ein inhaltliches Problem. In der Musik: Zuerst müssen wir verstehen, was uns der Komponist gegeben hat, dann bekommt der Inhalt eine Chance. Eine Partitur nur als Empfehlung zu benutzen ist für mich nicht genug.

HJF: Akkurat schauen und hören auf das, was geschrieben steht – hat das etwas mit Ihren japanischen Wurzeln zu tun?

KN: Nein, das glaube ich nicht. Eher damit, dass ich mit der und in der Natur aufgewachsen bin. Ohne Balance kann man keinen echten Klang haben, man kann keine Obertöne hören ohne Balance und keine richtige Atmosphäre schaffen, ohne eine Naturbalance. In der Natur ist Schönheit ganz anders definiert als bei uns, weg vom Hübschen – es gibt schreckliche und hässliche Sachen in der Natur, die müssen auch drin sein in der Schönheit. Aber es kann nichts entstehen, wenn etwas unnatürlich gemacht wird, außerhalb der Balance. Dann wird es nicht klingen.

HJF: Wann sind Sie zufrieden mit einer Aufführung?

KN: Alle Künstler, die ich persönlich kenne oder die ich respektiere, sind nie zufrieden. Deshalb können wir ja immer wieder zurück kommen zu einem Stück. Das ist für mich auch bei Aufnahmen problematisch: Man kann bei Aufnahmen versuchen, etwas durch Technik besser hinzubekommen. Aber höre bei Aufnahmen immer nur, was ich besser machen könnte.

HJF: Mit dem Montréaler Symphonieorchester machen Sie viele Aufnahmen. Haben Sie mit dem Philharmonischen Staatsorchester auch solche Pläne?

KN: Wir haben etliche Projekte, und hoffentlich werden sie realisiert. In unserer Zeit ist die kommerzielle Seite von Aufnahmen sehr unterschieden davon, wie es vor 25 Jahren war – das ökonomische Modell ist ganz anders, auch wie eine Aufnahme auf dem Markt angenommen wird. Der CD-Markt wird immer kleiner, das Internet kann da noch nicht qualitativ mithalten, Und Streaming ist eine Technik, die sich noch entwickelt...

HJF: ...andererseits macht das Internet einen ungeheuren kulturellen Reichtum, auch in der Musik, für die Menschen zugänglich...

KN: ...ja, im Internet kann man fast alles finden, auch klassische Musik. Aber die Welt der Aufnahmen macht einen gewaltigen Wandel durch. Und wir müssen uns fragen: Wofür tun wir das? Darüber denken wir viel nach.

Kent Nagano Foto Steven Haberland

HJF: Haben Sie ein Herzensprojekt für Hamburg, abseits von CDs? So wie es für Ihre Vorgängerin Simone Young „Der Ring des Nibelungen“ war?

KN: Es gibt verschiedene Projekte für die Zukunft, die ich mit dem Intendanten Georges Delnon diskutiert habe. Aber jetzt ist es erstmal für das Orchester und für Hamburg sehr wichtig, dass wir die Elbphilharmonie so eröffnen, dass sie einen sehr starken Impuls für die Weiterentwicklung der Stadt geben kann. Die Events zu Beginn werden sicher wunderbar, aber eine Konzerthalle ist viel, viel mehr als eine Eröffnungssaison. Sie ist eine Chance für eine Gesellschaft, einen Treffpunkt zu haben, und ein Fenster, durch das man mit der internationalen Welt kommunizieren kann, durch das auch Impulse herein kommen. Jetzt kommt es darauf an, wie man diese Chance nutzt und wie diese Energie für die Hamburger Gesellschaft kanalisiert. Das braucht viel Denken und viel Strategie.
Mein Traum, meine Hoffnung ist es, dass die Elbphilharmonie das Wohnzimmer von Hamburg wird – mit einer Chance, einen sehr starken kreativen Impuls für die nächste Entwicklungsphase der Stadt zu geben. Es ist also nicht damit getan, dieses Haus zur Welt zu bringen – wir müssen ihm einen besonderen Status in dieser Welt geben.

HJF: Nehmen Sie diese Startsituation als Glück wahr?

KN: Ich hatte das Privileg, viele Häuser persönlich eröffnen – Lyon, Manchester, Montreal, ich war auch bei der Eröffnung von San Fransiscos neuem Saal, bei Los Angeles und der Walt Disney Hall dabei, in Luzern bei der ersten Spielzeit. Da spürt und sieht man wie groß das Potenzial ist, man sieht aber auch, wenn es nicht erreicht wird. Es ist eine große Verantwortung für einen Dirigenten.

HJF: Wie oft sitzen Sie eigentlich in der Hamburger Staatsoper in Vorstellungen?

KN: Zwei-, dreimal in der Woche, wenn ich in Hamburg bin. es ist sehr wichtig, das Orchester zu hören, nicht nur im Graben, sondern auch von außen.

HJF: Wie sieht es mit den Sängern aus? es gibt immer wieder die Kritik, dass Hamburg nicht die wirklichen Top-Sänger bekommt. Da haben Sie in München andere Erfahrungen gemacht.

KN: Hamburg hat eine Tradition. Ich bemerke diese Tradition als Fremder aus dem Ausland genauer. In der Liebermann-Ära haben wir aus Amerika nach Hamburg geschaut. Weil da nicht nur kreative Ideen auf der Bühne waren, sondern auch die nächste Generation junger Stars geboren wurde. Das berühmteste Beispiel ist Plácido Domingo, der hier seinen Anfang hatte. Diese Tradition, die nächste Generation von Talenten zu finden und hier auf die Bühne zu bringen, ist ein Teil der Hamburger Geschichte, und wir müssen uns wirklich darauf fokussieren. Mit Herrn Delnon können wir hoffentlich diesen großen Fokus hinbekommen.

HJF: Wer hat das letzte Wort bei der Sängerauswahl?

KN: Es ist nicht so vertikal organisiert. Mit Herrn Delnon kann man gut diskutieren. Das kommt auf die Situation an. Wir diskutieren, und wenn wir merken, wir kommen nicht weiter, müssen wir in eine andere Richtung gehen.

HJF: In einem Gespräch mit der „Zeit“ haben Sie mal gesagt: „Als ich meine Frau geheiratet habe, war zum ersten Mal meine Seele in der Balance.“ Was war da vorher nicht ausbalanciert?

KN: In Amerika sind wir fast alle Immigranten, es ist ein Einwanderungsland. Natürlich haben wir auch die Native Americans, die vorher da waren. Aber jede Person kommt eigentlich aus einer anderen Kultur, aus einem anderen Land, und jeder geht durch diesen Melting-Pot-Prozess, wo man die Vergangenheit ein bisschen vergisst, man absorbiert dieses „America – land of opportunity“. Es war für mich schwierig, dass ich aufgewachsen bin mit dem Einfluss von Großeltern, die nur Japanisch sprachen. Die Kombination zwischen den Spannungen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, wo Japan unser Feind war, und dann, dass ich so fasziniert war von einer so unpopulären Sache wie der klassischen Musik in einem Moment Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre, wo populäre Musik eine sehr starke Rolle einnahm. Nur meine Leidenschaft lag nun mal bei der klassischen Musik, und das war da nicht so sexy. für mich schon – ich habe mit größter Freude mit einem Freund Bruckner-Sinfonien vierhändig gespielt, ich fand das sehr dynamisch. Aber niemand anders eben. Mein georgischer Professor hat in uns so deutlich das Interesse an Literatur und Philosophie, Musik und bildende Kunst geweckt – und das hatte so gar nichts mit dem Aufbruch der 60er-Jahre zu tun. Ich war auf der einen Seite komplett amerikanisch, hatte aber keinen Teil an der amerikanischen Populärkultur. Ich hab mich damals nicht wirklich wohl gefühlt, unangenehm, aber nicht tragisch oder dramatisch.
Als ich dann meine Frau kennen gelernt habe, haben wir gefunden, dass sie als Japanerin, die nie in Japan gelebt hat, sondern nur in europäischen Zentren als klassische Pianistin, auch nicht so superpopulär war in der Schule. Von außen sieht sie aus wie eine Japanerin, ist es aber nicht wirklich. Genau wie ich: Ich sehe aus wie ein Japaner, bin aber zu 100 Prozent Amerikaner. Und weil wir uns so ähnlich waren, waren plötzlich alle diese Spannungen weg. Wir sind wie wir sind, es ist kein Fehler. Und das brachte eine unglaublich tiefe Ruhe.


Unsere CD-Empfehlung mit Kent Nagano:
Beethoven: 9 Symphonies
Orchestre Symphonique de Montréal, Leitung: Kent Nagano.
6 CDs Analekta
AN 2 9150-5

Arthur Honegger: L’Aiglon
Jacques Ibert, Orchestre symphonique de Montréal
Decca, März 2016


Abbildungsnachweis:
Alle Fotos: Steven Haberland

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