„Andromeda Mega Express Orchestra“ – Uraufführung in Riga
- Geschrieben von Anke Borscheid, Aija Kaukule -
Das Jahr Rigas als Kulturhauptstadt neigt sich langsam seinem Ende zu, doch auch im Herbst gibt es noch echte Höhepunkte im Programm.
Einer dieser besonderen Momente ist der Initiative des Goethe-Instituts Rigas zu verdanken, indem es zwei verschiedene Ensembles – die Berliner Experimentalmusiker „Andromeda Mega Express Orchestra“ und die „Sinfonietta Rīga”, ein staatliches Kammerorchester – in einem Projektorchester zusammenführte. Das Ergebnis dieses Experiments wurde am 26. September im Konzertsaal Riga präsentiert und ist mehr als gelungen. Die Eigenkompositionen des musikalischen Leiters Daniel Glatzel zeichnen sich durch eine neue, eigene Klangsprache voller faszinierender Gegensätze aus, welche bei der Uraufführung direkt einen Nerv beim Publikum treffen.
Riga 2014: Eine musikalische Begegnung
Die Zuschauer, die sich am kurzweiligen Klangexperiment des Andromeda Mega Express Orchestras (AMEO) und der Sinfonietta Rīga erfreuten, erlebten nur den Höhepunkt eines Projektes, dessen Planung bereits drei Jahre zuvor begann. Das Goethe-Institut Riga entschied damals über seine Beiträge zum Kulturhauptstadtjahr 2014 und von Beginn an stand fest, dass es einen lettischen Projektpartner geben sollte. Die Initiierung von deutsch-lettischen Kooperationen gehört zu den Grundprinzipien ihrer Arbeit, so Antra Balode, Programmleitern des Goethe-Instituts in Lettland. Bald stand fest, dass das Projekt über ein bloßes Gastspiel hinausgehen sollte, im Fokus sollte die Interaktion zwischen jungen Musikern aus Deutschland und Lettland stehen. Dass sich daraus eigene Kompositionen, mit einem eigenen internationalen Charakter, entwickeln sollten, war eine unvorhergesehene Entwicklung.
Die Suche nach passenden Musikern war der erste Schritt, nachdem man sich auf eine Orchesterkooperation geeinigt hatte. Das unabhängige Andromeda Mega Express Orchester hatte just im Jahr 2011 einen renommierten Jazzpreis gewonnen, die Sinfonietta Rīga ist zwar ein staatliches Kammerorchester, zeichnet sich aber durch eine große Aufgeschlossenheit gegenüber musikalischen Experimenten aus. Die beiden Orchester waren gefunden, die Frage nach der inhaltlichen Gestaltung stand noch aus.
Zunächst sollten Stücke aus dem Repertoire des AMEOs für die beiden Orchester neu arrangiert werden. Bei einem Probentermin in Riga im Oktober 2013 wurde jedoch deutlich, dass das Projekt eine eigene Herangehensweise erfordert: statt bekannte Stücke zu interpretieren, sollten die Einflüsse beider Orchester in kraftvollen Neukompositionen gebündelt werden. Daniel Glatzel, musikalischer Leiter und Komponist des AMEO wurde mit den Kompositionen beauftragt, bei denen ihm absolute künstlerische Freiheit zugestanden wurde.
Für die Finanzierung konnten zudem der Berliner Senat und das Auswärtige Amt gewonnen werden, während das Projekt selbst einen Platz im Programm von Riga 2014 fand. Einer der sechs konkreten „thematischen Linien“ der Kulturhauptstadt konnte das Projekt jedoch nicht zugeordnet werden, zu facettenreich waren die Ansätze, die sich nicht nur einer klaren regionalen Verortung, sondern auch einer Genrezuweisung verschließen.
Die letzten fünf Tage vor dem Konzert probten die Orchester gemeinsam in Riga. Dazu wurden Kleingruppen – den Instrumenten entsprechend – gebildet, während Daniel Glatzel umherging und den Gruppen seine künstlerische Vision nahebrachte. Generell zeigte sich seit Projektbeginn ein enger Kontakt zwischen den Musikern, die vorwiegend über zwei gemeinsame, internationale Sprachen kommunizierten: Englisch und die Musik. Die Proben fanden in „Spīķeri“, der ehemaligen Speicherstadt Rigas statt, die gerade einen Wandel von einem heruntergekommenen Hafenviertel zu einem Kreativquartier erfährt. Unweit von Spīkeri liegt auch der Ort des Auftritts, der Konzertsaal Riga in der Akademie der Wissenschaften.
„Stalins Konzertsaal“ – Rehabilitation durch Musik
Dieser Treffpunkt, an dem sich Andromeda Mega Express Orchestra, Sinfonietta Rīga und das Publikum begegnen, ist ein historisch vorbelastetes Gebäude. In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts bekam Rigas bisher von Kirchtürmen geprägtes Panorama neue, sowjetische Gesichtszüge. Die Kirchturmspitzenreihe des Stadtpanoramas wurde in Richtung Osten ergänzt um ein 107,6 Meter hohes Gebäude, das als Haus der Kolchosen geplant war. Seit der Eröffnung wurde es jedoch als Akademie der Wissenschaften der damaligen Sowjetischen Republik Lettland genutzt. Das turmartige Hochhaus wurde von vielen Letten als ein Fremdkörper empfunden und als Symbol der unerwünschten sowjetischen Herrschaft über Lettland betrachtet. So bekam das im Baustil des sozialistischen Klassizismus oder auch „stalinistischen Zuckerbäckerstil“ errichtete Gebäude im Volksmund schnell ironische Namen wie „Stalins Geburtstagstorte“. Im Erdgeschoss fand ein prachtvoller Bühnensaal seinen Platz, der als Ort für Kongresse wie für Konzerte und Theaterstücke fungierte.
Ein Brand im Jahre 1972 brachte die Musik im Saal zum Schweigen. Lange 42 Jahre stand der Konzertsaal mit zugemauertem Bühnenteil still. Eine wesentliche Wende kam durch das Angebot eines freien Konzertproduzenten Juris Millers, der die Möglichkeit eines einzigartigen Konzertortes im vergessenen Saal sah. Nach Investition in Höhe von ungefähr 300.000 Euro konnte das Ergebnis im September 2014 der Öffentlichkeit präsentiert werden: Ein renovierter Konzertsaal, der nun den Namen „Rīga“ trägt, architektonisch wiederhergestellt in Form eines Amphitheaters mit fast 800 Sitzplätzen, einer erneuerten Bühnenkulisse und einem Orchestergraben.
„Stalins Kirche erklingt“ schrieben die lokalen Medien wie die große Tageszeitung „Diena“ zur Eröffnung Anfang September mit einer kritischen Intonation. Auch die Erneuerung des Konzertsaals kann die negative Konnotation des Gebäudes auf absehbare Zeit nicht mindern. Einen ersten Schritt, der historischen Vorbelastung des Hauses die Freiheit der Musik entgegen zu stellen, bedeutete der Auftritt dieses deutsch-lettischen Orchesterprojekts, das den Konzertsaal zum Testfeld für freie europäische Kreativität macht.
Der junge Klang Europas bricht mit Stereotypen
Bei dem Konzert wurden verschiedene musikalische Einflüsse und Genres zu einem neuen Klang zusammengeführt. Vor dem Konzert herrscht bei den Organisatoren wie Antra Balode Unsicherheit darüber, ob die 800 Plätze des Konzertsaals besetzt werden können und ob das Experiment selbst die Zustimmung der Zuschauer finden würde. Dementsprechend groß war die Freude über das zahlreiche Erscheinen der Besucher jeder Altersklasse, die schon im Foyer angeregt über die bevorstehende Musik diskutierten bevor sie in den von historischen Metallkronleuchtern ausgeleuchteten Saal weiterströmten.
„Weder richtig Bigband noch richtig Symphonieorchester – aber eine exotische Mischung für einen harmonischen Abend unter Freunden“ – mit dieser Beschreibung war vor dem Konzert geworben worden und dementsprechend vielfältig zeigte sich das Publikum: von erfahrenen Musikexperten bis zu jungen Musikinteressierten, von Vertretern der akademischen Musikkreise bis zu den Gesichtern der lettischen Punk-Rock-Szene.
Schon das Erscheinen des 39-köpfigen Gemeinschaftsorchesters, davon 18 Deutsche und 21 Letten, vor dem fast vollbesetzten Saal schaffte eine gespannte Ratlosigkeit. Der bunte Dresscode der Musiker provozierte das an klassische Orchesterkleidung gewöhnte Auge – exotisch mutete die kanariengelbe Handtasche auf der Rückenlehne einer Musikerin an, selten nur sah man klassisches Schwarz.
Die erste von sechs Kompositionen – „Sozialbao“ – machte das Publikum Schritt für Schritt mit der Handschrift des Autoren bekannt: Instrument für Instrument, Klang für Klang wächst eine Piano-Spannung, die dann unerwartet den Zuhörer in ein bedrohliches Bienengesumm des ganzen Orchesters – Streicher, Perkussion, Tasten- und Blasinstrumente – hineinwirft. Der Komponist ist nicht etwa Außenstehender, sondern steht mitten unter seinen Musikern an der Bassklarinette. Genauso plötzlich wie es angefangen hat, endet es, während zu beiden Seiten der Bühne Anne Viechtl (AMEO) und Jekaterina Suvorova („Sinfonietta Rīga“) zu einem himmlischen Harfen-Glissando anstimmten.
Diese Handschrift des Autoren: eine Achterbahn der Gegensätze. Es ist ein virtuoses Spiel mit musikalischen Stauungen der Klänge und melodischeren Passagen, bei denen Daniel Glatzel geschmackvoll mit Genrestereotypen vom Freejazz bis Klassik spielt. Er entwickelte eine Metasprache, die das klassische Orchesterkonzept selbst in Frage stellt. Diese entfaltete ihre volle Kraft im Stück „In Light of Turmoil“, getragen von pulsierendem 60er-Jahre Hollywood Bigband Beat. Das Publikum wurde dabei spielerisch an die Hand genommen und bis zum Ende nicht mehr frei gelassen. Diese Intensität belohnte es mit ehrlich begeistertem Applaus.
Eine Ohnmacht, sowohl emotional als auch konzeptuell, ist das Schlagwort für „Orchesterglut“. Zwei Themen wurden instrumentell angestimmt, von denen eines in seinen vorgeschriebenen Bahnen weiter läuft, das andere hingegen enthebt sich allen Regeln und erzeugt beim Zuhörer ein Gefühl des Schwindels. Als emotionaler Gegensatz folgten die meditativen Klänge der „Untitled Pieces“, die den Zuhörer in seinen persönlichen inneren Ort der Einkehr entließen. Die Stille, offenbar ein Charakterzeichen der künstlerischen Sprache von Gatzel, wurde nur vom sparsamen Einsatz einzelner Glocken unterbrochen. Abgelöst wurde diese Ruhe vom folgenden Stück „Lava Lovers“, welches das Publikum wieder mitnahm auf eine dynamischere, geradezu wilde Passage des Abends.
Der junge, in Riga und Berlin ausgebildete Dirigent Jānis Liepiņš, ließ dem Publikum nicht anmerken, dass er vor einer schweren Aufgabe stand mit diesem Konzert. Er war kurzfristig als Ersatzdirigent angefragt worden, nachdem einige Tagen zuvor der eigentlich nominierte Dirigent Nomunds Šnē erkrankt war.
Jānis Liepiņš überzeugte mit seiner Leitung dieses komplizierten Zusammenspiels verschiedener Instrumentengruppen, in dem sich kleine, virtuose Soloepisoden von Querflöte und Trompete bis zur elektrischen Gitarre und Schlagzeug fanden. Die musikalische Freiheit fand ihre Verkörperung in geplanten Improvisationen. Zwischendurch wandte sich der Dirigent noch direkt mit kurzen Megaphon-Aufrufen an das Publikum, etwa mit dem unterhaltsamen Ausruf: „C‘mon people, get down, get down!“
Die Reise durch neuentdeckte Klangwelten war nach 90 Minuten zu Ende und damit der Beweis erbracht, dass nicht nur ein Austausch von Ideen und Visionen zwischen den beiden Orchestern stattgefunden hat, sondern auch zwischen Musikern und Publikum, dessen anerkennender Applaus mit einer Zugabe belohnt wurde.
„Es hat ein wunderbarer Erfahrungsaustausch beiderseits stattgefunden” lautet die Bilanz des jungen Dirigenten, „die Kombination vom Freiheitsgeist des AMEO und der akademischen Erfahrung von Sinfonietta Rīga war etwas Frisches, Neues zumindest hier in Riga. Vielleicht ist dies der neue Klang von Europa.“
Die Frage, was bleibt - ein Konzertfilm für YouTube
Mittlerweile ist der Beifall verklungen, die Musiker sind wieder in ihren Heimatstädten oder zurück in ihrer Rolle als staatliches Kammerorchester in Riga. Es bleibt die Frage, wie es weitergeht, nicht nur mit diesem Projekt, sondern auch für andere Projekte im Rahmen der Kulturhauptstadt Riga 2014?
Für das Goethe-Institut war das Orchesterprojekt der zentrale, aber nicht der letzte Beitrag zum Kulturhauptstadtjahr. Weitere Projekte stehen an, von Oktober bis Dezember folgt nun eine Zusammenarbeit mit dem Projektteam „Rimini Protokoll". Darin zeigt sich die Strategie des Instituts, in diesem Jahr weniger aber dafür größere Projekt umzusetzen.
Angesichts der Kooperation von AMEO und Sinfonietta Rīga lässt sich nur von einem Erfolg dieser Strategie sprechen, die sich auch in der Fortsetzung dieses Projektes äußern könnte. Laut Antra Balode vom Goethe-Institut Riga ist zumindest ein Gegenbesuch der Sinfonietta Rīga in Berlin im Frühjahr 2015 geplant. Damit könnte das Projekt seine vereinende Kraft auch auf deutschen Bühnen darbieten. An Elan und Begeisterung mangelt es keinem der Beteiligten, hinderlich erscheint nur die stete Frage der Finanzierung. Doch darüber hinaus gibt es Hoffnung, dass das Projekt bald über jegliche Grenzen hinaus nachvollzogen werden kann: Der Konzertabend wurde gefilmt und man darf gespannt sein auf den daraus entstehenden Konzertfilm, der auf YouTube veröffentlicht werden soll.
Weitere Informationen zum AMEO
Hörprobe AMEO
Weitere Informationen zur Sinfonietta Rīga
Audio-Interview mit Antra Balode, Programmleiterin des Goethe-Instituts in Lettland
Video-Link : Eine musikalische Begegnung
Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Dagmar Reichardt
Abbildungsnachweis:
Header: Dirigent Jānis Liepiņš. Foto: Mārtiņš Otto
Galerie:
01. Plakat zur Aufführung in Riga
02.-04. Andromeda Mega Express Orchestra und Sinfonietta Rīga im Proberaum in Spīķeri Konzertsaal. Fotos: Līga Urme
05. Lettische Akademie der Wissenschaften Lettland. Foto: Aija Kaukule
06.-07. Andromeda Mega Express Orchestra und Sinfonietta Rīga im Konzertsaal Rīga. Foto: Mārtiņš Otto
08. Andromeda Mega Express Orchestra und Sinfonietta Rīga im Konzertsaal Rīga. Foto: Dagmar Reichardt.
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