Literatur

Heute vor fünf Jahren, am 21.3.2009 verstarb der sizilianische Dichter und Schriftsteller Giuseppe Bonaviri in Frosinone bei Rom.

Anlässlich seines 5. Todesjahres und mit Blick auf die gegenwärtige italienische Literaturlandschaft zeigt sich, wie lebendig sein schriftstellerisches Schaffen auch nach seinem Tod ist. Insbesondere der Migrationsaspekt seines Lebens, der in jedem seiner Werke zum Ausdruck kommt, wirkt so aktuell wie nie, stammen doch die zur Zeit innovativsten literarischen Texte in italienischer Sprache vornehmlich aus der Feder von Autoren mit Migrationshintergrund – ob nun vom Immigranten aus dem Maghreb, der sich in Italien niedergelassen hat, oder vom Emigranten, den es nach Kanada verschlagen hat und der weiterhin in seiner Muttersprache schreibt.


Vom Reichtum und von der Ambivalenz transkultureller Mobilität und Identität ist Bonaviris Leben geprägt: Als gebürtiger Sizilianer, der am 11. Juli 1924 in Mineo nahe Catania als das erste von fünf Kindern zur Welt kam, erlebte er im Alter von 14 Jahren wie sein Vater auf Grund seiner existenziellen Nöte als Dorfschneider nach Abessinien auswandern musste und somit aus dem Erfahrungshorizont des Jugendlichen Giuseppe vorübergehend verschwand. Nachdem er selbst mit der am 24.11.1949 an der Universität von Catania abgelegten Abschlussprüfung in Medizin und seinem anschließenden Facharzt in Herzchirurgie im Juni 1955 eine weitaus bessere Ausbildung genießen durfte, doch bis zum 25. Lebensjahr Sizilien noch nie verlassen hatte, tat er es dem Vater gleich. Bonaviri bewarb sich beim italienischen Militär und wurde nach Norditalien entsandt. Dort verlebte er zunächst einige Jahre als Stabsarzt in Casale Monferrato im Piemont, wo er Carla kennenlernte und von Januar bis Juni 1954 den Roman „La ragazza di Casalmonferrato“ (dt. etwa Das Mädchen aus Casalmonferrato) parallel zu seinen ersten medizinischen Berufserfahrungen in seiner Freizeit verfasste.

 

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Der künstlerische Durchbruch kommt ein Jahr später, nachdem er den bereits bekannten sizilianischen Schriftsteller Elio Vittorini (u.a. „Dennoch Menschen“, „Gespräch in Sizilien“, „Die rote Nelke“) traf, der Bonaviris Debütroman „Der Schneider von Mineo“ (Il sarto della stradalunga) 1954 in seine prosperierende Reihe ‚I gettoni’ des Turiner Verlagshauses Einaudi aufnahm. Nach Carla kam Raffaella: Bonaviri fand eine Anstellung als Amtsarzt in Frosinone, zog nach Latium in die Ciociaria um, heiratete die besagte, aus dem neapolitanischen Umland stammende Raffaella Orsario und gründete in Frosinone eine Familie, aus der zwei Kinder hervorgingen.


Zeit seines Lebens erinnerte ihn die Berg- und Hügellandschaft der Ciociaria an seine sizilianische Heimat und sein Bergdorf Mineo. Während sich seine Künstler- und Schriftstellerkollegen in der ersten Dekade der Nachkriegszeit dem italienischen Neorealismus zuwandten, der die italienische Literatur- und Filmgeschichte nachhaltig beeinflussen sollte, erzählte Bonaviri von Anfang an nur wunderbare Geschichten, die sich um Mineo ranken. Als würde die schreibende Vergegenwärtigung der fernen Insel den geographischen, soziokulturellen und ästhetischen Verlust ausgleichen und der Akt des Schreibens Bonaviris persönliche Unruhe stillen können! Dem Schneider von Mineo, der das Leben seines Vaters aus drei unterschiedlichen Perspektiven beschreibt, folgen knapp 30 Bücher, die der in Mittelitalien Ansässige, aber weiterhin einen leichten sizilianischen Dialekt sprechende Autor bis zu seinem Lebensende herausgibt. Die Presse fand für den eigenwilligen Mediziner, der den Brauch zu dichten aus seiner Kindheit in Mineo in das Erwachsenenalter und „kontinentale“ Italien mitgenommen hatte, den anschaulichen Begriff vom „Emigranten mit dem Stethoskop statt mit der Spitzhacke“ (Costanzo Costantini, in: Il Messaggero, 02.01.1979), denn durch seinen Beruf hob sich Bonaviri von den süditalienischen Landsleuten seiner Generation noch ab, die vorwiegend als Bauern in die Emigration gingen.


So kommt es, dass Bonaviri bestens wusste, was Migrationsliteratur ist, als das Jahr 1990 mit den Erstlingswerken der drei Autoren Pap Khouma aus dem Senegal (Io, venditore di elefanti, dt. etwa Ich, der Elefantenverkäufer), Salah Methnani aus Tunesien (Immigrato, dt. etwa Immigrant) sowie Mohamed Bouchane aus Marokko (Chiamatemi Ali, dt. etwa Nennt mich Ali) die neue Welle italophoner Texte einläutet, die von Eingewanderten, Hinzugereisten und vermeintlich Fremden auf Italienisch verfasst werden und die italienische Literaturszene bis heute in einem unerwartet nachhaltigen Maß erfrischen, verjüngen und revitalisieren. Als Schriftsteller genoss Bonaviri zu dieser Zeit bereits die Höhepunkte seiner publizistischen Karriere. Seine Bücher waren in viele Sprachen übersetzt worden, er erhielt akademische Ehrungen, durchreiste mit seiner Frau Europa und Überseeländer, um Autoren- und Buchvorstellungen in den Italienischen Kulturinstituten zu geben, war auf der Frankfurter Buchmesse vertreten und wiederholt für den Literaturnobelpreis im Gespräch.


Für die eingewanderten Schriftstellerneulinge auf dem italophonen Buchmarkt hätte er als indigener, arrivierter „italienischer“ Konkurrent wahrgenommen werden können. Doch wer Bonaviri liest, merkt sofort wie sehr die Sehnsucht nach der Heimatinsel und das Fantasieren über die dörfliche sizilianische Bergwelt, über seine Kindheit und Jugend sowie seine familiären Prägungen jene Chiffren vermitteln, die alle Migranten – ob nun nach Italien eingewandert oder aus Italien in die Ferne abgewandert – künstlerisch umtreiben. Seine Texte entsenden Appelle der Solidarität, für die gerade Leser mit Migrationshintergrund besonders empfänglich sein dürften. Zudem verbindet das Genre über Schriftstellergenerationen hinweg: Migrationsliteratur ist vom autobiographischen Duktus ebenso wie vom Herbeischreiben des verlassenen Herkunftslandes aus einer Distanz heraus charakterisiert. Diese Gruppe Texte und diese Art Bücher gehören paradoxerweise zusammen, so unterschiedlich der kulturelle Hintergrund zwischen einer im Nordosten China geborenen, in Genf und Paris akademisch ausgebildeten und lange Zeit in Japan wohnhaften Antonietta Pastore, ihrem Schriftstellerkollegen Amara Lakhous als einem aus Algier stammenden Berber arabisch-französischer Prägung, der seit 1995 in Rom lebt, und dem schreibenden Ostsizilianer Bonaviri, den sein Schicksal nach Mittel- und Norditalien verschlug, sonst auch sein mögen. Durch das kontinuierliche Benennen und Erinnern der Gepflogen- und Eigenheiten „daheim“ konstruiert und erschließt sich erst die menschliche Identität vor Ort und im Buch. Es sind diese anziehend menschlichen, zugleich fremd und vertraut wirkenden Züge, die die Figuren in Bonaviris Romanen verkörpern und die die Erzählerinstanzen in seinen Texten zu einem faszinierenden Eigenleben erwecken.


Während bei den neueren Migrationsautoren durchaus auch postkoloniale Zusammenhänge, insbesondere bei Autoren mit somalischen und ostafrikanischen Wurzeln, eine Rolle spielen, so handelt es sich im Fall von Bonaviri allerdings um jenen von dem sardischen Kulturphilosophen und Politiker Antonio Gramsci (1891-1937) umschriebenen „inneren Kolonialismus“ Italiens, der den Stiefelstaat in eine Nord-Süd-Dichotomie spaltet. Bonaviri, der aus dem armen Süden in den reicheren Norden Italiens umsiedelte, wurde nie müde, die poetische und manchmal fast brutale Schönheit vom „Rand Europas“ zu evozieren. Die ästhetische Projektionsfläche jener metaphysischen Dimension Siziliens, die in einer animistischen Spiritualität verankert ist, sowie die suggestiv-phantastische, archaisch-zeitlose Atmosphäre süditalienischer Landstriche, auf denen einst die Griechen ihre ersten Kolonien errichtet haben und noch heute Urgewalten der Natur ebenso wie Traditionen und Volksglauben lebendig sind, überschreibt Bonaviri in seinen Werken mit imaginären Codes wechselnder Metaphern und erfundenen Namensgebungen von Figuren und Orten, sowie mit den aktualitätsgebundenen Anliegen des 20. Jahrhunderts, die ihm wichtig sind und die er an den Leser herantragen möchte.


Sein Engagement richtet sich auf die Intaktheit der Natur, der Fauna und Flora ebenso wie auf die sich sinnvoll ergänzenden Elemente der Wissenschaftlichkeit und des literarischen Schaffens. So kann Bonaviri zum Einen als ein empathischer Naturliebhaber gelesen werden, der bereits 1969 den Roman La divina foresta (dt. etwa Der göttliche Wald) teilweise aus der Tierperspektive schreibt und darin Tieren, Bakterien, Atomen, Steinen und Pflanzen eine Stimme verleiht. Das macht ihn zu einem gebildeten „Grünen“ ‚avant la lettre’, d.h. zu einen Naturschützer der besonderen italienischen Art, lange bevor dieser Aspekt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit auf die politische Agenda der westlichen Industrienationen rücken sollte. Zum anderen verbindet Bonaviri nicht nur im wirklichen Leben als schreibender Arzt, sozusagen in biographischer Personalunion, die Wissenschaft mit der Kunst und Kultur, er vermengt auch in seinen Gedichten, Kurzgeschichten, Theaterstücken und Romanen naturwissenschaftliche Details mit dem Erfindungsreichtum seiner Geschichten und den Inspirationsmomenten seines literarischen Schaffens.


Die geographischen, kulturellen, aber auch interdisziplinären Grenzgänge des naturwissenschaftlich bewanderten Wortkünstlers Bonaviri spiegeln sich in der Polyphonie der Menschendarstellungen in seinen Geschichten anschaulich wider: zum Beispiel in der in einem Vogelpark nahe Frosinone zusammen gekommenen Hochzeitsgesellschaft in „Il dottor Bilob“ (dt. etwa Doktor Bilob), die sich unter ein internationales Musikfestival mischt und sich dort zwei Nordamerikanern ebenso wie dem bekannten arabischen Sänger Imru I-Qais anschließt. Auch die multiethnische Besatzung des Raumschiffs in dem bereits 1988 veröffentlichten Roman „Il dormiveglia“ (dt. etwa Der Halbschlaf), mit dem der aus Catania stammende Merck unter der Leitung seines New Yorker Forscherfreundes Cooper einmal von Arabien aus zum Mond und zurück nach Kap Canaveral fliegt – mit an Bord sind die Mulattin Zaid, der chinesische Mondkundler Li Po und der Russe Lev Gagarin – reflektieren den transkulturellen Parameter von Bonaviris Schreiben.


Durch den Gebrauch fremdländischer Worte und Textpassagen sowie fremd klingender, lautmalerischer Neologismen konstruiert Bonaviri nicht nur textlich jene werktypisch offene, international solidarische, Ethnien übergreifende und zusammenführende Atmosphäre, die seiner Vision einer lebenswerten Weltgesellschaft Ausdruck verleiht. Vielmehr hat Bonaviri als ein im südlichen Italien geborener und in ganz Italien sozialisierter Intellektueller und Vertreter der italienischen Kriegsgeneration den Weg dafür geebnet, dass sich Italien globalen Phänomenen wie etwa der massiven Einwanderung seit den späten 1980er-Jahren und der menschlichen Not der seit Jahren stumm an die Pforten Europas klopfenden Flüchtlinge, die noch heute täglich auf der Insel Lampedusa landen, kulturell öffnen kann. Leider liegt bisher kaum ein Fünftel seiner literarischen Produktion in deutscher Übersetzung vor, doch sind alle Bücher von Bonaviri auch und gerade für deutschsprachige Leser zu empfehlen und unter dem Migrationsaspekt ganz neu lesbar. Denn Bonaviris Werke tragen nicht nur dazu bei, die transkulturelle italophone Literatur als eine globale Erscheinung in einer immer vernetzteren, mobileren und kulturell zusammen wachsenden Welt zu sehen. Sie helfen vor allem dabei, die neuen Schriftstellergenerationen, die diese Literaturströmung seit vielen Jahren nicht nur in Italien aktiv formen und hervorbringen, in einem toleranten und auf Kultur neugierigen Europa positiv aufzunehmen sowie einzelne Schriftstelleridentitäten und kulturell z.T. komplexe Werdegänge und Lebensläufe verstehen zu lernen. Bonaviris Sprachgewandtheit und seine Vision, das Lyrische mit dem Konkreten, und das Utopische mit dem Alltäglichen zu verbinden, vermitteln dem Leser mit Hilfe eines eindringlich unterhaltsamen Stils, dass alle Völker immer hybride und konstruierte Entitäten sind und waren. Um seinem Wunsch nach friedlicher Koexistenz und seinem Ziel, die Schönheiten des Lebens aufzuwerten und aufzuzeigen, nahe zu kommen, hat Bonaviri seine schriftstellerische Formel gefunden. Um uns von seiner komplexen und zauberhaften Welt zu erzählen, hat er uns Bücher hinterlassen, die wir heute als Türöffner für die zeitgenössische italophone Migrationsliteratur deuten und mittels derer wir Bonaviri selber als einen ihrer Gründungsväter erkennen können.

 
Nicht ohne Grund hat Bonaviri uns eines seiner Gedichte (Il bianchissimo vento, dt. etwa Der weißeste Wind) im zentralapenninischen Bergstädtchen Arpino, der Geburtsstadt Ciceros, unweit von Bonaviris ehemaligen Lebensmittelpunkt in Frosinone, in Stein gemeißelt hinterlassen. Denn diese Steintafel war nur der Auftakt zu einem in Stein gehauenen Gedichte-Park, der die Ortschaft in der Ciociaria heute durchzieht: Das internationale Literaturprojekt „Il libro di pietra“ (Das Buch aus Stein) begann Bonaviri 1984, um es über die Jahre, bis kurz vor seinem Tod, mit weiteren Marmortafeln und Werken von schwedischen, russischen, tunesischen, französischen, spanischen, englischen, tschechischen, chinesischen, polnischen, italienischen und rumänischen Dichterkollegen auszuweiten. Jedes für Arpino komponierte Gedicht kann man heute, durch Arpinos Gassen schlendernd, im jeweiligen Original und in der italienischen Übersetzung, zuweilen auf zwei separaten Steinen veröffentlicht, bewundern. Auf ein italienischsprachiges Gedicht, das kein Geringerer als Papst Johannes Paul II. 2005 für Bonaviris Projekt schrieb, folgte 2006 ein deutsches: Der Hamburger Autor Matthias Politycki suchte sich den Hauptplatz des Dorfes für seinen Beitrag mit dem international verständlichen Titel „Bar Fabbrizio“ aus. – Hinfahren und lesen!


Bücher von Giuseppe Bonaviri in deutscher Übersetzung

- „Der Schneider von Mineo. Eine sizilianische Geschichte“, übers. von Sigrid Vagt, mit einem Nachwort von Nino Erné, Bretzfeld-Brettach: ComMedia & Arte Verlag, 1987. [Lizenzausgabe: Der Schneider von Mineo. Eine sizilianische Geschichte, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1990.]
- „Steine im Fluss“, übers. von Gerda Lederer, mit einem Nachwort von Heinz Willi Wittschier, Bretzfeld-Brettach: ComMedia & Arte Verlag, 1992.
- „Die Olivenbäume von Camuti“, übers. von Irmela Arnsperger, mit einem Nachwort von Dagmar Reichardt, Bretzfeld-Brettach: ComMedia & Arte Verlag, 2000.
- „Arlecchino 3. Himmelsreden. Lyrik von Giuseppe Bonaviri“, übers. von Dagmar Reichardt, hrsg. von Irmela Arnsperger und Dagmar Reichardt, Bretzfeld-Brettach: ComMedia & Arte Verlag, 2004.
- „Die blaue Gasse“, übers. von Annette Kopetzki, München: C.H. Beck, 2006.


Link zur Stiftung Giuseppe Bonaviri mit Originaltonaufnahmen (auf Italienisch)
Link zu Bonaviris internationalem Literaturprojekt „Il libro di pietra“ (Das Buch aus Stein) in Arpino, nahe Rom.

 


Abbildungsnachweis:
Galerie: Diverse Buchcover (siehe Buchliste)

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