Harbour Front - Sehnsucht und Hafen – das passt gut zusammen. Man guckt auf die Elbe und reist ein paar Sehnsuchtsaugenblicke an Bord eines der Containerschiffe mit.
Das Phänomen „Sehnsucht“ im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals wurde am 17. September denn auch in unterschiedlichsten Facetten beleuchtet. Ganz pragmatisch mit Workshops z.B. zum Thema „Gefahren der Sehnsucht“ anhand der Elbphilharmonie und höchst unterhaltsam im Gespräch zwischen John von Düffel und Rainer Moritz.
Workshops mit Sehnsuchts-Kennern
Nachmittags hatte man die Chance in diversen Workshops, mit interessanten Sehnsuchts-Kennern über deren Erfahrungen und über eigene Vermutungen zu sprechen. So sprach beispielsweise Tessa Beecken aus dem Leitungsteam der Elbphilharmonie über die Gefahren der Sehnsucht. Ein Themenschwerpunkt, den sie sich nicht selbst ausgesucht hatte, dem sie sich aber kompetent und sehr charmant im lockeren Gespräch stellte.
Von der Verantwortung, die man durch die Kommunikation der eigenen Sehnsucht übernimmt, wurde gesprochen. Von der Gefahr, die geweckten Erwartungen bei begeisterten Partnern nicht im erwarteten Umfang oder Zeitrahmen zu erfüllen. Von der Vision, in Hamburg der Musik mehr Raum und mehr gelebte Präsenz zu geben. Sie als selbstverständlichen und einfach als beglückendes Element im Leben jedes einzelnen zu etablieren. Aber Tessa Beecken berichtete auch von der wachsenden Komplexität der Aufgaben, der Neigung zur Selbstausbeutung, von Fremdeinflüssen und frustrierenden Presseartikeln. Das sind dann die Momente, an denen Sehnsucht schmerzhaft an der Realität schrammt und nicht Reibungswärme erzeugt sondern emotionale Wunden hinterlassen kann.
Auch die anderen Workshops, die in Kooperation mit Common Purpose e.V. zeitgleich stattfanden, boten spannende Gesprächspartner: Tina Heine & Nina Sauer erzählten als Initiatorinnen des Elbjazz Festivals von ihrer Leidenschaft für dieses neue und hochkarätige Event, Claus Heinemann von Gebrüder Heinemann berichtete über die Wechselwirkungen von Tradition in einem Familienunternehmen, Kai Wiese präsentierte seine Idee eines Integrationshotels in der HafenCity und Hauptpastorin Dr. Ulrike Murmann referierte über das Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Werten.
Sehnsucht in der Literatur
Im abendlichen Gespräch zwischen dem Schriftsteller und Dramaturg John von Düffel mit dem Autor und Leiter des Literaturhauses Rainer Moritz begab man sich im Foyer von Kühne + Nagel schließlich auf die Spurensuche der Sehnsucht in der Belletristik.
Bescheiden im Auftreten und mit hinreißendem Sprachgefühl ließ John von Düffel das Publikum unter anderem eintauchen in seine kurze Erzählung über die Alphabetisierung des Blaus. Das Erzählen über Wasser macht die Farbe Blau erst für das Vorstellungsvermögen fassbar. Blau als Farbe der Sehnsucht und Wasser als Element der Verwandlung gingen hier ineinander über. Transzendenz als ein Merkmal der Sehnsucht. Die Situation soll sich ändern. Die Zeit. Der Raum. Man selbst. Das Unscharfwerden der Grenze ist entscheidend. Das Überschreiten der Grenze. Das Gefühl der Unendlichkeit, in dem das Ziel selbst vage wird.
Rainer Moritz griff dies auf und ergänzte, dass sobald das Ziel konkret benannt würde auch weniger von Sehnsucht als von Wünschen/ Wollen/ Begehren zu sprechen sei. „Sehnsucht nach einem Mercedes“ sei doch zum Beispiel nicht so recht treffend. Aus dem Publikum kam jedoch der Einwand, dass Sehnsucht sehr wohl konkret sein könne, sobald es sich um die Liebe handelt. Hier sehne man sich in schmerzlicher Differenziertheit mit allen Sinnen nach dem vermissten Körper, nach der Stimme, dem Geruch.
Die Lust an der Verwandlung, die Sehnsucht ein anderer sein zu dürfen, war ein weiterer Themenkomplex des Abends. Gerade als Schauspieler genießt man es, in die Lebenswelt eines anderen zu springen, in der andere Regeln – oder auch mal keine – gelten. Ob Urlaub vom eigenen Leben oder als verhältnismäßig risikofreies Experimentieren mit Alternativen des Lebensentwurfs, für den man sich entschieden hat: Hier öffnet sich die gedankliche Projektionsfläche in ein großes „was wäre wenn…“.
Auch als Autor einer Geschichte hat man es in der Hand, seine Protagonisten auf eine Reise zu schicken, die einem in all ihren Konsequenzen selbst zum Glück – oder leider – erspart bleibt. Doch bleibt diese Erfahrung ganz in der Vorstellungswelt und ist weit entfernt von der Einlösung in der Realität. Sehnsucht ist ein sehr selbstgenügsames, passives Gefühl. Die Überwindung von Zeit und Raum wird gerne dem anderen überlassen, während man selbst ganz damit beschäftigt ist, sich zu verzehren. Irgendwann beginnt man sich zu fragen, was einem wichtiger ist: Das Gefühl der Sehnsucht oder das Erreichen des Ziels. Sehnsucht ist flüchtig. Hat man erst das Objekt der Begierde, ist die Sehnsucht schon verschwunden.
Dieser Abend weckte ohne Frage Sehnsucht. Sehnsucht nach einem magischen Moment, in dem sich etwas verwandelt. Was, das entscheidet jeder selbst.
Harbour Front
Abbildungsnachweis:
Foto: Katja von Düffel
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