Literatur

Von Träumen, Existenzsorgen, kindlicher Unschuld, vom Erwachsenwerden und vom Erwachsensein erzählt der Australier Robbie Arnott in seinem Roman „Limberlost“.

 

Der 15jährige Ned lebt mit seinem Vater William und der älteren Schwester Maggie auf einer Apfelfarm in Tasmanien. Die Mutter ist tot, die Brüder sind im Krieg. Vater und Schwester versuchen, die Farm vor den Gläubigern zu retten. Wir befinden uns im Jahr 1945. Ned will sich trotz allem oder gerade wegen allem seinen Traum erfüllen: er will ein eigenes kleines Boot.

 

Für dieses Ziel braucht er Geld und deshalb jagt er einen Sommer lang Kaninchen. Limberlost, so heißt der kleine Ort am Fluss, wo Ned zu Hause ist. Im Morgengrauen jagt er seine Beute, dort, wo jenseits der Bäume das Land bis an den Fluss abfällt, dessen breite seegrüne Oberfläche hier und da von tiefen und wandernden Strudeln aufgerissen wurde. Danach kehrt Ned wieder heim zur Apfelplantage seines Vaters, schwenkte das steife Kaninchen in der Hand. Rauch qualmte aus dem Schornstein des Hauses. Apfelbäume auf einer nahen Wiese leuchteten in der Morgendämmerung. In Neds Rücken glänzte der Fluss, das Seegrün spielte hinüber in ein Schiefergrau und Himmelblau, offenbarte eine tiefere Wahrheit von Farbe. So anschaulich schön erzählt uns Robbie Arnott von Menschen und Tieren, von Mythen und der Gegend, in der Ned und die Seinen leben. Wobei man wissen muss, auch die Details der Jagd und das Häuten der Kaninchen werden anschaulich geschildert.

 

Limberlost isbn 978 3 8270 1490 0 8

Limberlost. Foto: Piper Verlag

 

Im Laufe des Kriegssommers hat Ned genug Geld verdient und kann sich seinen Traum erfüllen: er kann ein Boot kaufen. Ned hat sein Ziel erreicht. Wie dieser Teil der Geschichte sich entwickelt, soll hier nicht verraten werden. Doch es gibt bekanntlich viele Ziele im Leben eines jeden Menschen, also auch im Leben von Ned. Leider sind nicht alle Ziele erreichbar. Manchmal müssen Kompromisse eingegangen werden, auch wenn diese schmerzen. Ned zum Beispiel wird trotz seiner Liebe zur Natur zu einem Farmer, der hochgiftige Pestizide auf seiner Apfelplantage einsetzt, um bessere Ernten zu erwirtschaften und die Familie ernähren zu können. Ned kannte Spritzmittel. Alle Apfelfarmer, denen er je begegnet war, hatten in ihren Schuppen Kupfersulfate angemischt, mit dem Zeug ihre Früchte eingenebelt. Doch das neue Spritzmittel, eine Kombination aus Insektizid und Fungizid sei in seiner Wirksamkeit unvergleichbar, erfährt Ned von Kollegen in England. Sie präsentierten Beweise: pralle, gesunde Früchte und Kassenbücher, die unverschämte Gewinne auswiesen. „Sie müssen bloß aufpassen, dass Ihre Frau die Wäsche reingeholt hat, bevor Sie mit dem Spritzen anfangen“, erklärten sie ihm. „Das Zeug kann die Kleidung übel zurichten.“

 

Wir erleben Neds Aufstieg vom Tagelöhner zum Farmer, seine Entwicklung vom Jungen zum Mann, vom Unschuldigen zum Schuldigen. Wir lernen seine Liebsten kennen, erleben mit ihm seine erste große Liebe, die zu Ehe und eigener Familie führt. Wir erleben mit ihm Liebe und Leid. Diese Geschichte geht uns zu Herzen, auch wenn sie weit weg von uns erlebt wird in einem Land, das nur wenige von uns kennen, erfahren und erlebt haben. Vielleicht ist dies sogar ein zusätzlicher Punkt, der uns anzieht. Vor allem aber gelingt es dem Autor, das Leben dieses Antihelden mit scheinbar leichter Hand vor uns aufzublättern. Hinzu kommen wunderbare Einblicke in die spektakulären Landschaften Tasmaniens, in ihre Mythen und Menschen.

Zu dem Zeitpunkt, in dem wir in die Geschichte einsteigen, ist Ned fünf Jahre alt. Ein ausgeflippter Wal soll sein Unwesen in der Flussmündung treiben und alle Fischerboote zerstören, wird behauptet. Weil Ned deshalb Alpträume hat, fährt der Vater mit seinen drei Söhnen in einem geliehenen Boot zur Flussmündung. Er will ihnen beweisen, dass all das Unsinn ist. Es gibt keinen Wal, sagte er. Kein Ungeheuer. Noch einmal, viel später, ist im Buch rückblickend die Rede vom Wal. Hier – also damals – gibt der Vater den Söhnen einen guten Rat, an den sich Ned zeitlebens erinnern wird: Wenn ihr etwas fürchtet, Jungs, hilft dagegen am besten, dass ihr es versteht. […] dass ihr ihm direkt ins Auge schaut.

 

Limberlost DE AU COVERRobbie Arnott erzählt uns in diesem Roman ein einfaches Leben mit wenigen Höhepunkten, könnte man meinen. Und doch ist es nicht so, es gibt viele Höhepunkte – kleine, wohlgemerkt. Wie wir wissen (sollten), sind es die kleinen Dinge, die unser aller Leben lebenswert machen. Und deshalb ist ein Buch wie dieses so wichtig. Es zeigt uns, wie bedeutsam die kleinen Dinge des Lebens sind, um es erträglicher, schöner zu machen. Und genau das wollte Robbie Arnott mit seinem Buch erreichen, wie er in einem Interview erzählt: „[…] im Kern wollte ich zeigen, wie ein gewöhnliches Leben bedeutungsvoll, vielleicht sogar schön sein kann. Die meisten von uns leben ein gewöhnliches Leben, aber wir erleben große Gefühle, große Verbindungen zueinander und zur Welt um uns herum. Das wollte ich mit Limberlost zeigen.“ Das ist dem Autor gelungen. Diese Geschichte geht uns alle an, sie ist uns daher sehr nahe.


Robbie Arnott: „Limberlost“

Übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Hansen

Piper Verlag

Roman

288 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag

ISBN 978-3-8270-1490-0

Weitere Informationen (Verlag)

 

Das Original wurde im Oktober 2022 bei The Text Publishing Company, Melbourne herausgegeben (ISBN: 9781922458766)

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment