Manche Romane sind ziemlich verzweigt. Da wechseln ständig die Personen, Generationen, Zeiten und Orte. Da muss man höllisch aufpassen und dranbleiben, um alles richtig einordnen und die Zusammenhänge verstehen zu können.
Das ist zugegebenermaßen nicht unbedingt einfach für uns Leser. Doch einfach muss ja auch nicht immer alles sein in der schöngeistigen Literatur. Hauptsache, die Geschichte ist spannend erzählt, sprachlich gut und klug gestaltet. Dann lässt man sich gerne gefangen nehmen und in andere Sphären entführen. Wie bei der Lektüre von Maggie O’Farrells Roman „Hier muss es sein“, im Original 2016 erschienen und nun von Kathrin Razum aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
Gerne tauchen wir mit diesem Buch der mehrfach preisgekrönten irisch-britischen Autorin ab in das Leben von Claudette, die ihrerseits selbst abgetaucht ist, die spurlos verschwunden ist aus ihrem vermeintlich wohlgefälligen Leben als berühmte Filmschauspielerin. Sie hatte den Medienrummel satt, verließ ihren Ehemann und Regisseur Timou, zog mit dem kleinen Sohn Ari aufs Land und lebt seitdem dort unerkannt und unbekannt. Nur wenige nahestehende Menschen kennen ihren Aufenthaltsort. Plötzlich taucht Lingustikprofessor Daniel Sullivan hier auf, verdreht ihr den Kopf und seinen gleich mit. Die beiden können fortan nicht mehr voneinander lassen. Sie heiraten und bekommen gemeinsame Kinder. So weit so gut, könnte man meinen. Doch natürlich hält die Idylle nicht an: alte Wunden reißen auf, neues Leid beginnt, die Toten schweigen nicht länger. Am Ende, nach gut 540 Seiten, beginnt etwas Neues, etwas Altes zugleich…
Bis dahin sind wir durch verschiedene wechselhafte Zeiten gewandert. Mit Daniel beginnt 2010 der Roman, die vielseitigen Geschichten in der Geschichte beginnen allerdings schon viel früher, mit Teresa im Jahr 1944. „Das fragliche Mädchen“ ist dieses Kapitels betitelt, das folgendermaßen beginnt: Teresa war seit einer Woche verlobt und ihr Auserwählter wieder im besetzten Europa, da rutschte vor ihr auf der Treppe des U-Bahnhofs ein Junge aus und griff Halt suchend in das Gitter unter dem Handlauf. Was dann geschieht, ist typisch für die Erzählweise der irisch-britischen Autorin. Wir erleben den Beginn einer unerfüllten Liebe. Und wir lesen eine Geschichte, die – wie alle anderen Geschichten in diesem Buch auch - für sich stehen könnte.
Jedes Kapitel könnte also für sich stehen, ist ein Solitär, ist eine einzelne, ja einzigartige Erzählung in diesem Roman. Nur dass grundsätzlich bekanntermaßen ein Kapitel keine abgetrennte isolierte Erzählung ist, sondern alle Teile zusammen, alle Kapitel vereint ein gemeinsames Ganzes bilden. Teresa ist Daniels Mutter, doch das erfahren wir erst in ungefähr der Mitte des Romans. Auch, dass Daniel schon als Baby den Fluss liebte. Daniel, der uns 2010, zu Beginn des Buches, von sich und seiner (neuen) Familie erzählt. Auch, wie sie das erste Mal zusammen ans Meer fahren. Daniel, der uns von seiner Frau Claudette erzählt: Meine Frau, sollte ich anmerken, ist verrückt. Nicht im Sinne von Gehört-in-die-Klapse – wobei ich mich manchmal frage, ob es in ihrem Leben nicht auch solche Phasen gegeben hat -, sondern auf eine subtilere, gesellschaftsfähigere, weniger auffällige Weise. Sie denkt anders als andere Menschen.
Gerade eben erscheint Claudette mit dem Baby auf dem Rücken. Sie trägt einen Südwester Und hat ein Gewehr in der Hand. […]Sie ist eine Weltflüchterin, offenkundig bereit, jeden mit dem Gewehr zu bedrohen, von dem sie befürchtet, er könnte ihr Versteck ausfindig machen. Wir erfahren in diesem ersten Kapitel – in dem die beiden bereits verheiratet sind und gemeinsame Kinder haben - die Story ihres Kennenlernens. Wir erleben sie und leben mit ihnen in ihrer Welt, in einem Haus im hintersten Winkel von Donegal, im Nordwesten Irlands an der Mündung des River Eske. Das Haus steht in einem der am dünnsten besiedelten Täler Irlands, das so hoch gelegen ist, dass selbst Schafe es meiden, von Menschen ganz zu schweigen. Es ist eine abgelegene, schöne heile Welt. Hier hilft der Lingustikprofessor Daniel dem Stotterer Ari, dem Sohn von Claudette, seine Sprachprobleme in den Griff zu bekommen. Eine glückliche Zeit nimmt ihren Lauf.
Doch dann, eines Tages, beginnt eine langanhaltende problematische Phase, in der das ach so schöne familiäre Zusammenleben auseinanderbricht und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft Vergangenheit zu sein scheint. Die Zeiten wechseln. Die Figuren wechseln. Nur einer ist immer da: Ich-Erzähler Daniel, dessen Geschichte mitunter allerdings auch aus anderer Perspektive erzählt wird. Auch das gehört zum Verwirrspiel, ist so gewollt und angelegt von Maggie O`Farrell. Wobei Daniel nicht immer in bester Verfassung ist. Wir leiden meistens mit ihm, hassen ihn mitunter aber auch wegen seiner falschen Schlüsse und Entscheidungen, wegen seiner Feigheit und Schwäche, wegen seiner Alkoholsucht und seiner Drogenabhängigkeit insgesamt…
So nach und nach lernen wir sämtliche Protagonist*innen kennen. Es sind viele und alle sind auf unterschiedlichste Art und Weise besonders. Niall Sullivan zum Beispiel, der von seinem Vater Daniel - in einer anderen Zeit, einer anderen Welt und in einer anderen Ehe - von der Schule abgeholt wird. Sein Vater wartet im Auto. Und was tut Niall? Er versteckt sich hinter einer Säule, als er den Vater sieht, öffnet seine Schultasche, zieht sein Fernglas heraus, hängt es sich um und beugt sich gerade so weit hinter der Säule hervor, dass er seinen Vater in gestochen scharfer Vergrößerung hinter dem Lenkrad sitzen sehen kann. Daniel, denkt er, kommt neun Minuten zu spät. Gesichtsausdruck angespannt, düster – schlimmer als heute Morgen. Derartige Situationen und Sätze sind es, die neugierig machen, weiterverfolgt und weitergelesen werden wollen und somit diesen Roman so dauerhaft spannend machen. Natürlich ist noch mehr dran am Stil der Maggie O`Farrell.
Bleiben wir kurz bei Niall und bei Maggie O`Farrells Stil. Das Kapitel, in dem uns der Junge Niall vorgestellt wird, der sein (bisher noch kurzes) Leben lang in die Kinderdermatologische Ambulanz kommt, weil er extreme Ekzeme hat, spielt 1999 in San Francisco. Es trägt den Titel „Ganz unten auf der Seite“. Dieser Kapiteltitel hat seinen Grund: Niall hat zu Weihnachten ein Spionageset geschenkt bekommen und prägt sich alle Beobachtungen genau ein. Er legt sie nummeriert in seinem Notizbuch am Fuß einer Seite ab, bewahrt sie für später auf, falls er einmal darauf zurückgreifen muss. Und wir Leser*innen finden auf der Seite des Romans ganz unten Notizen wie: Was ist gut an Daniel, Nr. 1: Er freut sich immer, einen zu sehen. Diese Notizen im Roman am Ende einer Seite zu platzieren, ist eine innovative Idee der Autorin, die wie vieles andere überraschend und gelungen ist. Zum Beispiel die Idee, ein Kapitel den Erinnerungsstücken Claudettes zu widmen und diese Erinnerungsstücke zu bebildern, zu illustrieren. Ein weiterer gelungener Schachzug der Autorin ist die Abschrift eines vielsagenden Journalisten-Interviews mit Regisseur Timou, dem Ex-Ehemann von Claudette.
Die Orte wechseln, die Personen wechseln. Mal sind wir in New York, mal in Kalifornien (Los Angeles), mal in Irland (Donegal), in Großbritannien (London). Wir lernen Phoebe kennen, Nialls Schwester. Wir lernen Myrna kennen, die zweite Frau von Daniels Vater. Und Daniels Tochter Marithe und Sohn Calvin, deren Großmutter nur Pascaline genannt werden darf, nicht Granny oder Nana oder grand-mére. Und Todd, den Studienfreund von Daniel. Und Nicola, die eine wichtige Rolle im Roman spielt, obwohl sie längst gestorben ist. Wir kennen nun auch Lucas und Maeve, die so gerne eigene Kinder hätten und nun auf den Embryotransfer setzen. Wir öffnen unsere Herzen für all diese Menschen, die nur auf dem Blatt Papier existieren, was eigentlich unglaublich ist. So wahrhaftig lebendig und liebenswert stehen diese erdachten Menschen dank Maggie O`Farrell vor uns. Wir erleben diese Menschen von Angesicht zu Angesicht.
Maggie O`Farrell: „Hier muss es sein“
Piper Verlag, München
Roman
Übersetzt aus dem Englischen von Kathrin Razum
Gebunden, 544 Seiten
ISBN 978-3-492-05870-4
Weitere Informationen (Verlag)
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